Russisches Tagebuch: Sibirisches Finale
Sibirien empfängt die Besucher freundlich mit frischem Frühsommerwetter. Gegen das Gruseln bei der Besichtigung des Virenforschungsinstituts Vektor hilft das allerdings wenig.
Montag, Vormittag
Wir fahren 27 Kilometer Richtung Süden, nach Akademgorodok, ein Reißbrett-Städtchen der Wissenschaft und Vorzeigeprojekt zu Sowjetzeiten, in den 1950er Jahren angelegt. Heute allgegenwärtig die Spuren des Niedergangs: Vor 15 Jahren arbeiteten hier 50 000 Angestellte, heute sind es gerade noch 33 000, sie wohnen in Wohnblöcken, die ihre Glanzzeiten schon eine Weile hinter sich haben, sie arbeiten in Instituten, die sich zur Hälfte mit Industrieaufträgen finanzieren müssen.
Kulipanow gibt sich gleichwohl keinen Illusionen hin. Nach 1990 gab es vom Staat kein Geld mehr, auch heute muss sich das Institut weit gehend selbst versorgen. 75 Prozent des Etats stammen vom Verkauf kleiner Tischbeschleuniger für die radiochemische Industrie in China, Südkorea, USA und Dresden. Nur eine Minderheit am Institut betreibt also tatsächlich Forschung, die Mehrheit bedient industrielle Produktionsanlagen. "Früher hatte ich Probleme, zu erklären, was Perestroika ist", erinnert sich der Teilchenphysiker. "Heute ist das einfach: Perestroika ist destroika."
Montag, Nachmittag
Morbider Grusel berührt mich, als unser Bus über eine holprige Schlaglochstraße nach Kolzowo im Norden Nowosibirsks schaukelt. Jetzt stehen wir am Eingang des sibirischen Virenforschungsinstitut Vektor, vor uns niedrige Gebäude, ein dreifacher Zaun mit Stacheldraht. Brennnesseln und Löwenzahn wachsen, dazwischen ragen rostige Eisenteile. Meine Gänsehaut bildet sich vor allem durch eine Erinnerung. Da, wo wir jetzt stehen, herrschte einst militärisches Sperrgebiet. Vektor, das Forschungsinstitut für Virologie und Biotechnologie, barg einst die Elite der sowjetischen Biowaffenforschung. Als 1992 der hochrangige sowjetische Biowaffenforscher Kanatjam Alibekow in die USA flüchtete (er nannte sich später Ken Alibek), wurden auch Details über Vektor bekannt (Ken Alibek, Stephen Handelman: Bioterror. Tod aus dem Labor).
Die Laborbesuche sind – auf russisch – auf einem Programmzettel vermerkt, der uns in die Hand gedrückt wird. Auch heute noch wird im Vektor an fast allen brisanten Viren gearbeitet: Ebola, Lassa, Machupo (Auslöser des bolivianischen hämorrhagischen Fiebers), Marburg, Sars, Influenza, HIV, Hepatitis – und Pocken. Über fünf Millionen Dollar betrage der Institutsetat, heißt es, Militärforschung werde keine mehr betrieben.
Weltweit gelten die Pocken als ausgerottet, nur noch an zwei Stellen werden offiziell Pockenviren gelagert, zur Sicherheit: in Atlanta in den USA und, unter WHO-Kontrolle, eben im Vektor. Tausende von Antipockensubstanzen werden im dem Virenlabor getestet und entwickelt. Drei Vorfälle gab es in den letzten 25 Jahren, zwei Menschen starben, durch Marburg- und Ebolaviren. Das berichtet Sergei Netesow, Vizedirektor des Labors. Der agile Mitfünfziger führt uns in einem rostigen Kleinbus über das Gelände, hält vor einigen Gebäuden und plaudert fließend auf Englisch.
Plötzlich gibt es einen neuen Ablaufplan, auf Englisch. Dann die Enttäuschung: Wir dürfen nicht in die Labors. Begründung: keine. Der Lederjackenmann wird später von Netesow offenbar gemaßregelt, offenbar hat der Sicherheitsveranwortliche versehentlich noch das alte Programm verteilt. So stehen wir auf den Eingangsstufen vor den Türen und lauschen Netesow, der uns berichtet, was sich hinter den Mauern verbirgt. Jedenfalls ein ausgeklügeltes Sicherheitskonzept: Sicherheitsschleusen, Unterdruck in den Labors, Mehrfachfiltersysteme, Wäscherei am Gelände, Verbrennungsanlage für den Labormüll, dazu Sicherheitstruppen des Innenministeriums, untergebracht in einem fensterlosen Gebäude, die das Gelände bewachen.
