Soghomon Tehlirian: Freispruch für den Rächer
Kein Zweifel, das war er. Es war zwar mittlerweile zwölf Wochen her, dass Nikolaus Jessen ihm begegnet war. Doch so ein Zusammentreffen prägt sich ein. Jessen war vormittags gegen elf auf der Berliner Hardenbergstraße in Richtung Bahnhof Zoo unterwegs gewesen. Hinter einem Herrn, der einen noblen grauen Wintermantel trug.
»Er ging langsamen Spazierschrittes. Mit einem Mal kam dieser Herr hier, der Angeklagte, in raschen Schritten an mir vorbei. Griff in die Tasche.« In welche? »So genau weiß ich es nicht. (…) Jedenfalls war es eine Pistole. Er nahm sie heraus und schoss aus unmittelbarer Nähe den Herrn in den Hinterkopf, der in dem gleichen Moment nach vorn zu Boden fiel. Die Schädeldecke klappte auf. Der Angeklagte warf den Revolver hin und suchte zu flüchten.« Jessen setzte ihm nach und holte ihn an der Ecke zur Fasanenstraße ein. »Ich Armenier. Der Türke – kein Schaden für Deutschland«, habe der Täter gestammelt.
Es hätte der Aussage des Zeugen Jessen nicht bedurft, um den Angeklagten zu überführen. Er war geständig. Soghomon Tehlirian hatte am 15. März 1921 in Berlin am helllichten Tag einen Mann erschossen, einen ehemals führenden Politiker des Osmanischen Reichs, den langjährigen Innenminister, späteren Regierungschef Mehmed Talât Pascha (1874–1921). Als Motiv hatte er angegeben, einen Völkermörder bestrafen zu müssen. »Ich habe einen Menschen getötet«, sagte er dem Gericht, das am 2. Juni 1921 den Prozess gegen ihn eröffnete, »aber ein Mörder bin ich nicht gewesen.« Dieser Bewertung schlossen sich nach zwei Verhandlungstagen die Geschworenen an. Tehlirian verließ den Gerichtssaal als freier Mann, unter dem Applaus des Publikums.
Tehlirians Bericht vom Völkermord an den Armeniern
Er war nach eigenen Angaben 24 Jahre alt, geboren am 2. April 1897 in einem Dorf im Nordosten Anatoliens, aufgewachsen mit fünf Geschwistern in der unweit gelegenen Stadt Erzincan. Der Vater sei ein wohlhabender armenischer Kaufmann gewesen, das Familienleben indes überschattet von dem Wissen, einer an Leib und Leben bedrohten Minderheit anzugehören: »Wir hatten stets Angst, dass Massaker stattfinden würden.«
Die Befürchtung sollte sich im Mai 1915 bewahrheiten. Der Ausweisungsbefehl habe zunächst Angehörige der armenischen Oberschicht von Erzincan getroffen: »Man erfuhr dann durch eine Depesche, dass von diesen Deportierten (…) nur noch ein Mann am Leben sei.« Anfang Juni, so Tehlirian, sei seine Familie an der Reihe gewesen. Der Treck, mit dem sie aus der Stadt getrieben wurde, kam nicht weit, dann fielen Wachmannschaften, unterstützt von türkischen Zivilisten, über die Menschen her. »Bei der Plünderung bekamen wir Gewehrfeuer von vorn in die Kolonne. Einer von den Gendarmen schleppte dann meine Schwester weg. (…) Dann sah ich, wie der Schädel meines Bruders mit einem Beil gespalten wurde. (…) Die Mutter ist gefallen.«
Das Letzte, woran sich Tehlirian erinnerte, war ein heftiger Schlag auf den Kopf. Stunden oder Tage später kam er inmitten der Toten wieder zu Bewusstsein. »Ich sah die Leiche meiner Mutter auf dem Gesicht liegen und dass die Leiche meines Bruders auf mir lag.« Dem Gericht schilderte Tehlirian die Stationen einer abenteuerlichen Flucht, die schließlich im Dezember 1920 nach Berlin führte. Hier habe er Ende Januar Talât Pascha zufällig auf der Straße gesehen.
