Sex und Evolution: Monogamie macht sozial
Das Weibchen des Ambrosiakäfers Austroplatypus incompertus startet den Bau seiner Behausung mit einem Bohrloch im Stamm eines Eukalyptus. Dann gräbt es fein säuberlich entlang der Wachstumsringe zwei gekrümmte Tunnel. In der so begonnenen Höhle wird es nicht nur selbst leben, sondern auch die hunderte Nachkommen, die es in seinem bis zu 40 Jahre währenden Leben haben wird. Denn das Loch im Eukalyptus wird eine Kolonie beherbergen – und das Weibchen wird ihre Königin.
Die Lebensweise des Ambrosiakäfers ähnelt der großer Staaten sozialer Bienen, Wespen und Ameisen. Der kuriose Käfer hat es deswegen in sich, wie ein Team um Shannon M. Smith von der Western Sydney University in »Nature Ecology & Evolution« berichtet. Er könnte ein altes, umstrittenes Rätsel der Evolution aufklären helfen: wie die extreme Kooperation sozialer Insekten entstand.
Dabei geht es, wie so oft in der Evolution, hauptsächlich um Sex. Ein großer Teil so einer Kolonie hat keinen – wie bei Bienen oder Ameisen. Dort pflanzen sich nur die Königinnen fort, während die große Mehrzahl der Tiere in der Kolonie die Arbeit macht und ohne Nachkommen stirbt. So auch bei den Ambrosiakäfern, wie Smith und ihr Team berichten.
Extreme Kooperation unter Käfern
Wie es sein kann, dass ein beträchtlicher Teil der Individuen einer Gemeinschaft auf Sex verzichtet, ist bis heute mysteriös. Aus der Perspektive der Evolution ist das nämlich erst einmal widersinnig: Eigenschaften verbreiten sich dadurch, dass ihre Träger sich besser fortpflanzen. Verzicht auf Sex sollte sich fast per Definition nicht durchsetzen. Tatsächlich aber haben sich Kolonien mit einem Anteil nicht fortpflanzungsaktiver Mitglieder mehrfach entwickelt.
Der australische Käfer ist nur ein weiteres Beispiel für diese als Eusozialität bezeichnete Strategie. Welche Eigenschaften sind nötig, damit eine Tiergruppe diese kooperative Lebensweise entwickelt? Bisher gibt es nur wenige prominente Beispiele, an denen die meisten Vergleiche durchgeführt werden – die Staaten der Bienen, Wespen und Ameisen, die als Hautflügler untereinander verwandt sind, und die Termiten. Austroplatypus incompertus ist nun ein neuer Testfall für eine der einflussreichsten Theorien der Evolutionsbiologie: die Verwandtenselektion.
Die Verwandtenselektion erklärt den Erfolg der Abstinenz dadurch, dass Organismen ihre Eigenschaften quasi über Bande weitergeben. Kooperation sei erfolgreich, weil zur Gesamtfitness eines Individuums auch die Nachkommen genetisch ähnlicher Individuen beitragen. Ein Lebewesen, das einem Verwandten bei der Fortpflanzung hilft, erhöht so ebenfalls die Chance, seine Gene weiterzugeben – ohne eigene Kinder. Eusozialität mit ihren unzähligen fortpflanzungsunfähigen Arbeitstieren ist dann ein Extremfall dieser Strategie.
Sex und die Kolonie
Wenn man das zu Ende denkt, sollten die Königinnen einer Insektenkolonie monogam sein, damit sich der Verzicht auf Sex entwickeln kann. Die Arbeiterinnen erhöhen ihre eigene Fitness, indem sie ihren fortpflanzungsfähigen Koloniekolleginnen, den jungen Königinnen, den Weg zur eigenen Kolonie ebnen. Am meisten gewinnen die Tiere mit dieser Strategie, wenn alle Mitglieder der Kolonie Geschwister sind, also vom selben Paar abstammen.
