Evolution: Sex, Evolution und Selektion beim Menschen von heute
Forscher sind uneins, ob Evolution den modernen Menschen heute noch weiter perfektioniert. Denn womöglich, so die umstrittene Überlegung, greift "natürliche Auslese" unter modernen Menschen nicht länger: Die kulturelle Entwicklung sollte uns in die Lage versetzt haben, Selektionsprozesse außer Kraft zu setzen – etwa weil wir mit unserer Fähigkeit zur Reflexion moralische Normen errichten, die eine rein biologische Auslese einschränken, oder weil technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt die biologische Attraktivität des Einzelnen im Rahmen einer Partnerwahl zunehmend unwichtiger macht. Experimentell ist diese These nur schwer zu überprüfen – Virpi Lummaa von der University of Sheffield und ihre Kollegen haben nun aber dennoch einen Versuch unternommen.
Die Forscher suchten nach Anzeichen für das andauernde Wirken darwinischer Selektionsprozesse in einem wertvollen historischen Datensatz: den Aufzeichnungen aus Kirchenbüchern, die im Finnland im 18. und 19. Jahrhundert penibel über den Familienstand der Gemeindemitglieder geführt wurden. Im Detail analysierten die Forscher darin die Lebensgeschichten von 5923 Personen, die zwischen 1760 und 1849 geboren wurden.
Für ihre Zwecke mussten die Wissenschaftler einen Weg finden, Hinweise auf eine andauernde Auslese im Sinne Darwins in den gesammelten Lebensdaten zu erkennen. Selektion siebt aus einer Bandbreite von zufälligen, mutationsbedingten Varianten einer Art die jeweils überlegenen aus. Dieser Prozess verrät sich nun statistisch durch die hohe Varianz der Fitness einzelner Individuen, die in den Generationen aufeinander folgen: Die Menschen unterscheiden sich stark etwa hinsichtlich des Lebensalters, das sie erreichen, sowie der Zahl ihrer Nachkommen und der Anzahl der Enkel, die ihre Töchter und Söhne dann später bekommen. Ist die Fitnessvarianz dagegen über Generationen hinweg vernachlässigbar, so ist die Population offenbar zu uniform, um eine Selektion zu ermöglichen.
Stattdessen destillierten die Forscher aus den Kirchenbüchern aber ein sehr hohes Maß an Varianz innerhalb der finnischen Gemeinden – also Hinweise auf eine durchaus andauernde, starke Selektion unter den Menschen. Offenbar wurden in Finnland immer wieder einzelne Personen geboren, die eine merkbar höhere oder auch niedrigere Fitness als der Durchschnitt ihrer Artgenossen aufwiesen – Personen, die der Auslese somit einen Ansatzpunkt lieferten. Im Evolutionssinn "fittere" Menschen waren dabei jeweils häufiger verheiratet und bekamen mehr Kinder, die dann ihrerseits mehr Nachkommen hatten. Die Kirchenbücher belegen zudem, dass dies im Finnland der frühen Neuzeit offensichtlich biologische Ursachen hatte, nicht etwa kulturelle oder gesellschaftliche, denn sowohl unter reicheren Gemeindemitgliedern mit Landbesitz als auch unter ärmeren, landlosen fanden sich immer mal "fittere" und weniger "fitte" Personen.
Offenbar setzten sich die fitteren Gene vor, bei und nach der Partnerwahl durch: Einzelne von der Evolution begünstigte Menschen starben im Durchschnitt seltener früh und unterlagen auf ihrem Lebensweg offenbar auch einer sexuellen Selektion durch einen Partner, denn sie verheirateten sich häufiger – und im Zweifel, wenn der erste Partner starb, auch häufiger mehrfach. Wahrscheinlich wäre der Trend noch eindeutiger, wenn der analysierte Datensatz nicht in den streng monogam organisierten Sprengeln erhoben worden wäre, die einer sexuellen Selektion denkbar wenige Chancen bietet: Obwohl hier oft wohl nur eine einzige Gelegenheit zur Partnerwahl bestand, sei die Varianz deutlich erkennbar und die Selektion offenbar.
Das eindeutige Resultat überrascht: Frühere Versuche, eine noch wirksame Selektion beim Menschen mit ähnlichen Methoden zu belegen, endeten ohne sichere Erkenntnisse. Bisher hatte man dabei aber nur den Fortpflanzungserfolg von einzelnen erwachsenen Individuen in einer Generation ausgewertet, nie aber den Lebensweg und Fortpflanzungserfolg einer Linie über die Generationen hinweg, geben Lummaa und Kollegen zu bedenken. Dies könne ein Resultat erheblich verfälschen: Nachkommen, die sterben, bevor sie selbst sich fortpflanzen, gehen in eine solche Auswertung nicht mit ein; damit würden aber rund 60 Prozent der gesamten Population gar nicht erfasst und die eigentliche Fitnessvarianz der Gruppe nicht richtig errechnet.
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