Talât erteilte den Befehl zum Genozid
Dieser stand im 47. Lebensjahr, als er seinen Attentäter traf. Talât entstammte einer Familie des türkischen Kleinbürgertums im heutigen Bulgarien. Zum Vehikel seines Aufstiegs wurde die jungtürkische Bewegung, die der Modernisierung des maroden osmanischen Staats das Wort redete und 1908 die Macht übernahm. In ihren Reihen fanden sich neben liberalen Reformern extreme Nationalisten, die bald das Sagen hatten. Sie wollten das multiethnische Osmanische Reich in einen türkischen Nationalstaat umformen, in dem für christliche Minderheiten kein Platz sein sollte. Seit 1909 gehörte Talât einem dreiköpfigen Direktorium an, das das Land diktatorisch beherrschte und es 1914 an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg führte.
Die militärischen Kontakte reichten damals bereits Jahrzehnte zurück. Deutsche Offiziere wirkten als Berater und Ausbilder. Während des Kriegs besetzten sie Schlüsselpositionen in der osmanischen Armee. An der Verschleppung und Ermordung der armenischen Bevölkerung, deren Auftakt am 24. April eine Verhaftungswelle unter Geistlichen und Intellektuellen in Istanbul bildete, waren manche von ihnen nicht nur als Beobachter beteiligt, sondern sie empfahlen und unterzeichneten wohl auch Deportationsbefehle. Die Rolle des damaligen Innenministers Talât belegten per Telegramm erteilte Mordbefehle mit seiner Unterschrift, die dem Gericht vorlagen. Die Armenier, hieß es unter anderem, seien »gänzlich auszurotten«, ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke sei »ihrem Dasein ein Ende zu machen«. Die Dokumente waren nach dem Einmarsch britischer Truppen in Aleppo sichergestellt worden.
Armenische Zeugen vor Gericht
Einen tiefen Eindruck auf das Gericht hinterließen Christine Tersibaschian, die 26-jährige Gattin eines armenischen Tabakhändlers in Kreuzberg, und Bischof Krikor Balakian, der aus Manchester angereist war. Die Zeugin Tersibaschian hatte im Juli 1915 von 21 ihrer engsten Angehörigen 18 verloren, auch ihr Kind: »Ich habe mit den Füßen über Leichen gehen müssen, so dass meine Füße mit Blut befleckt wurden.« Im Saal kam Unruhe auf, als die Zeugin schilderte, wie 500 junge Männer aneinandergebunden und in einen Fluss gestürzt, Frauen vergewaltigt, Schwangeren die Kinder aus dem Leib geschnitten wurden. Der Gerichtspräsident, fassungslos: »Ist das alles wirklich wahr? Ist das nicht Fantasie?« Es sei noch schlimmer gewesen, entgegnete die Zeugin.
Bischof Balakian zählte zu den wenigen Überlebenden der armenischen Elite Istanbuls, mit deren Festnahme im April 1915 die Pogromwelle begonnen hatte. Mit Hilfe deutscher Ingenieure und Militärs, in einer deutschen Uniform verkleidet, hatte er sich nach Jahren in Sicherheit bringen können. Dem Gericht erzählte er, wie ein türkischer Beamter ihm eine von Talât abgezeichnete Depesche gezeigt habe. Darin habe der Innenminister um Auskunft ersucht, »wie viel von den Armeniern schon tot sind und wie viel noch am Leben«. Eingeprägt hatte sich Balakian auch die Begegnung mit einem Major der osmanischen Armee im September 1915, der im Brustton der Begeisterung verkündet habe: »Was alle unsere früheren Sultane nicht getan haben, haben wir getan. Wir haben ein historisches Volk binnen zwei Monaten umgebracht.«
Tehlirian handelte im Auftrag armenischer Rebellen
In der ersten Vernehmung nach seiner Festnahme hatte Tehlirian angegeben, den Anschlag von langer Hand geplant und vorbereitet zu haben. Der anwesende armenische Dolmetscher war entgeistert. Er fürchtete, der Mann, den er als Helden verehrte, könnte sich um Kopf und Kragen reden, und weigerte sich, das Protokoll zu unterzeichnen.
