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Seelische Gesundheit : Vorsicht, Infektionsgefahr?

Laut einer populären Ansicht können psychische Störungen ansteckend sein – ähnlich wie eine Viruserkrankung. Was ist an dem Vergleich dran?
Eine Gruppe junger Menschen beim Picknick im Park
Gedanken und Gefühle verbreiten sich auch durch soziale Ansteckung.

Spätestens seit der Corona-Pandemie wissen wir wohl alle, was eine Tröpfcheninfektion ist und wie man sich vor derartigen Krankheiten am besten schützt. Doch auch bei psychischen Erkrankungen geistert immer wieder die Behauptung durch die Medien, sie seien ansteckend. Kann man sich eine Depression, Essstörung oder einfach nur Stress womöglich genauso einfangen wie einen Schnupfen oder die Grippe?

Zunächst einmal gibt es noch andere Mechanismen der Krankheitsübertragung als nur die Tröpfcheninfektion, denn nicht immer dienen Viren als Überträger. Manchmal handelt es sich auch um Bakterien, Pilze oder Parasiten. Bei psychischen Erkrankungen dagegen scheint ein solcher physiologischer Überträger auszuscheiden. Wie soll also ein Leiden ohne Erreger von einer Person zur nächsten überspringen können?

Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Greifswald, sagt dazu: »Psychische Erkrankungen sind nicht im herkömmlichen Sinn ansteckend wie die Grippe oder andere Infektionskrankheiten. Allerdings sind wir Menschen äußerst soziale Wesen. Wir verbringen viel Zeit mit anderen, in der Regel etwa 70 bis 80 Prozent der Wachphasen. Und bei vulnerablen Menschen, die bestimmte Risikofaktoren mitbringen, kann sich manche Störung auch dadurch einstellen, dass sie engen Kontakt mit Erkrankten haben.«

Wobei der Ausdruck Ansteckung hier eigentlich irreführend sei, betont die Psychologin. Man sollte besser von Beeinflussung sprechen. So fällt also der Vergleich mit Virusinfektionen doch recht schnell in sich zusammen. Bleibt die Frage, wodurch und wie stark die Beeinflussung zu Tage tritt.

»Laut dem klassischen Vulnerabilitäts-Stress-Modell gibt es psychologische, soziale und Umweltfaktoren ebenso wie genetische und biologische, die die Entstehung von psychischen Erkrankungen beeinflussen«, erklärt Brakemeier. Welchen Anteil ein Faktor hat, unterscheidet sich stark von Krankheit zu Krankheit. So gebe es bei der Schizophrenie oder der bipolaren Störung eine größere genetische Komponente.

Allerdings sind die Erb- und Umweltfaktoren oft nicht klar voneinander zu trennen. Sie bedingen und verstärken sich häufig gegenseitig. Brakemeier nennt ein Beispiel: »Wenn eine Mutter oder ein Vater eine bipolare Störung hat, kommt das Kind mit einem erhöhten genetischen Risiko zur Welt, ebenfalls eine solche Erkrankung zu entwickeln.« Zugleich können aber auch Erlebnisse der Vernachlässigung und eine schwierige Eltern-Kind-Beziehung zum Problem beitragen. »Insbesondere wenn das erkrankte Elternteil nicht in Behandlung ist, kann neben der Genetik die frühe traumatische Beziehungserfahrung eine Rolle spielen«, so Brakemeier. »Das Kind ist genetisch vorbelastet und wächst obendrein in einer Umwelt auf, in der es vielleicht emotional vernachlässigt oder missbraucht wird.« Tritt schließlich eine bipolare Störung auf, ist kaum zu bestimmen, ob dies nun überwiegend durch die Gene oder die Umwelt bedingt ist – das Wechselspiel aus beiden ist unentwirrbar.

Als wichtiger Faktor kristallisierte sich in den letzten Jahren die »soziale Ansteckung« (englisch: social contagion) heraus. Gefühle, Verhaltensweisen, Gedanken oder Meinungen können sich unter Menschen ausbreiten. Hierbei werden Einstellungen, Emotionen oder Handlungen oft ohne rationale Überlegung von einem Mitglied einer Gruppe auf andere übertragen. Ein Großteil solcher Prozesse, etwa Moden, Trends und Rituale, sind nicht gefährlich. Doch wenn die Ansteckung dazu führt, dass Individuen verletzt oder geschädigt werden, etwa weil sich Gewalt oder Selbstverletzungen verbreiten, wird es zu einem Thema für die öffentliche Gesundheit. »Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidabsichten sind besonders sozial ansteckend, und ihre Ausbreitung etwa über Onlinemedien ist ein ernstes Problem«, sagt Brakemeier.

