Seuchen: Vogelgrippe wütet an der Nordsee
Mardik Leopold ist dieser Tage viel auf der Wattenmeer-Insel Texel unterwegs. Der Biologe am Meeresforschungszentrum der niederländischen Universität Wageningen zählt dort seit vielen Jahren brütende Seevögel. Der größte Schatz der Insel sind zwei Kolonien der bedrohten Brandseeschwalbe. Mehrere tausend Brutpaare der schneeweißen Flugkünstler leben hier, es ist das größte Vorkommen im Wattenmeer-Raum. Doch in diesem Sommer ist alles anders. Statt in T-Shirt und kurzen Hosen stapfen Leopold und seine Kollegen in Ganzkörperanzügen aus Plastik und FFP2-Masken durch die sommerliche Hitze. Ihre Füße stecken in schweren Gummistiefeln, an den Händen tragen sie dicke Plastikhandschuhe.
Der Grund: Texel wird in diesen Wochen wie weite Teile des Nordseeraums von einem beispiellosen Ausbruch der Hochpathogenen Aviären Influenza (HPAI), besser bekannt als Vogelgrippe oder Geflügelpest, heimgesucht. Wo sonst ein Gewimmel von unzähligen schwirrenden Flügeln herrscht, wo normalerweise ohrenbetäubender Lärm die Luft erfüllt, empfängt die Forscher jetzt eine apokalyptische Szenerie: Überall liegen tote und sterbende Vögel.
Einige der sonst so eleganten Flieger, die im Jahr tausende Kilometer auf den Weltmeeren zurücklegen, versuchen krabbelnd und auf ihre Flügel gestützt vor den Menschen zu fliehen, deren Anzüge im Sonnenlicht ebenso schneeweiß glänzen wie das Gefieder der Seeschwalben. Noch lebende Küken sitzen neben ihren toten Eltern im Nest. Sie werden verhungern.
Um die Ausweitung des Virus wenigstens etwas zu stoppen, sammeln Leopold und die anderen die Vogelkadaver ein und stecken sie in Müllsäcke. Zurück bleibt einer Totenmaske gleich ein Reliefabdruck der schlanken Vögel im Schlick. Nach kurzer Zeit sind es so viele Säcke voller toter Seeschwalben, dass sie mit einer Karre abtransportiert werden müssen.
4500 Brutpaare der Brandseeschwalbe lebten noch vor wenigen Wochen auf Texel – die größte Konzentration im ganzen Wattenmeer. »Jetzt gibt es vielleicht noch 50«, sagt Mardik Leopold am Telefon aus seinem Labor. »Alle anderen sind tot«, setzt der Forscher hörbar angefasst hinzu. Unwillkürlich entfährt ihm ein bitteres Lacher – der Forscher weiß nicht wohin mit seinem Frust in dieser absurden Situation.
»Superspreader« verbreiten das Virus von Kolonie zu Kolonie
3500 Altvögel haben Leopold und seine Kollegen und Kolleginnen in den vergangenen Wochen bereits eingesammelt, viele weitere dürften im Meer treiben und nie gefunden werden. Texel ist kein Einzelfall: Auch südwestlich an der französischen Küste bei Calais und nordöstlich im deutschen Wattenmeer sterben derzeit tausende Brandseeschwalben und andere Vögel an der Virusepidemie. Analog zur Coronapandemie beim Menschen verbreiten auch unter den Vögeln offenbar einzelne – häufig symptomlose – Tiere durch den Besuch verschiedener Kolonien das Virus als so genannte Superspreader. »Die Seeschwalben sind immer auf Achse«, berichtet Leopold. Ein Vogel könne ohne jedes Problem aus der französischen Kolonie 300 Kilometer nach Texel fliegen, dort rasten und dann die 150 Kilometer nach Deutschland weiterfliegen. »Seeschwalben sind ideale Arten für ein Virus, das sich ausbreiten will. Wenn ich ein Virus wäre, würde ich Brandseeschwalben angreifen«, sagt der Forscher.
