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Sinngefühl: Offen für die schönen Momente

Sinn im Leben kann sich aus verschiedenen Quellen speisen, zum Beispiel Familie, Beruf und Engagement. Aber das Leben erscheint auch dann sinnhafter, wenn wir seine Schönheit zu schätzen wissen.
Junge Frau mit Hut blickt über eine in rotes Licht getauchte Landschaft
Wer die Schönheit der Natur bewundert, weiß auch das eigene Leben mehr zu schätzen. (Symbolbild)

Viele Wissenschaftler sind sich einig, dass das subjektive Gefühl von Sinn im Leben auf drei Beinen steht: das eigene Leben als stimmig (»coherent«) zu empfinden; eine klare Richtung und Ziele (»purpose«) zu haben und es als wertvoll und bedeutsam (»significant«) zu erleben. Psychologen nennen diese drei Aspekte Kohärenz, Richtung und Bedeutung.

Wir glauben jedoch, dass das subjektive Sinnerleben noch mehr beinhaltet. Denken Sie an den ersten Schmetterling im Frühling oder an den weiten Blick bei einer Wanderung in den Bergen – an all die kleinen Augenblicke, in denen das Leben einfach schön ist. Wenn Menschen offen für solche Erfahrungen sind, können diese Momente das Leben schöner machen. Wir sprechen dabei von »Wertschätzung für Erfahrungen«: der Fähigkeit, sich für einen Augenblick mit dem Leben verbunden zu fühlen, die ihm innewohnende Schönheit zu erfahren und zu schätzen.

Diese Form der Wertschätzung haben wir in einer Reihe von Studien mit mehr als 3000 Versuchspersonen untersucht und in »Nature Human Behaviour« darüber berichtet. Uns interessierte, ob die Wertschätzung auch dann noch mit dem Sinnerleben zusammenhängt, wenn wir die drei Aspekte Kohärenz, Richtung und Bedeutung kontrollieren, also statistisch konstant halten. Denn in diesem Fall wäre die Wertschätzung für Erfahrungen nicht nur ein Produkt oder ein Teil von ihnen, sondern würde als eigener Faktor zum Sinnerleben beitragen.

Zunächst fragten wir unsere Probandinnen und Probanden zu Beginn der Covid-Pandemie nach ihren Strategien im Umgang mit Stress. Wir fanden heraus, dass diejenigen, die sich bei Stress auf die Schönheit des Lebens konzentrierten, das Leben auch als sehr sinnhaft empfanden.

Sinn und Schönheit des Lebens sind eng verbunden

In einer anderen Studie gaben die Versuchspersonen an, inwieweit sie verschiedenen Aussagen zustimmten, zum Beispiel »Ich schätze die Schönheit des Lebens« und »Ich schätze eine große Vielfalt an Erfahrungen« sowie anderen Aussagen, die sich auf Kohärenz, Richtung, Bedeutung und den allgemeinen Sinn im Leben bezogen. Die Befragten empfanden ihre Existenz als umso sinnhafter, je mehr sie die Schönheit und Vielfalt des Lebens schätzten. Beides stand auch dann noch in enger Beziehung, wenn andere Aspekte eines sinnvollen Lebens keine Rolle spielten, weil wir sie mit statistischen Methoden konstant hielten. In weiteren Studien fanden wir heraus, dass das bedeutungsvollste Ereignis der vorausgegangenen Woche in der Regel auch der am meisten geschätzte Augenblick der Woche war.

Schließlich spielten wir Versuchspersonen verschiedene Filme vor: entweder neutrale Lehrvideos zum Beispiel über Holzhandwerk oder aber beeindruckende Szenen aus der BBC-Dokumentation »Planet Earth«. Wer die Ehrfurcht weckenden Naturbilder gesehen hatte, berichtete danach sowohl von mehr Wertschätzung für Erfahrungen als auch von mehr Sinnerleben. In einem anderen Experiment sollten Probandinnen und Probandinnen über eine kürzlich gemachte Erfahrung schreiben, für die sie dankbar waren. Daraufhin berichteten sie von mehr Sinnerleben und mehr Wertschätzung für Erfahrungen als jene, die über einen Besuch an einem gewöhnlichen Ort schreiben sollten.

Die Ergebnisse bestätigten unsere Theorie: Die kleinen Dinge im Leben zu schätzen, kann dem Leben mehr Sinn geben. Doch es ist nicht immer einfach, diese Erkenntnis zu nutzen. Im Alltag sind wir immer auf dem Sprung. Wir haben ständig etwas zu tun, wollen bei der Arbeit das Beste geben, die Freizeit nutzen und für die Zukunft planen. Dabei übersehen wir die Schönheit des Augenblicks. Das Leben spielt sich in der Gegenwart ab. Wir sollten das Tempo drosseln, uns vom Leben überraschen lassen und das Alltägliche schätzen lernen. Der ehemalige indische Premierminister Jawaharlal Nehru, ein Weggefährte von Mahatma Gandhi, schrieb 1950: »Wir leben in einer wunderbaren Welt. Wir können endlos viele Abenteuer erleben, wenn wir sie nur mit offenen Augen suchen.«

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