Evolutionsbiologie: Sind Instinkte erlernt?
Es ist ein eigentümliches Wettrennen, das einmal im Jahr die Touristen an abgelegene Strände lockt: Tausende Meeresschildkrötenbabys schlüpfen aus ihrem Ei und spurten, kaum dass sie sich von der Hülle befreit haben, in Richtung Ozean. Woher wissen sie eigentlich, in welche Richtung sie laufen müssen?
Auch die Verhaltensweisen anderer Tiere geben Rätsel auf. Bienen sind geborene Meister im Schwänzeltanz, mit dem sie Artgenossen über attraktive Nahrungsquellen informieren. Spinnen wissen scheinbar von allein, wie sie effektive Netze bauen. Wie lässt sich das erklären? Die etwas unbefriedigende Antwort lautet: Das Verhalten ist angeboren – es ist ein Instinkt.
Das lässt sich allein schon deswegen leicht behaupten, weil der Begriff Instinkt in der Wissenschaft kaum je exakt definiert wurde. Gemeinhin zählt man dazu alle komplexen Verhaltensweisen, die ein Lebewesen von Geburt an beherrscht und die nicht von Reflexen gesteuert sind. Oder anders gesagt: Instinkt ist alles, was ein Jungtier nicht erst lernen muss. So heißt es, seit Konrad Lorenz, der Begründer der modernen Verhaltensforschung, mit seinen Graugansküken schwimmen ging. Doch seit einiger Zeit schwelt ein Streit unter Biologen, gerade was den entscheidenden Punkt des Lernens angeht. Denn die Trennung zwischen vererbtem und erworbenem Verhalten lässt sich längst nicht mehr so uneingeschränkt aufrechterhalten, wie man einst glaubte. Erworbene und erlernte Verhaltensweisen scheinen sehr viel stärker aneinander gekoppelt zu sein. Womöglich ist es die Epigenetik – die dritte große Kraft neben Genen und Erfahrung –, die die Brücke zwischen den beiden Bereichen schlägt.
Als Lorenz in den 1940er Jahren seine Versuche mit handaufgezogenen Gänsen machte, wusste er freilich noch nichts von molekularen DNA-Anhängseln, von stillgelegten Genen, Mikro-RNA und all den anderen Steuerungsmechanismen der Epigenetik. All dies wurde erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt. Der Begründer der Verhaltensforschung verließ sich vor allem auf Beobachtung. Und so fiel ihm beispielsweise auf, dass alle Tiere ein aus dem Nest gefallenes Ei auf die gleiche Weise, nämlich mit ihrer Schnabelunterseite, wieder in ihr Nest zurückrollen. Und zwar ohne dass sie diese Bewegung vorher geübt zu haben schienen. Nahm er ihnen auf halber Strecke das Ei weg, führten sie die Bewegung trotzdem zu Ende.
Schon damals ging man davon aus, dass solchen stereotypen Verhaltensweisen einzelne Gene zu Grunde liegen. Aber was brachte solche Instinktgene hervor, wodurch entstanden sie? Lorenz und andere Verhaltensforscher seiner Zeit machten zufällige Erbgutmutationen dafür verantwortlich. Spontane Änderungen im Genom, die ein neues Verhalten hervorrufen und sich entweder bewähren oder von der Selektion schnell wieder zum Verschwinden gebracht werden.
Als »Mutation first«-Hypothese bezeichnen heute Biologen diese Sichtweise, die gut zu unseren Vorstellungen passt, wie die Evolution als Ganzes abläuft. Das Problem: Vielen Forschern ist das Szenario zu simpel. Vorteilhafte DNA-Mutationen sind extrem selten, die Änderungen in Verhalten und Erscheinungsbild einer Art – im Phänotyp – treten jedoch deutlich häufiger auf.
Einen Ausweg skizzieren nun Gene Robinson von der University of Illinois und Andrew Barron von der Macquarie University in Sydney in einem Artikel im Fachmagazin »Science«. Im Gehirn gebe es die strikte Trennung zwischen Erlerntem und Angeborenem nicht, argumentieren die beiden. Beispielsweise sind die neuronalen Schaltkreise einer Ameise oder Biene, die das Tier einen Geruch fürchten lassen, ihrer Struktur nach immer gleich, unabhängig davon, ob diese Furcht nun erworben oder angeboren ist. Nicht anders sei dies bei Säugetieren, zumindest den gut untersuchten Nagern. Instinkte, so die Forscher, könnten sich aus erlerntem Verhalten entwickelt haben.
Auch diese Hypothese hat Vorläufer. Ihre Grundlagen wurden bereits 1986 von der Neurowissenschaftlerin Ann Jane Tierney vorgeschlagen – allerdings fand sie zunächst kaum Beachtung damit. All diesen »Plasticity first«-Ansätzen ist die Überzeugung gemein, dass der genetischen Anpassung an die Umwelt eine Anpassung des äußerlich sichtbaren Verhaltens, des Phänotyps, vorausgeht. Die Plastizität, also die Formbarkeit des tierischen Verhaltens, kommt zuerst, eine genetische Verankerung folgt später.
