Moralpsychologie: Sittsam aus Affekt
Theorien über moralisches Handeln sind längst nicht mehr allein das Metier der Philosophen. Auch Neurobiologen, Psychologen und Anthropologen haben sich - mit empirischen Methoden - der Lehre des guten und gerechten Lebens angenommen. Sie kommen zu Ergebnissen, die manche lieb gewonnene Ansicht in Frage stellen.
Wir alle kennen aus spitzfindigen Diskussionen oder alten Schultagen diese Situationsbeispiele äußerst bedrohlicher Art, die gerne in Einzelheiten ausgemalt werden, um anschließend zu fragen: "Und wie würdest du dich hier verhalten?" Meist haben die Gefragten sofort ein ganz bestimmtes Gefühl zu der geschilderten Situation: Intuitiven Horror bei der Frage, ob man unter bestimmten Umständen das eigene Kind verletzen würde, oder ein eindeutiges Wohlgefühl bei der Vorstellung, es einem unfairen Spieler einmal so richtig heimzuzahlen. Ist Moral also nur ein affektives Gefühl? Die Lehre vom Guten und Richtigen eine Sammlung simpler emotionaler Präferenzen?
Ist Moral ein Affekt?
Doch so neu ist die Idee des "moralischen Gefühls" nicht. Schon 1759 veröffentlichte der Philosoph Adam Smith eine Theorie dieser Emotion, die es dem Menschen ermögliche, füreinander Sympathien zu entwickeln. Dennoch gab es seither keine Einigung darüber, wie moralisches Gefühl und moralische Reflexion zusammenpassen könnten. Es blieb bei der stets unbeantwortbaren Frage nach dem Huhn und dem Ei: Was war zuerst da? Die Evolutionstheoretiker indes haben bereits eine Antwort gefunden: In der menschlichen Entwicklung muss die Emotion lange vor der Sprache entstanden sein, entsprechend hatte auch das moralische Gefühl als erstes die verantwortungsvolle Aufgabe, die Mitglieder eines Sippenverbandes davon abzuhalten, sich gegenseitig totzuschlagen oder zu übervorteilen. Gemeinsam lebte es sich in der gefährlichen Vorzeit einfach besser.
Auch heute noch scheint moralische Reflexion allein wenig ausrichten zu können, wenn der Einzelne nicht auch das passende Gefühl hierzu empfindet. So zeigten Studien mit hirngeschädigten Patienten, deren Emotionalität durch die Verletzungen verringert war, dass sie trotz eines intakten Rechtsbewusstseins nicht in der Lage waren, übliche moralische Urteile zu fällen. Ohne ein moralisches Empfinden war für sie die Ethik eine bloße Theorie des Abwägens.
Dennoch ist das Gefühl nicht immer ausschlaggebend. Bei sehr komplexen moralischen Problemen entscheiden sich Menschen häufig gegen die erste Intuition – etwa wenn sie sich fragen, ob sie ihr eigenes Kind ersticken würden, um so in einer Kriegssituation zu vermeiden, dass das Schreien des Babys die ganze Gruppe in Gefahr bringt. Neurologische Studien zeigten, dass Menschen, die sich hier für den Tod ihres Kindes entschieden, signifikante Hirnaktivitäten in ihrem präfrontalen Kortex aufwiesen, sie also die erste emotionale Reaktion mühsam überdachten und sich dann umentschieden.
Reflexion als übergeordnete Instanz
Das moralische Gefühl also leitet, aber es bestimmt nicht unbedingt, wie wir handeln. Warum aber, fragen sich die Evolutionsbiologen sogleich, hat Mutter Natur sich eine solche Fangschaltung ausgedacht? Was soll bezweckt werden, wenn wir moralische Intuitionen noch einmal korrigieren? Rationalisten würden nun vermutlich erklären, die Reflexion solle es uns ermöglichen, die ethische Wahrheit zu erkennen und uns dann nach den entsprechenden Prinzipien zu richten. Doch auch hier verpassen moderne Psychologen dem Idealismus schnell einen Dämpfer. Pragmatisch gesehen denken wir nämlich nicht, um nach Wahrheit zu streben, sondern um uns in einer komplexen Umwelt angemessen zu verhalten. Moralisches Räsonieren wäre demnach eher dazu da, sich abzusichern, dass das nun gewählte Verhalten auch gesellschaftlich akzeptiert würde.