Dramatische Lage an der deutschen Nordsee
Erstmals wurde in Deutschland ein größerer Sommerausbruch Anfang Mai bei Brandseeschwalben auf der Insel Langenwerder an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns und bei Kormoranen festgestellt. An der deutschen Nordsee wurden Anfang Juni die ersten toten Seeschwalben gefunden. Das war der Auftakt zu einer dramatischen Entwicklung, wie Peter Südbeck sagt, der Leiter des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Mittlerweile ist auch die größte deutsche Brandseeschwalbenkolonie auf der kleinen unbewohnten Insel Minsener Oog nördlich von Wilhelmshaven schwer betroffen. »Seit Beginn des Ausbruchs wurden bisher mehr als 1000 tote Altvögel eingesammelt – das entspricht etwa jedem fünften Brutvogel«, sagt Südbeck: »Das ist ein wahnsinniger Aderlass, aber er spiegelt noch nicht das ganze Ausmaß wider, weil wir nicht wissen, wie es im Zentrum der Kolonie aussieht«. Südbeck geht von einer hohen Dunkelziffer aus.
Um die Vögel nicht aufzuscheuchen und das Infektionsgeschehen dadurch möglicherweise noch zu verschärfen, wird die Kolonie mit etwa 3000 Brutpaaren derzeit nicht betreten. Die rund tausend bislang geborgenen Vögel wurden auf Zählstrecken am Rand der Kolonieinsel eingesammelt. »Die Entwicklung der Fundzahlen auf Minsener Oog beschreiben die aus der Coronapandemie hinlänglich bekannte Glockenkurve: Ein exponentielles Wachstum, gefolgt von einer Abflachung und schließlich einem derzeit festgestellten leichten Rückgang», erläutert Südbeck.
Wie Leopold macht sich auch der Nationalparkleiter große Sorgen um das Überleben der Art im Wattenmeer. »Der Ausbruch hat eine Dimension, die existenziell ist«, sagt er.
Der Verlust so vieler Altvögel ist auch wegen einer biologischen Besonderheit von Seevogelarten besonders existenzbedrohlich. Anders als beispielsweise Singvögel, die nur wenige Jahre lang leben und in dieser Zeit sehr viel Nachwuchs bekommen, haben Seevögel in ihrer Evolution eine andere Fortpflanzungsstrategie zum Erhalt der Art ausgebildet: Sie werden erst spät geschlechtsreif und ziehen nur ein oder zwei Junge im Jahr auf, leben dafür aber normalerweise sehr lange. Über ihre Lebensspanne steuern sie so ausreichend Nachwuchs für das Fortbestehen der Art bei.
Brandseeschwalbe droht das Aussterben in der Region
»Altvögel sind die wesentliche Stütze der Population. Deswegen sehe ich das aktuelle Geschehen als echte und schwer wiegende Gefährdung der gesamten Population der Brandseeschwalbe bei uns«, sagt Südbeck. Als sei das nicht genug, erweist sich auch die Angewohnheit der Seeschwalben, in großer Zahl, dicht gedrängt in nur wenigen großen Kolonien zu brüten, als idealer Angriffspunkt für eine Virusinfektion. Im ganzen Wattenmeer gibt es weniger als ein Dutzend Kolonien. Dort aber leben die Vögel dicht an dicht. Von Abstand – dem wichtigsten Mittel gegen das Überspringen eines Virus – kann dort keine Rede sei.
Betroffen sind neben Brandseeschwalben auch Lachmöwen und vereinzelt Greifvögel, die das Aas der gestorbenen Tiere gefressen haben. Eine Population der Flussseeschwalbe am Banter See in Wilhelmshaven ist durch das Virus ebenfalls stark dezimiert worden. Etwa 400 Vögel und damit 20 Prozent des Gesamtbestands dort starben in der Forschungskolonie des Instituts für Vogelforschung. Die einzige deutsche Kolonie des Basstölpels scheint aber bislang nicht betroffen zu sein. In Schottland sind dagegen Basstölpel und Skuas bereits seit längerer Zeit in großer Zahl von der Vogelgrippe betroffen.
Sommerausbruch verschärft Lage radikal
Vogelgrippeausbrüche nehmen seit einigen Jahren zu. Bislang war die ursprünglich im Hausgeflügel entstandene Infektion stets im Winterhalbjahr aufgetreten – auch in diesem Jahr. In einigen Ländern wie Israel schlug die Krankheit im Winter besonders stark zu. Bilder von verendenden und toten Kranichen gingen um die Welt. Bisherige Wellen haben es jedoch nicht vermocht, zur ernsthaften Bedrohung für ganze Populationen einiger Arten zu werden.
Die Vogelgrippe trat bislang in Wellen auf. Die für Influenzaviren typischen Ausbruchsperioden in der kalten Jahreszeit flauten mit steigenden Temperaturen und höherer UV-Strahlung ab. Auch waren diese Ausbrüche von fast vollständig ausbruchsfreien Perioden oft über mehrere Jahre hinweg voneinander getrennt.