Das nächste Gebäude: Putz bröckelt, die Brennnesseln stehen besonders hoch, oben steht ein Fenster offen. Sergei Netesow beruhigt uns: Innen im Gebäude sei noch ein zweites, sicheres Haus, also keine Sorge. Jedem kommen Zweifel, ob uns da vielleicht eine Potemkinsche Show geboten wird.
Anschließend ein Pressegespräch im sowjetischen Stil; eine Stunde lang sitzen auch mehrere andere Vektor-Wissenschaftler dabei und schweigen. Der Leiter antwortet langatmig auf Russisch, oft werden unsere Fragen aber auch gar nicht beantwortet. Auch Sergei Nesetow spricht plötzlich nur noch russisch; jetzt müssen wir geduldig auf die Übersetzung warten. Noch auf der Rückfahrt rätsele ich, was wir nun wirklich gesehen haben: ob sich die kritische Virenforschung tatsächlich an diesem Ort befindet oder sonst wo – vielleicht aus Sicherheitsgründen? Meine Gruselreaktion ist noch nicht ganz verflogen.
Wir sind, so klärt uns Lena – unsere Begleiterin in Nowosibirsk – auf, im südlichen Westsibirien gelandet. Aber keine Taiga mit klirrender Kälte empfängt uns in der drittgrößten Stadt Russlands, lediglich frisches Frühsommerwetter mit strahlend blauem Himmel. Die Stadt umgibt europäisch anmutender Mischwald, vielleicht mit mehr Birken als bei uns üblich. 65 Prozent aller Öl- und 85 Prozent aller Gasvorräte Russlands lagern in sibirischer Erde. Die Nachbarn sind weit, das Land ziemlich leer: Nachbarstädte wie Irkutsk oder Tomsk sind jeweils viele hundert Kilometer entfernt.
Wir fahren 27 Kilometer Richtung Süden, nach Akademgorodok, ein Reißbrett-Städtchen der Wissenschaft und Vorzeigeprojekt zu Sowjetzeiten, in den 1950er Jahren angelegt. Heute allgegenwärtig die Spuren des Niedergangs: Vor 15 Jahren arbeiteten hier 50 000 Angestellte, heute sind es gerade noch 33 000, sie wohnen in Wohnblöcken, die ihre Glanzzeiten schon eine Weile hinter sich haben, sie arbeiten in Instituten, die sich zur Hälfte mit Industrieaufträgen finanzieren müssen.
Im Budger-Institut für Kernphysik treffen wir auf das Akademiemitglied Gennady Kulipanow. Um Hochenergiephysik und Plasmaphysik kümmern sich die etwa hundert Professoren und 2900 Angestellten seiner Forschungseinrichtung. Die Teilchenforscher des Instituts halten Verbindungen zu Desy in Hamburg, die Plasmaphysiker zum Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching und Greifswald. Die Gemäuer wirken fast gespenstisch, die Elektrik fast bedrohlich: herabhängende Kabel über Putz, archaische Steckdosen, sie erinnern mich an meine Kindheit.
Als Glanzstück bauen die Budgerforscher derzeit einen Freien Elektronenlaser, mit Parametern komplementär zum Röntgen-FEL in Hamburg, also bei längeren Wellenlängen und höherer Intensität. Doch wir besichtigen den Teilchenbeschleuniger "Vepp-4", erbaut 1960 (!), dazu so genannte Spiegelmaschinen für den magnetischen Einschluss ionisierter Gase (Plasmen), Experimente für die Entwicklung der kontrollierten Kernfusion. Von Magneten verstehen die Budgerforscher etwas: Für die Synchrotronquelle Bessy II in Berlin-Adlershof etwa lieferten sie mehrere große, neun Tesla starke Umlenkmagneten. Auch mit dem Forschungszentrum Rossendorf, der GSI in Darmstadt und dem Forschungszentrum Karlsruhe werde kooperiert.
Kulipanow gibt sich gleichwohl keinen Illusionen hin. Nach 1990 gab es vom Staat kein Geld mehr, auch heute muss sich das Institut weit gehend selbst versorgen. 75 Prozent des Etats stammen vom Verkauf kleiner Tischbeschleuniger für die radiochemische Industrie in China, Südkorea, USA und Dresden. Nur eine Minderheit am Institut betreibt also tatsächlich Forschung, die Mehrheit bedient industrielle Produktionsanlagen. "Früher hatte ich Probleme, zu erklären, was Perestroika ist", erinnert sich der Teilchenphysiker. "Heute ist das einfach: Perestroika ist destroika."