Moral als Disziplinierungswerkzeug in großen Staaten?
Doch was passiert, wenn aus kleinen Sippschaften ganze Staaten werden? Verlieren dann nicht sowohl moralisches Gefühl als auch moralische Reflexion massiv an Bedeutung? Hier kommt nach Ansicht von Jonathan Haidt der Respekt vor bestehenden Autoritäten ins Spiel. Auch hier könnte es ein affektives Gefühl geben, das uns dazu anleitet, Autoritäten zu gehorchen. Doch die Rolle von Staat und Religion für die Aufrechterhaltung des Moralgefühls wurde bislang nur wenig erforscht, bemängelt Haidt. Moral bestehe aber nicht allein aus Selbstinteresse und Fairness-Gefühlen, sondern auch aus Respekt, einem Gefühl von Heiligkeit oder Ehrfurcht. Auch diese Empfindungen tragen möglicherweise zu einem stabilisierenden Moralsystem bei. Wie genau, ist indes noch ungeklärt.
"Affektive Reaktion lenken, aber sie sind nicht absolut zwingend"
(Jonathan Haidt)
Moderne Moralpsychologie legt solche Vermutungen nahe, erläutert der Psychologe Jonathan Haidt von der Universität von Virginia in einem Überblick wichtiger Forschungsergebnisse. Seit den 1980er Jahren wird der Rolle der Gefühle bei moralischen Entscheidungen zunehmend Bedeutung beigemessen. Zahlreiche Studien belegen, dass Probanden sich in besagten "Was wäre, wenn"-Spielen auffallend häufig auf ihr erstes Empfinden verlassen – ohne immer erklären zu können, warum diese Entscheidung moralisch richtig sein sollte. Für Philosophen der rationalistischen Schule sind solche Ergebnisse natürlich ein Schlag ins Gesicht. Sie gehen davon aus, dass wir allein durch inniges Nachdenken auf festgelegte moralische Prinzipien stoßen, nach denen wir uns dann auch zu richten haben. (Jonathan Haidt)
Ist Moral ein Affekt?
Doch so neu ist die Idee des "moralischen Gefühls" nicht. Schon 1759 veröffentlichte der Philosoph Adam Smith eine Theorie dieser Emotion, die es dem Menschen ermögliche, füreinander Sympathien zu entwickeln. Dennoch gab es seither keine Einigung darüber, wie moralisches Gefühl und moralische Reflexion zusammenpassen könnten. Es blieb bei der stets unbeantwortbaren Frage nach dem Huhn und dem Ei: Was war zuerst da? Die Evolutionstheoretiker indes haben bereits eine Antwort gefunden: In der menschlichen Entwicklung muss die Emotion lange vor der Sprache entstanden sein, entsprechend hatte auch das moralische Gefühl als erstes die verantwortungsvolle Aufgabe, die Mitglieder eines Sippenverbandes davon abzuhalten, sich gegenseitig totzuschlagen oder zu übervorteilen. Gemeinsam lebte es sich in der gefährlichen Vorzeit einfach besser.
Auch heute noch scheint moralische Reflexion allein wenig ausrichten zu können, wenn der Einzelne nicht auch das passende Gefühl hierzu empfindet. So zeigten Studien mit hirngeschädigten Patienten, deren Emotionalität durch die Verletzungen verringert war, dass sie trotz eines intakten Rechtsbewusstseins nicht in der Lage waren, übliche moralische Urteile zu fällen. Ohne ein moralisches Empfinden war für sie die Ethik eine bloße Theorie des Abwägens.