Tanzwütige Massen

Erstmals formuliert hat die zu Grunde liegenden Idee Gustave Le Bon in seiner »Psychologie der Massen« von 1895. Darin beschrieb der französische Gelehrte, wie sich in großen Menschenmengen das rationale Denken und Handeln des Einzelnen auflösen und impulsiven Verhaltensweisen weichen kann, die durch die Gruppe bestimmt werden. Le Bon stellte den Mechanismus dar, sprach aber selbst noch nicht von »sozialer Ansteckung«.

Dieser Ausdruck tauchte zuerst in den Arbeiten des US-amerikanischen Soziologen Herbert Blumer auf. In einem Fachartikel beschrieb er das im 14. und 15. Jahrhundert beobachtete Phänomen der Tanzwut – auch »Tanzkrankheit« oder »Tanzsucht« genannt. Dabei begannen, meist in Zeiten großer Not, Gruppen von Menschen hemmungslos und wild durcheinanderzutanzen, oft bis zur völligen Erschöpfung. Es gab Berichte über Ausbrüche von Tanzwut, bei denen Tausende stunden-, tage- oder wochenlang getanzt haben sollen. Blumer wertete das als eindrückliches Beispiel sozialer Ansteckung.

Hilfe auf Abruf

Wenn Sie Hilfe benötigen, wenn Sie verzweifelt sind oder Ihnen Ihre Situation ausweglos erscheint, dann wenden Sie sich bitte an Menschen, die dafür ausgebildet sind. Dazu zählen zum Beispiel Ihr Hausarzt, Psychotherapeuten und Psychiater, die Notfallambulanzen von Kliniken und die Telefonseelsorge.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei unter den Nummern: 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat.

Kinder und Jugendliche bekommen bei der »Nummer gegen Kummer« anonym und kostenfrei Hilfe und Unterstützung bei kleinen und großen Problemen des Lebens: 116111, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr.

Jahrzehntelang fristete die Idee der sozialen Ansteckung in der Wissenschaft ein Schattendasein. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich die Forschung auf keinen Mechanismus einigen konnte, auf den dies zurückzuführen war. Das änderte sich in den 1990er Jahren mit einem Review der beiden US-amerikanischen Psychologen David Levy und Paul Nail. Sie kamen zu der Auffassung, dass die Phänomene der Ansteckung äußerst heterogen sind, und schlugen daher eine Neuordnung vor. Von sozialer Ansteckung solle man nur sprechen, wenn sich ein Affekt, eine Einstellung oder ein Verhalten von Person A auf B übertrage, ohne dass eine absichtliche Beeinflussung vorliege.

Drei Subtypen der Ansteckung

Darüber hinaus benannten die beiden Psychologen drei Subtypen: die enthemmende Ansteckung, wenn Menschen sich etwas zu tun trauen, das andere ihnen vormachten; die Echo-Ansteckung, wobei Menschen Affekte oder Verhalten von anderen kopieren; und schließlich die hysterische Ansteckung, bei der körperliche Symptome weitergegeben werden – etwa Atemnot, Schwindel, Nervosität, Sehprobleme oder Muskelschwäche.

Heute unterteilen Psychologen die soziale Ansteckung meist ebenfalls in drei Gruppen, jedoch andere als Levy und Nail. Der Fokus liegt eher auf dem, was kopiert wird. So gibt es die emotionale, kognitive sowie die Verhaltensansteckung. Und sie alle können beteiligt sein, wenn sich eine schlechte mentale Verfassung auf Mitmenschen überträgt.

Die Idee der sozialen Ansteckung fristete lange ein Schattendasein

Den größten Einfluss dürften hierbei Emotionen ausüben. In einer Studie von 1995 präsentieren die Psychologen Lars-Olov Lundqvist und Ulf Dimberg 56 Probanden verschiedene Bilder von traurig, wütend, ängstlich, überrascht, angeekelt oder fröhlich blickenden Gesichtern; auch ein paar neutrale waren darunter. Nachdem die Versuchspersonen einen solchen emotionalen Ausdruck mehrere Sekunden lang betrachtet hatten, sollten sie unter anderem angeben, wie sie sich selbst gerade fühlten. Die Reihenfolge der Bilder wurde so lange durchgewechselt, bis jede Emotion von jeder Person genauer betrachtet worden war. Zusätzlich maßen Lundqvist und Dimberg die mimischen Reaktionen per Elektromyografie (EMG) – über Elektroden, die die Aktivität der Gesichtsmuskeln registrierten.

