Geschlechtschromosomen: Solopart
Tino oder Tina, XY oder XX. Wie im Namen entscheidet auch in der Genetik nur ein Buchstabe über das Geschlecht. Doch dieses unbedeutend erscheinende zweite X, das die Frau zu einer Frau macht, bringt den Embryo in einen Zwiespalt: Zwei sind eines zu viel.
Während im Mann ein X- und ein Y-Chromosom von Anfang an ein harmonisches Duett bilden, beginnt die Entwicklung der Frau mit der Konkurrenz zwischen zwei Solistinnen: den beiden X-Chromosomen. Sowohl von der Mutter als auch vom Vater hat sie neben 22 anderen Chromosomen jeweils eine der Konkurrentinnen erhalten. Doch wie in der Oper kann auch in ihren Zellen nur eine der beiden den Solopart übernehmen – die andere muss wohl oder übel zum Schweigen gebracht werden.
Denn während in männlichen Zellen immer nur ein X-Chromosom vorhanden ist und dort die Gene daher auch nur in einfacher Ausführung abgelesen werden, würden in den weiblichen Embryonen die Gene beider X-Chromosomen gleich stark exprimiert. Dadurch hätten Frauen immer doppelt so viel Genprodukt wie Männer – und damit ein Problem. Deshalb wird in jeder Zelle schon kurz nach der Befruchtung eines der beiden X-Chromosomen endgültig inaktiviert. Man bezeichnet dieses abgeschaltete X als so genanntes Barrkörperchen.
Ob allerdings das mütterliche oder väterliche Chromosom in der Zelle den Ton angeben darf, entscheidet der Zufall. Da der frühe Embryo aus zwei bis acht Zellen besteht, kann es vorkommen, dass einmal das Chromosom der Mutter und in der Nachbarzelle das des Vaters ausgeschaltet wird. Weil alle folgenden Tochterzellen das gleiche inaktive X wie ihre Elternzelle besitzen, bildet sich daraus eine mosaikartige Aufteilung im weiblichen Körper. In jeder unserer Körperzellen steigt somit ein X zur Solistin auf, während das andere für immer verstummt.
In den letzten Jahren haben Forscher zahlreicher Arbeitsgruppen die molekularen Hintergründe für diese zufällige X-Chromosom-Inaktivierung untersucht. Eine bestimmte Region, der X-inactivation center (Xic), in der Nähe der Chromosomenmitte schien in diesem Prozess eine entscheidende Rolle zu spielen. Vermutlich besteht seine Aufgabe darin, die Anzahl der vorhandenen X-Chromosomen zu ermitteln und zu entscheiden, ob und welches X inaktiviert wird. Auch wenn noch nicht geklärt ist, wie genau dieser Zählvorgang funktioniert – geben muss es ihn. Ansonsten könnten Wissenschaftler nicht erklären, dass Frauen mit drei X-Chromosomen genau zwei von ihnen inaktivieren und Männer ihr einziges X über das komplette Leben aktiv halten.
Ein relativ schlüssiges Modell hat man hingegen von der eigentlichen Stilllegung des einen X. Zwei Gene in der Xic-Region mit den zungenbrecherischen Namen Xist und Tsix bringen dabei in einem komplexen Wechselspiel die eine Anwärterin auf den Solopart zum Schweigen. Wie ihr Name schon vermuten lässt, besitzen die beiden zwar die gleiche Sequenz, werden aber in entgegen gesetzter Richtung abgelesen. Das Ergebnis sind zwei lange RNA-Stücke, die Xist- und die Tsix-RNA, aus denen im Gegensatz zu anderen Genen kein Protein hergestellt wird.
Stattdessen dient die Xist-RNA als eine Art molekularer "Knebel" für jenes X-Chromosom, das für die Inaktivierung auserkoren wurde. Um dessen Gene für ablesende Enzyme wie zum Beispiel Polymerasen nicht mehr zugänglich zu machen, lagern sich nach und nach zahlreiche Xist-Moleküle an das Chromosom. Die Enzyme werden so rein räumlich daran gehindert, an das Gen zu binden und mit der Expression zu beginnen.