Doch schon im vergangenen Sommer schlugen einzelne Forscher aus Skandinavien Alarm. Sie meldeten in der Brutzeit kleinere Ausbrüche bei Raubmöwen und an der Küste lebenden Seeadler. Experten des in Deutschland für Tiergesundheit zuständigen Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) fürchteten bereits damals, dass das Virus auf dem Weg sei, sich dauerhaft zu etablieren.
Erfolgreiche Virusvariante
Leopold ist davon überzeugt, dass es dem Virus gelungen ist, sich festzusetzen, also endemisch zu werden. »Das ist mit Sicherheit der Fall: Das Virus ist von überwinternden und ziehenden Enten, Gänsen und Watvögeln auf die Brutvögel im Frühjahr und Sommer übergesprungen, so dass wir es jetzt leider als ganzjährig vorhanden betrachten müssen.«
Die FLI-Expertin für Vogelgrippe, Anja Globig, ist mit dieser Diagnos zurückhaltender. Klar sei aber, dass das Virus zum einen den letzten Sommer überdauert habe, sagt die Expertin. »Es ist aber auch ein Neueintrag über Zugvögel hinzugekommen, und im Winter 2021 hat es sich vermehrt wieder in den Wasservogelpopulationen ausgebreitet.« Der derzeit zirkulierende Virus-Typ H5N1 »ist so erfolgreich und mittlerweile so vorherrschend in Wasservögeln, dass das Geschehen nicht wie in den Vorjahren im Frühling zurückgegangen ist, sondern die Viren jetzt auch in Brutvogelpopulationen von Küstenvögeln eingetragen wurden, in denen sich eine hohe Vogeldichte auf engem Raum befindet, wo die Viren gut zirkulieren können«, beschreibt Globig die neue Dimension.
Gegen den aktuellen Ausbruch kann man nach übereinstimmender Meinung aller Experten kaum etwas unternehmen. Leopold rät dringend dazu, umgehend alle toten und sterbenden Vögel einzusammeln, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Andere Experten und auch Behörden zögern, um durch die Beunruhigung der Vögel durch das häufige Betreten der Kolonien nicht noch weiteren Kontakten Vorschub zu leisten.
Steffen Grüber, der Geschäftsführer des Vereins Jordsand zum Schutz von Seevögeln, fordert weitere Konsequenzen von den Behörden, darunter »eine intensivere Aufarbeitung der Frage, wo der Erreger herkommen kann und wo die Ursachen für die vielen Ausbrüche liegen«. Außerdem zeige der Ausbruch, dass mehr Ersatzlebensraum für Vogelarten geschaffen werden müsse, die in Kolonien brüten. »Wir brauchen mehr geeigneten Brutraum, damit sich die Bestände nicht auf wenige große und damit anfällige Kolonien beschränken und solche Teilpopulationen nicht komplett ausgelöscht werden.«
FLI-Expertin Globig sieht einen möglichen Hoffnungsschimmer: »Man könnte darauf hoffen, dass wir unter den Vögeln eine ›Pandemie‹ sehen, die in Wellen abläuft, und wir gehen davon aus, dass die Tiere, die überleben, Antikörper bilden«, sagt sie. »In den nächsten Jahren sollte es demnach eigentlich wieder etwas zur Ruhe kommen.« Es sei denn, schränkt Globig ein, »dass ein neuer Subtyp auftaucht, der die Schutzwirkung der Antikörper durchbricht.« Dann bliebe den Tieren nur ein schwächerer Immuneffekt aus den vorangegangenen Infektionen.
In den Niederlanden werden unterdessen bereits radikale Maßnahmen für das kommende Jahr diskutiert, um eine zweites Pandemiejahr unter den Seeschwalben zu verhindern. »Zweimal hintereinander, das wäre dann wohl das Ende der niederländischen Brandseeschwalben«, sagt Leopold.
Ein denkbares Szenario wäre, die Vögel im kommenden Jahr am Brüten zu hindern, indem ihnen die Eier weggenommen werden. Das würde die Vögel wieder auf See treiben, so dass sie nicht mehr konzentriert auf einem Haufen sitzen und einer Infektionsgefahr ausgesetzt sind. Damit, so das Kalkül für diesen Notfallplan, würden wenigstens die Altvögel vor einem neuen Massensterben geschützt, bis die Pandemie vorbei sei. Doch noch ist es nicht so weit. Die Forscher hoffen auch hier auf ein rasches Abflauen der Welle.
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