Montag, Nachmittag
Morbider Grusel berührt mich, als unser Bus über eine holprige Schlaglochstraße nach Kolzowo im Norden Nowosibirsks schaukelt. Jetzt stehen wir am Eingang des sibirischen Virenforschungsinstitut Vektor, vor uns niedrige Gebäude, ein dreifacher Zaun mit Stacheldraht. Brennnesseln und Löwenzahn wachsen, dazwischen ragen rostige Eisenteile. Meine Gänsehaut bildet sich vor allem durch eine Erinnerung. Da, wo wir jetzt stehen, herrschte einst militärisches Sperrgebiet. Vektor, das Forschungsinstitut für Virologie und Biotechnologie, barg einst die Elite der sowjetischen Biowaffenforschung. Als 1992 der hochrangige sowjetische Biowaffenforscher Kanatjam Alibekow in die USA flüchtete (er nannte sich später Ken Alibek), wurden auch Details über Vektor bekannt (Ken Alibek, Stephen Handelman: Bioterror. Tod aus dem Labor).
Wir werden durch das leicht verbeulte Metalldrehkreuz geschleust. Akribisch kontrollieren zwei uniformierte Soldaten unsere Pässe, streichen unsere Namen von einer Liste ab. Unser Besuch war bereits Monate vorher in Moskau angemeldet und genehmigt worden, in zwei Labors sollten wir schauen dürfen, fotografieren natürlich verboten. Ein schweigsamer, finster blickender Mann in Lederjacke begleitet uns schon seit dem Einlass.
Die Laborbesuche sind – auf russisch – auf einem Programmzettel vermerkt, der uns in die Hand gedrückt wird. Auch heute noch wird im Vektor an fast allen brisanten Viren gearbeitet: Ebola, Lassa, Machupo (Auslöser des bolivianischen hämorrhagischen Fiebers), Marburg, Sars, Influenza, HIV, Hepatitis – und Pocken. Über fünf Millionen Dollar betrage der Institutsetat, heißt es, Militärforschung werde keine mehr betrieben.
Weltweit gelten die Pocken als ausgerottet, nur noch an zwei Stellen werden offiziell Pockenviren gelagert, zur Sicherheit: in Atlanta in den USA und, unter WHO-Kontrolle, eben im Vektor. Tausende von Antipockensubstanzen werden im dem Virenlabor getestet und entwickelt. Drei Vorfälle gab es in den letzten 25 Jahren, zwei Menschen starben, durch Marburg- und Ebolaviren. Das berichtet Sergei Netesow, Vizedirektor des Labors. Der agile Mitfünfziger führt uns in einem rostigen Kleinbus über das Gelände, hält vor einigen Gebäuden und plaudert fließend auf Englisch.
Plötzlich gibt es einen neuen Ablaufplan, auf Englisch. Dann die Enttäuschung: Wir dürfen nicht in die Labors. Begründung: keine. Der Lederjackenmann wird später von Netesow offenbar gemaßregelt, offenbar hat der Sicherheitsveranwortliche versehentlich noch das alte Programm verteilt. So stehen wir auf den Eingangsstufen vor den Türen und lauschen Netesow, der uns berichtet, was sich hinter den Mauern verbirgt. Jedenfalls ein ausgeklügeltes Sicherheitskonzept: Sicherheitsschleusen, Unterdruck in den Labors, Mehrfachfiltersysteme, Wäscherei am Gelände, Verbrennungsanlage für den Labormüll, dazu Sicherheitstruppen des Innenministeriums, untergebracht in einem fensterlosen Gebäude, die das Gelände bewachen.
Das nächste Gebäude: Putz bröckelt, die Brennnesseln stehen besonders hoch, oben steht ein Fenster offen. Sergei Netesow beruhigt uns: Innen im Gebäude sei noch ein zweites, sicheres Haus, also keine Sorge. Jedem kommen Zweifel, ob uns da vielleicht eine Potemkinsche Show geboten wird.
Anschließend ein Pressegespräch im sowjetischen Stil; eine Stunde lang sitzen auch mehrere andere Vektor-Wissenschaftler dabei und schweigen. Der Leiter antwortet langatmig auf Russisch, oft werden unsere Fragen aber auch gar nicht beantwortet. Auch Sergei Nesetow spricht plötzlich nur noch russisch; jetzt müssen wir geduldig auf die Übersetzung warten. Noch auf der Rückfahrt rätsele ich, was wir nun wirklich gesehen haben: ob sich die kritische Virenforschung tatsächlich an diesem Ort befindet oder sonst wo – vielleicht aus Sicherheitsgründen? Meine Gruselreaktion ist noch nicht ganz verflogen.
Der Rückflug: Mein Vertrauen in die Iljuschin war vielleicht verfrüht. Nachdem wir (früh um sieben!) in dem 350-Sitzer Platz nehmen, werden wir wieder ausgeladen und in die Abflughalle zurückgekarrt: Technikschaden! Mit sechs Stunden Verspätung geht es dann zurück über Moskau nach Frankfurt. Etwas Unwirkliches bleibt zurück.
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