Höhlenkunst: So sieht die älteste bekannte Bildgeschichte der Welt aus
Wollnashörner, Wisente und Bisons zieren seit 30 000 Jahren Höhlenwände in Frankreich. Noch älter, zirka 40 000 Jahre, sind Figuren aus Mammutelfenbein, wie die Venus vom Hohlefels und die anderen Tierfigürchen von der Schwäbischen Alb. Aus gutem Grund galt Europa lange Zeit als Wiege der Eiszeitkunst und des symbolischen Denkens. Doch diese große These ist ins Wanken geraten. Denn Archäologen haben am anderen Ende der Welt, in Südostasien, ebenfalls Höhlenbilder aus den Händen eiszeitlicher Jäger und Sammler gefunden. Und diese sind mit über 40 000 Jahren nicht nur älter als die Zeichnungen und Statuetten aus Europa – sie erzählen zudem Geschichten von Wesen, halb Mensch, halb Tier, die Jagd auf Wildtiere machen. Das macht sie zum ersten bekannten Zeugnis für eine bildliche Erzählung, die von fiktiven Wesen handelt.
Für eine neue Sicht auf die Entstehung der Kunst ist Maxime Aubert verantwortlich. Der Archäologe und seine Arbeitsgruppe von der Griffith University in Australien hatten erstmals 2014 Höhlenmalereien von der indonesischen Insel Sulawesi vorgestellt: das Bild eines rot gefassten Hirschebers, ungefähr 35 000 Jahre alt, und mehrere Konturbilder von Händen; das älteste davon entstand vor 40 000 Jahren. Dann, 2018, berichtete Aubert von Malereien auf der Nachbarinsel Borneo. In einer Karsthöhle entdeckte er das rötlich-orangene Bild eines Wildtiers. Das Alter: mindestens 40 000 Jahre. Auf Borneo dokumentierten Aubert und sein Team auch Handkonturen, eine davon könnte sogar 52 000 Jahre alt sein.
Die Datierungen beruhen auf Messungen mit der Uran-Thorium-Methode. Die Forscher bestimmen dafür das Mengenverhältnis von Uran und dessen Zerfallsprodukten in Kalkschichten, die sich im Lauf der Zeit über den Darstellungen ablagerten. Aus dem Alter der Kalkschichten leiten sie dann das Mindestalter der Malereien ab.
Zwei Wildschweine, vier Zwergbüffel, acht Mischwesen
Das Jagdbild, über das Aubert und seine Kollegen jetzt im Fachblatt »Nature« berichten, ziert eine viereinhalb Meter breite Felswand in einer Kalksteinhöhle, Leang Bulu' Sipong 4 im Süden der Insel Sulawesi. In roten Tönen sind acht menschenähnliche Figuren dargestellt, die mit Speeren und Seilen sechs Wildtieren nachstellen. Aubert und sein Team deuten die Tiere als zwei Wildschweine und vier Zwergbüffel. Dass die Figuren tatsächlich eine Bildszene ergeben, schließen die Forscher aus dem Stil, der Maltechnik und dem Erhaltungszustand. Alle Figuren sind mit derselben roten Pigmentfarbe gemalt worden, gleichen sich in der Machart und sind ähnlich stark verwittert.
Für die Forscher liegt das Besondere der Bildszene im Detail. So sind die Tiere sehr viel größer als die menschlichen Figuren dargestellt, obwohl Wildschweine und Zwergbüffel laut Aubert vermutlich nicht größer als einen Meter waren. Das ist umso auffälliger, weil die menschenähnlichen Figuren selbst keine menschlichen Gesichter haben, sondern Schnauzen und Schnäbel. Vom Steiß einer Figur scheint auch ein Tierschwanz herabzuhängen. Aubert deutet die Figuren als Mischwesen, halb Mensch, halb Tier. »Die offensichtliche Darstellung von Mensch-Tier-Wesen könnte bedeuten, dass sich einige oder alle Elemente dieses Bilds nicht auf menschliche Erfahrungen in der realen Welt beziehen«, schreiben die Forscher in »Nature«. Dafür spräche auch das Größenverhältnis zwischen den sehr viel größeren Tieren und den winzigen Mischwesen.
Mischwesen dieser Art sind auch aus der europäischen Höhlenkunst bekannt. Vielleicht am berühmtesten ist die fast 30 Zentimeter große Figur eines Löwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel auf der Schwäbischen Alb. Die Statuette zeigt eine aufrecht stehende Raubkatze, sie dürfte ungefähr 40 000 Jahre alt sein.
Was solche Bilder bedeuten, ist bis heute ungeklärt. Die häufigste Hypothese lautet: Es sind Darstellungen von Schamanen, die Tiermasken tragen und Felle umgelegt haben. In diesem Zusammenhang vermuten Archäologen auch, dass gar nicht die Realität abgebildet wurde, sondern das, was die Steinzeit-Schamanen in ihrer Trance wahrgenommen haben. Manche Forscher gehen hingegen davon aus, dass sich die Bilder auf eine Art Geisterwelt beziehen – es seien Darstellungen der Ahnen. Egal, welche These letztlich auf die Vorstellungen der Menschen vor über 40 000 Jahren zutrifft, die Bilder aus der Höhle auf Sulawesi belegen eine bedeutende Stufe in der Evolutionsgeschichte des Menschen, wie Aubert und seine Kollegen betonen: »Obwohl die Bedeutung des Bildes unsicher ist und es vermutlich auch so bleiben wird, darf dieses Felsbild nicht nur als die früheste figürliche Kunst der Welt angesehen werden, sondern auch als ältester Beleg für die Vermittlung narrativer paläolithischer Kunst.«
Nicht Europa, sondern Südostasien?
Die Jagdszene aus der Höhle Leang Bulu' Sipong 4 dürfte endgültig die Perspektive ändern, wo und wann Homo sapiens begann, Kunstwerke zu schaffen und damit Geschichten zu erzählen. Aubert und seine Arbeitsgruppe meinen jedenfalls: »Die ersten Anzeichen von einer Art religiösem Denken – also die Fähigkeit sich nicht-reale Wesen vorzustellen – kommen nicht aus Europa, wie lange angenommen, sondern aus Sulawesi in einer Zeit von vor 43 900 Jahren.«
Auberts Forschungen legen das Augenmerk auf Südostasien. Weitere Untersuchungen werden zeigen, ob sich die These erhärten lässt. Es spricht aber Vieles dafür, dass sich die Menschen vor über 40 000 Jahren aufs Kunstschaffen einließen. Und womöglich kamen sie nicht nur an einem, sondern an mehreren Orten der Welt auf diese Idee. Für die Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht trifft dies jedenfalls zu.
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