Im Prozess präsentierte die Verteidigung dann einen an der Seele Erkrankten. Tehlirian litt an epileptischen Anfällen, derentwegen er in Berlin in Behandlung war. Nach Ansicht mehrerer Gutachter handelte es sich um Symptome eines durch die erlebten Schrecken verursachten Traumas. Vor Gericht bescheinigten sie dem Angeklagten, zum Zeitpunkt der Tat nur in eingeschränktem Maß zur Selbststeuerung fähig gewesen zu sein. Tehlirian erklärte, er habe sich zum Mord entschlossen, als seine Mutter ihm im Traum erschienen sei und verlangt habe, Talât zu richten: »Sonst bist du nicht mehr mein Sohn«, habe sie im Traum zu ihm gesagt.
Wir wissen mittlerweile, dass Tehlirian sich nicht nur um ein Jahr jünger gemacht, sondern insgesamt dem Gericht eine geglättete Version seiner Biografie geboten hat. Unerwähnt war geblieben, dass er bereits im Februar 1919 in Istanbul einen armenischen Kollaborateur erschossen hatte. Verschwiegen hatte er auch einen Aufenthalt in den USA. Dort rekrutierte der armenische Gesandte und einstige Rebellenchef Karekin Pasdermadschian (1872–1923) Freiwillige für die »Operation Nemesis«, eine Vergeltungskampagne gegen Urheber des Völkermords. Von ihm hatte Tehlirian den Auftrag erhalten, Talât aufzuspüren und zu liquidieren.
Einem Biografen vertraute Tehlirian 1953 an, dass er auch das Massaker an der armenischen Bevölkerung von Erzincan nicht selbst erlebt hatte. Er kämpfte zu diesem Zeitpunkt auf russischer Seite an der Kaukasusfront. Er war zu Beginn des Kriegs in Serbien gewesen und hatte sich umgehend zum armenischen Freiwilligenbataillon gemeldet. Mit russischen Truppen kam er erst Ende 1916 wieder nach Erzincan, wo er von einst 20 000 armenischen Einwohnern noch 20 am Leben fand und im Schutt seines Elternhauses nach Habseligkeiten stocherte.
Wer trägt die Verantwortung für den Völkermord?
Eine denkwürdige Kontroverse im Gerichtssaal entspann sich zwischen den Sachverständigen, dem evangelischen Theologen Johannes Lepsius (1858–1926) und General Otto Liman von Sanders (1855–1929). Für Lepsius war die publizistische und humanitäre Unterstützung der bedrängten Armenier ein Lebensanliegen. Er hatte auch frühzeitig die Pogromwelle des Jahres 1915 angeprangert, jedoch erfahren müssen, dass deutsche Behörden jeden öffentlichen Hinweis auf das Schicksal der Armenier unterdrückten. Ihr Interesse galt allein dem Kriegsbündnis mit dem Osmanischen Reich.
Lepsius betonte, die jungtürkische Führung habe unter dem Vorwand einer Umsiedlungsaktion von vornherein die Eliminierung der Armenier im Auge gehabt, und zitierte Talât mit den Worten, das »Verschickungsziel« sei das »Nichts«. Dagegen wollte der ehemalige deutsche Generalinspekteur der osmanischen Armee Liman von Sanders bei der Regierung in Istanbul eine Verantwortung lediglich für die Deportationsbefehle, nicht für deren mörderische Ausführung sehen. Es ging um eine Frage, die bis heute politischen Zündstoff birgt, nämlich ob die Auftraggeber tatsächlich einen Völkermord planten. Von türkischer Seite wird das nach wie vor bestritten.
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