Möglich ist dies, weil Populationen immer eine gewisse genetische Variabilität aufweisen, auch wenn sie nach außen identisch erscheinen mögen. Wird eine Population plötzlich mit einer radikalen Änderung der Umgebungsbedingungen konfrontiert, passen sich einige Tiere schneller an als andere, sofern sie günstige genetische Voraussetzungen dafür haben. Alternativ könnte auch eine bestimmte Gruppe eine neue Fähigkeit erlernen, die ihr einen Überlebensvorteil verschafft. Ein Beispiel dafür wären Vögel, die herausfinden, wie man Schneckenhäuser knackt, und diese fortan auf ihren Speiseplan schreiben.
In beiden Szenarien würden sich mit der Zeit, nach dem Prinzip der natürlichen Selektion, diejenigen durchsetzen, die ein bestimmtes Verhalten besonders früh ausbilden. Dieser Effekt ist auch als Baldwin-Effekt bekannt – benannt nach dem Psychologen und Philosophen James Mark Baldwin, der das Konzept 1896 entwickelte.
Eine erhöhte Plastizität, also Flexibilität ihres Verhaltens ist bei den beiden genannten Beispielen zunächst ein Überlebensvorteil. Bleiben die Umweltbedingungen stabil, kann allerdings auch eine Abnahme der Plastizität einen Vorteil bieten. Das damit verbundene Verhalten wird so immer weiter genetisch zementiert. Es entsteht stereotypes – im klassischen Sinn instinktives – Verhalten. Wie genau eine solche genetische Assimilation einer zuvor variablen Eigenschaft abläuft, ist allerdings noch umstritten.
Steht Instinktentwicklung unter dem Einfluss der Epigenetik?
Der Schlüssel dafür könnte in der Epigenetik zu suchen sein, meinen Robinson und Barron. Epigenetische Prozesse beeinflussen ganz unmittelbar die Gene: Sie hindern beispielsweise die Zelle daran, bestimmte DNA-Abschnitte abzulesen, oder ermöglichen es im Gegenteil erst, dass eine Zelle einen wichtigen Baustein produziert. Dies geschieht unter anderem durch das Anhängen kleiner Moleküle, der Methylgruppen. Epigenetische Prozesse wirken sich aber auch auf das Lernen aus. Nervenzellen regulieren so zum Beispiel, wie bereitwillig sie neue Verknüpfungen eingehen. Die »Sinnesorgane« der Nervenzellen, ihre Rezeptoren, sind ebenfalls einer epigenetischen Steuerung unterworfen. Diese Prozesse könnten eine entscheidende Rolle bei der genetischen Assimilation von gelerntem Verhalten und damit der Bildung von Instinkten spielen, so die beiden Wissenschaftler.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich die Epigenetik auf das Verhalten auswirkt, lieferte 2013 ein Forscherteam um Brian Dias und Kerry Ressler von der Emory University School of Medicine in Atlanta. Sie ließen männliche Mäuse an Azetophenon, einer nach Mandeln riechenden Chemikalie, schnüffeln und versetzten ihren Pfoten kurz darauf einen schwachen Stromschlag. Nach drei Tagen hatten die Mäuse gelernt, den Geruch mit dem Stromschlag zu assoziieren, und erstarrten vor Angst, wenn sie den Mandelgeruch wahrnahmen. Anschließend wurden die Männchen mit nicht konditionierten Weibchen verpaart. Und überraschenderweise reagierte die Mehrzahl der Nachkommen ebenfalls ängstlich auf den Duft. Der Effekt war sogar noch in der folgenden Mäusegeneration nachweisbar, er musste also vererbt worden sein. Den Forschern gelang es außerdem, ein körperliches Merkmal für die veränderte Reaktion zu identifizieren: Die Mäuse wiesen veränderte anatomische Strukturen von azetonempfindlichen Nervenzellen auf.
Weitgehend unerforscht ist, wie eine solche epigenetische Vererbung ablaufen könnte. Im Verdacht haben Forscher kleine RNA-Moleküle, die aus den Gehirnzellen in die Keimbahnzellen der konditionierten Väter gewandert sind. An Bord von Spermien gelangen sie in die Eizelle und damit in den sich entwickelnden Nachwuchs. Nur werden nach der Befruchtung sämtliche epigenetischen Anhängsel an der DNA entfernt und erst im Zuge der Ausdifferenzierung der einzelnen Zellen wieder angefügt. Ob und wie die epigenetische Information aus den Spermien bis dahin überleben kann, darüber lässt sich derzeit nur spekulieren.