Dennoch ist das Gefühl nicht immer ausschlaggebend. Bei sehr komplexen moralischen Problemen entscheiden sich Menschen häufig gegen die erste Intuition – etwa wenn sie sich fragen, ob sie ihr eigenes Kind ersticken würden, um so in einer Kriegssituation zu vermeiden, dass das Schreien des Babys die ganze Gruppe in Gefahr bringt. Neurologische Studien zeigten, dass Menschen, die sich hier für den Tod ihres Kindes entschieden, signifikante Hirnaktivitäten in ihrem präfrontalen Kortex aufwiesen, sie also die erste emotionale Reaktion mühsam überdachten und sich dann umentschieden.
Reflexion als übergeordnete Instanz
Das moralische Gefühl also leitet, aber es bestimmt nicht unbedingt, wie wir handeln. Warum aber, fragen sich die Evolutionsbiologen sogleich, hat Mutter Natur sich eine solche Fangschaltung ausgedacht? Was soll bezweckt werden, wenn wir moralische Intuitionen noch einmal korrigieren? Rationalisten würden nun vermutlich erklären, die Reflexion solle es uns ermöglichen, die ethische Wahrheit zu erkennen und uns dann nach den entsprechenden Prinzipien zu richten. Doch auch hier verpassen moderne Psychologen dem Idealismus schnell einen Dämpfer. Pragmatisch gesehen denken wir nämlich nicht, um nach Wahrheit zu streben, sondern um uns in einer komplexen Umwelt angemessen zu verhalten. Moralisches Räsonieren wäre demnach eher dazu da, sich abzusichern, dass das nun gewählte Verhalten auch gesellschaftlich akzeptiert würde.
"Wenn wir moralisch reflektieren, nutzen wir eine relativ neue kognitive Maschinerie, die durch den adaptiven Druck eines Lebens in einer Reputations-süchtigen Gesellschaft geformt wurde"
(Jonathan Haidt)
Statt hehrer Wahrheitssuche dient moralische Reflexion also schnödem Anpassungsverhalten? Aus anthropologischer Sicht macht dies Sinn. Moral diente demnach immer der Schaffung einer Zugehörigkeit in einer bestimmten bestehenden Gruppe, in der eben eine Hand die andere wäscht. So ließe sich auch eines der größten Rätsel menschlichen Verhaltens leicht erklären – der Altruismus. Denn die aufopfernde Unterstützung macht aus evolutionärer Sicht nur dann einen Sinn, wenn auch der Helfer langfristig etwas davon hat. Auch ein guter Samariter, der einem Wildfremden hilft, kann so wissenschaftlich erklärt werden: Die gute Tat spricht sich herum und wertet indirekt den Ruf des Samariters auf. Das schafft innerhalb der eigenen Gruppe wiederum Vertrauen und stärkt die Bande für zukünftige Kooperation. (Jonathan Haidt)
Moral als Disziplinierungswerkzeug in großen Staaten?
Doch was passiert, wenn aus kleinen Sippschaften ganze Staaten werden? Verlieren dann nicht sowohl moralisches Gefühl als auch moralische Reflexion massiv an Bedeutung? Hier kommt nach Ansicht von Jonathan Haidt der Respekt vor bestehenden Autoritäten ins Spiel. Auch hier könnte es ein affektives Gefühl geben, das uns dazu anleitet, Autoritäten zu gehorchen. Doch die Rolle von Staat und Religion für die Aufrechterhaltung des Moralgefühls wurde bislang nur wenig erforscht, bemängelt Haidt. Moral bestehe aber nicht allein aus Selbstinteresse und Fairness-Gefühlen, sondern auch aus Respekt, einem Gefühl von Heiligkeit oder Ehrfurcht. Auch diese Empfindungen tragen möglicherweise zu einem stabilisierenden Moralsystem bei. Wie genau, ist indes noch ungeklärt.
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