Doch die Verwandtenselektion ist keineswegs unumstritten. Kritiker bezweifeln, dass der vermutete Mechanismus mehr ist als eine nette, nicht zu belegende Hypothese. Vor allem bestreiten sie, dass Verwandtenselektion die einzige Möglichkeit ist, Eusozialität, die extreme Kooperation innerhalb von Insektenstaaten, zu erklären. Eine Gruppe um den Ameisenforscher E. O. Wilson, den profiliertesten Fachmann für soziale Insekten, schrieb 2010 in »Nature«, Eusozialität lasse sich durch klassische Selektion erklären, ganz ohne Rückgriff auf den Mehrwert enger Verwandtschaft.
Wie oft die Königin Sex hat, ist deswegen für den Streit von entscheidender Bedeutung. Zwar sind, soweit bekannt ist, die großen Insektenstaaten aus Vorläufern mit monogamen Königinnen entstanden – wie es die Theorie fordert. Doch das ist nur ein schwaches Argument. Die meisten Untersuchungen an Staaten bildenden Insekten, bemängeln Kritiker, beziehen sich auf die Gruppen Bienen, Wespen und Ameisen. Entsprechend seien viele gemeinsame Merkmale Resultat von Verwandtschaft und hingen nicht mit ihrer eusozialen Lebensweise zusammen.
Die Ambrosiakäfer bieten jetzt die Möglichkeit, diese Frage an einer nicht verwandten, eusozialen Art zu klären. Bei ihnen bleibt ein Teil der Weibchen, um zu arbeiten – und das bedeutet, dass sie die Kolonie nicht mehr verlassen. Ihre Füße nutzen sich dabei so sehr ab, dass sie nach einer Weile nicht mehr klettern können. Und wie Smith und ihr Team zeigen, bleiben sie grundsätzlich zölibatär. Das tun sie, obwohl sie nicht nur funktionierende Geschlechtsorgane haben, sondern sich auch mit ihren Brüdern paaren könnten, wie es andere Ambrosiakäfer tun.
Maximaler Verwandtenbonus
Der evolutionäre Vorteil des Verzichts muss erheblich sein. Smith und die Ambrosiakäfer liefern nun ein deutliches Indiz dafür, dass die Verwandtenselektion Eusozialität erklären kann. Denn wie Smith in »Nature« schreibt, zeigt Austroplatypus incompertus ebenfalls jene Kombination von Merkmalen, die die Theorie vorhersagt. Die Königin der Kolonie ist monogam, sie hat in ihrem Leben genau einmal Sex – und dann nie wieder.
Entsprechend sind alle Tiere der Kolonie Geschwister und profitieren maximal vom mutmaßlichen Verwandtenbonus. Das Sahnehäubchen der Argumentation: Auch der Stammbaum des Ambrosiakäfers und seiner Verwandten unterstützt die vermutete Verbindung. Erst kam die Monogamie, dann die Entwicklung der abstinenten Arbeiterkaste.
Die Erkenntnisse der Arbeitsgruppe reichen zwar nicht als strenger Beleg für die Bedeutung der Verwandtenselektion aus, aber sie gehören zu einer langen Liste von unterstützenden Ergebnissen auch jenseits der eusozialen Insekten. Die nämlich sind wohl nur ein Extrempunkt jenes Spektrums, an dessen anderem Ende der totale Fortpflanzungsegoismus des Individuums liegt. Statistische Analysen einerseits, empirische Untersuchungen an sozialen Verhaltensweisen in vielen Bereichen des Tierreichs andererseits deuten auf die Existenz dieses von der Verwandtenselektion aufgespannten Spektrums hin.
Mit der Geschwisterliebe ist es allerdings nicht weit her in dem Bau unter der Rinde des Eukalyptus: Die fortpflanzungswilligen Individuen drängen mit solcher Hast ins Freie, dass sie oft ihre Arbeiterschwestern aus der Bruthöhle drücken. Die können nicht mehr klettern und stürzen unweigerlich in den Tod. Doch die Übeltäter haben ohnehin nur ein Ziel vor Augen: den einzigen Sex ihres Lebens, kopfüber an der glatten Rinde eines Baumstammes, und dann ein Loch, das sie in einen neuen Eukalyptus bohren – um Königin einer neuen Kolonie zu werden.
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