Zudem verschwinden epigenetische Effekte, zumindest bei Experimenten mit Säugetieren, schon nach drei Generationen wieder. Die Epigenetik scheint somit, wenn überhaupt, dann eher eine »weiche« Methode der Genanpassung zu sein, die eine sehr flexible Anpassung an die Umwelt ermöglicht – also das Gegenteil des klassischen Instinkts. Das kann evolutionär durchaus sinnvoll sein. So wie für die Enkel der auf Azetophenon konditionierten Mäuse. Für sie gab es ja keine Stromreize mehr, der Mandelgeruch war nicht mehr mit Gefahr verbunden. Und die Empfindlichkeit gegenüber diesem Stoff verlor sich wieder.
Soll die Epigenetik dauerhafte Änderungen im Genom bewirken, müssten die Umweltbedingungen über Generationen hinweg stabil bleiben. Unter dieser Voraussetzung wäre dann aber zu erwarten, dass ursprünglich durch Lernen erworbene epigenetische Veränderungen nach und nach zu einer Selektion einer bestimmten Genkombination führen. Die genetische Assimilation würde nach dem Prinzip der mehrfachen Wiederholung von Anpassung, epigenetischer Fixierung und schließlich genetischer Fixierung stattfinden, wie Gerd Müller und Stuart Newman im Jahr 2005 im »Journal of Experimental Zoology« vorschlugen.
Ratten im Weltall
Welche entscheidende Rolle äußere Bedingungen für die Ausbildung von Instinkten spielen, wird oft übersehen. Der Neurowissenschaftler Mark Blumberg beleuchtet diese Problematik ausführlich in einem Übersichtsartikel in »WIRE Cognitive Science« zum Thema Instinktentwicklung.
Unter normalen Umständen folgt die frühe Entwicklung eines Nervensystems festen Abläufen, die in der Regel zu einem gleichen oder sehr ähnlichen Ergebnis führen. Liegt allerdings ein Störfaktor vor, reagiert das System höchst flexibel und bringt neue Lösungen hervor. Blumberg nennt als Beispiel unter anderem den Hund Duncan, der ohne Hinterbeine geboren wurde und sich nur auf seinen Vorderpfoten, sozusagen im Handstand, fortbewegt. Blumberg ist davon überzeugt, dass viele Verhaltensweisen stark von den äußeren Bedingungen, wie zum Beispiel auch dem Körperbau, gesteuert werden. Sind diese Umstände nicht offensichtlich, entsteht der Eindruck, das Verhalten sei im Detail vorprogrammiert, und erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass nur seine Grundzüge genetisch bestimmt sind.
April Ronca, Jeffrey Alberts und Kollegen von der University School of Medicine Winston-Salem in den USA zeigten dies 2008 in einem Experiment an Rattenbabys, die sich im Wasser instinktiv mit dem Rücken nach oben drehen. Bei diesem Verhalten spielt das Gleichgewichtssystem eine entscheidende Rolle, das auf den Einfluss der Schwerkraft reagiert. Um die Rolle der Schwerkraft für den Instinkt der Rattenbabys zu untersuchen, schickten die Forscher kurzerhand schwangere Ratten ins All, und zwar genau zu der Zeit, als sich das Gleichgewichtssystem der Embryos entwickelte. Wieder auf der Erde angekommen, zeigte sich, dass die Tiere sich im Wasser nicht mehr automatisch auf den Bauch drehten. Ein entscheidender externer Auslöser für die Entwicklung des Verhaltens – die Schwerkraft – hatte gefehlt. Nachdem die Tiere eine Woche auf der Erde verbracht hatten, bildeten sie diese Fähigkeit allerdings nachträglich aus.
Das Experiment demonstriert zwei wichtige Dinge. Zum einen, dass die Ausbildung von Instinkten an eine stabile Umgebung, die bestimmte Schlüsselreize bereitstellt, gekoppelt sein kann. Zum anderen, dass die Zeit vor der Geburt dabei wohl eine wichtige Rolle spielt.
Instinkte sind also vermutlich das Produkt vieler unterschiedlicher Faktoren. So beruhen sie wohl größtenteils auf gelerntem Verhalten, dessen genetische Grundlagen im Lauf der Evolution assimiliert wurden. Ein Einfluss epigenetischer Faktoren oder zufälliger Mutationen im Erbgut ist dabei nicht auszuschließen. Die Ausbildung instinktiven Verhaltens während der Entwicklungsphase ist außerdem anfällig für äußere Einflüsse. Einmal entwickelt, laufen Instinkte als Reaktion auf bestimmte Reize ab, für die die Tiere sensibilisiert sind.
Den eingangs erwähnten Schildkröten weisen das Mondlicht und das Wasserrauschen den Weg. Denn beides finden die Schildkröten auf Grund ihres ausgezeichneten Sehvermögens und Gehörs sehr anziehend. Vorfahren, bei denen diese Sinne besonders stark ausgeprägt waren, fanden am schnellsten den Weg ins sichere Meer. Die anderen wurden, nun ja, gefressen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.