Wie sich zeigte, erlebten die Versuchspersonen die auf den Bildern dargestellten Gefühle zu gewissem Grad selbst und imitierten sie auch mimisch. Emotionale Ansteckung wurde seither in vielen Studien und Kontexten beobachtet. Zeigen Dienstleistende gute Laune, überträgt sich das auf die Kunden. Führungskräfte können mit negativen oder positiven Äußerungen die Stimmung ihrer Untergebenen beeinflussen. Gleiches gilt für die Äußerungen von Trainern im Sport gegenüber ihren Spielerinnen und Spielern.

Neben den Emotionen haben sich Überzeugungen, Ideen, Informationen, Haltungen oder Gedanken als übertragbar erwiesen. Egal ob wir Nachrichten hören, Verschwörungstheorien oder Fake News auf Social Media lesen oder mit den Nachbarn über die Kommunalpolitik reden, die kognitive Ansteckung führt oft dazu, dass sich Urteile und Meinungen einander angleichen.

Fluch der Korumination

Auch »Korumination« fällt in diese Kategorie. Dabei reden zwei Menschen immer wieder über dieselben Probleme, spekulieren über mögliche katastrophale Folgen und Befürchtungen, der Fokus liegt dabei stets auf dem Schlechten. In einer Studie der US-amerikanischen Psychologinnen Rebecca Schwartz-Mette und Amanda Rose von 2012 erwies sich dieses gemeinsame Problemwälzen als ein wichtiger Treiber dafür, dass sich Ängste oder Depressivität unter Teenagern mit der Zeit ausbreiten.

Und schließlich kann sich neben Emotionen und Kognitionen ganz konkretes Verhalten übertragen. Man kennt das, wenn zum Beispiel auf einem Konzert alle zu hüpfen beginnen oder man beim Sprechen plötzlich den Akzent seines Gegenübers imitiert. Mittels solcher »Mimikry«, bei der Menschen die Gesten oder Handlungen anderer unbewusst nachahmen wie etwa Gähnen oder sich Kratzen, können sich im Rückschluss auch körperliche Symptome wie Müdigkeit oder Jucken einstellen.

Die Verhaltensansteckung spielt zum Beispiel bei Zwangsstörungen eine Rolle. Laut Studien kopieren Familienmitglieder von Betroffenen deren Zwangsverhalten oft, indem sie es selbst ausführen oder bestimmte Angst auslösende Situationen oder Orte meiden. Dies wirkt sich wiederum negativ auf die Betroffenen aus, die sich in ihren Zwängen bestätigt sehen. Zudem entwickeln nicht selten Angehörige ähnliche, allerdings oft nur leichte Symptome der Störung.

Dass in der Familie die Beeinflussungswahrscheinlichkeit besonders hoch ist, liegt auf der Hand. Schließlich verbringen Familienmitglieder viel Zeit miteinander und haben oft ähnliche Gewohnheiten, Hobbys und Interessen. Doch die Beeinflussung der Psyche reicht noch weit über die Familie hinaus.

»Psychische Erkrankungen treten zu bestimmten Zeiten oder an bestimmten Orten gehäuft auf. Daran sind verschiedene soziale Netzwerke beteiligt, etwa mit Angehörigen, Nachbarn oder Mitschülern«, sagt Julia Kensbock, Professorin für Management und Organisation in einer digitalisierten Gesellschaft an der Universität Bremen. In einer Studie aus dem Jahr 2021 untersuchte sie gemeinsam mit Kollegen, wie sich Depression, Angstzustände und Stress in Unternehmen verbreiten, nachdem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Arbeitsplatz wechseln. Dazu werteten sie die Daten von über 250 000 Angestellten und mehr als 17 000 dänischen Unternehmen über einen Zeitraum von zwölf Jahren aus.

»Die Unternehmen unterschieden sich stark in der Prävalenz für psychische Erkrankungen«, so die Forscherin. Offenbar herrscht in manchen Firmen eine besonders ungesunde Unternehmenskultur oder die Arbeitsbedingungen sind dort schwierig. »Die Arbeitsbelastung kann für die Entstehung oder die Verschlimmerung von psychischen Erkrankungen eine Rolle spielen«, sagt Kensbock.

Eine Virusinfektion kann man rasch auskurieren – psychische Erkrankungen meist nicht

Doch auch die Ansteckung mit psychischen Symptomen könnte Teil der Erklärung sein, wie die Daten zeigen. »Wenn Mitarbeitende ein ungesundes Unternehmen verlassen und in ein neues wechseln, fungieren sie mitunter als ›Träger‹ psychischer Erkrankungen«, meint Kensbock. »Der Effekt ist besonders stark ausgeprägt, wenn die Neuankömmlinge eine leitende Position innehaben.«

Bleibt die Frage, was aus solchen Befunden folgt. Bei einer Virusinfektion würde man Erkrankte sich ein, zwei Wochen auskurieren lassen und den Kontakt aussetzen, bis die Symptome verschwunden sind. Das funktioniert bei psychischen Erkrankungen meist nicht.

Sich fernhalten ist der falsche Schluss

»Psychische Erkrankungen sind multikausal«, sagt Kensbock. In aller Regel gibt es nicht den einen Grund, warum jemand eine Problematik entwickelt. Es ist nun nicht so, dass eine kerngesunde Person plötzlich erkrankt, wenn sie auf jemanden mit einer Depression treffe. »Es wäre ein falscher Schluss, keine Menschen mit psychischen Erkrankungen mehr einzustellen. Zumal sogar Leute, die selbst keine Probleme haben, als ›Überträger‹ wirken können. Vermutlich, weil sie eine Arbeitsweise oder schädliche Kultur mitbringen, die sich negativ auf die neuen Kollegen ausprägt.«

Wichtiger sei für Unternehmen ein generell guter Umgang mit Erkrankungen von Mitarbeitenden. »Das geht nur, indem Unternehmen ein Umfeld schaffen, das psychische Gesundheit fördert. Eine Kultur der Offenheit und Akzeptanz gehört dazu«, so Kensbock. »Arbeitgeber spielen eine große Rolle und haben eine Verantwortung für ihre Angestellten.«

»Wenn man selbst relativ stabil ist, sollte man aktiv auf Menschen mit psychischen Problemen zugehen«

Auch Eva-Lotta Brakemeier warnt davor, Menschen mit psychischen Erkrankungen aus Angst vor Ansteckung zu meiden. »Wenn man selbst relativ stabil ist, sollte man aktiv auf Menschen mit psychischen Problemen zugehen, sich nach ihrem Befinden erkundigen, zuhören und einfach präsent sein«, sagt Brakemeier. Denn den meisten Betroffenen helfe es, über ihre Probleme zu sprechen oder schlicht Gesellschaft zu haben.

Gleichzeitig betont sie die Bedeutung der Selbstfürsorge. »Wenn man bemerkt, dass der Kontakt zu Betroffenen einen persönlich belastet und man die negativen Gefühle mit nach Hause nimmt und ebenfalls traurig wird, sollte man sich gegebenenfalls zurückziehen.« Sind die eigenen Ressourcen wieder gestärkt, kann man dann erneut den Kontakt suchen. Wichtig sei, so Brakemeier, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Unterstützung einerseits und Selbstfürsorge andererseits.

Insbesondere bei den Konsequenzen, die sich aus der Forschung ableiten lassen, hinkt der Vergleich mit Infektionen also deutlich. Ja, die psychische Erkrankung des einen kann die Verfassung der anderen beeinflussen. So unmittelbar wie die Krankheitsübertragung per Virus funktioniert das aber nicht.

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  • Quellen

Christakis, N. A., Fowler, J. H.: Social contagion theory: examining dynamic social networks and human behavior. Statistics in Medicine 32, 2012

Horesh D. et al.: The contagion of psychopathology across different psychiatric disorders: A comparative theoretical analysis. Brain Science 12, 2021

Kensbrock, J. M. et al.: The Epidemic of Mental Disorders in Business—How Depression, Anxiety, and Stress Spread across Organizations through Employee Mobility. Administrative Science Quarterly 67, 2021

Kleef, Gerben A. van & Coté, S.: The social effects of emotions. Annual Review of Psychology 73, 2022

Schwartz-Mette, R., Rose, A.: Co-rumination mediates contagion of internalizing symptoms within youths' friendships. Developmental Psychology 48, 2012

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