Der Ablauf dieser Knebelungsaktion basiert auf einer fein abgestimmten Regulation, damit nicht versehentlich beide X inaktiviert werden. Dabei fungiert Tsix als eine Art Aufpasser, der die Herstellung der Xist-RNA hemmt. Bevor entweder das väterliche oder das mütterliche Chromosom abgeschaltet wird, produzieren beide Xist- und Tsix-RNA – allerdings nur in geringer Menge. Wenn der Inaktivierungsprozess beginnt, erhöhen beide Chromosomen die Ableserate von Xist. Gleichzeitig wird aber im aktiv bleibenden X genügend hemmende Tsix-RNA hergestellt, um die Knebelung durch Xist zu verhindern. Somit wird sichergestellt, dass nur im inaktiven X ausreichend Xist-RNA produziert wird, die das Chromosom vollständig bedecken kann.
Doch woher wissen Xist und Tsix, wann genau sie aktiv werden sollen? Die Antwort könnte möglicherweise in der neu entdeckten X-pairing-region (Xpr) liegen. Die Gruppe um Edith Heard vom Curie-Institut in Paris hatte entdeckt, dass sich vor der Inaktivierung die beiden X-Chromosomen in diesem Bereich aneinanderlagern. Die Wissenschaftler vermuten, dass diese Paarung der beiden X zum einen eine Rolle beim Zählvorgang spielt und zum anderen die Expression der beiden RNAs Xist und Tsix reguliert.
Für das stillgelegte X ist damit aber noch nicht alles vorbei. Um die Inaktivierung ein Leben lang aufrecht zu erhalten, werden die weniger stabilen Xist-Moleküle durch dauerhafte chemische Veränderungen ersetzt. Dabei werden Methylgruppen an die DNA-Stränge angehängt, die Enzymen als Signal dienen, diese Gene nicht mehr abzulesen. So verändert werden dann die DNA-Moleküle mit Hilfe spezieller Proteine eng verpackt und komprimiert. Man bezeichnet diese Form von dicht gepackter DNA als Heterochromatin.
Nur einige Gene, die für die gleichmäßige Aufteilung der X-Chromosome bei der Zellteilung eine Rolle spielen, entgehen dieser sorgfältigen Verpackungsprozedur. Sie liegen in den so genannten pseudoautosomalen Regionen, die sich sowohl auf X- als auch auf Y-Chromosomen befinden. Weil deshalb jeder Mensch zwei Ausführungen dieser Bereiche besitzt, müssen sie nicht deaktiviert werden.
Für die gefesselte und geknebelte X-Solistin ist das nur ein schwacher Trost. Denn während sie den Rest ihres Lebens fast mucksmäuschenstill verbringen wird, darf ihre Konkurrentin mit ihrer kompletten Genaustattung den Ton für die weitere Entwicklung angeben. Und damit den begehrten Solopart übernehmen.
Denn während in männlichen Zellen immer nur ein X-Chromosom vorhanden ist und dort die Gene daher auch nur in einfacher Ausführung abgelesen werden, würden in den weiblichen Embryonen die Gene beider X-Chromosomen gleich stark exprimiert. Dadurch hätten Frauen immer doppelt so viel Genprodukt wie Männer – und damit ein Problem. Deshalb wird in jeder Zelle schon kurz nach der Befruchtung eines der beiden X-Chromosomen endgültig inaktiviert. Man bezeichnet dieses abgeschaltete X als so genanntes Barrkörperchen.
Ob allerdings das mütterliche oder väterliche Chromosom in der Zelle den Ton angeben darf, entscheidet der Zufall. Da der frühe Embryo aus zwei bis acht Zellen besteht, kann es vorkommen, dass einmal das Chromosom der Mutter und in der Nachbarzelle das des Vaters ausgeschaltet wird. Weil alle folgenden Tochterzellen das gleiche inaktive X wie ihre Elternzelle besitzen, bildet sich daraus eine mosaikartige Aufteilung im weiblichen Körper. In jeder unserer Körperzellen steigt somit ein X zur Solistin auf, während das andere für immer verstummt.
In den letzten Jahren haben Forscher zahlreicher Arbeitsgruppen die molekularen Hintergründe für diese zufällige X-Chromosom-Inaktivierung untersucht. Eine bestimmte Region, der X-inactivation center (Xic), in der Nähe der Chromosomenmitte schien in diesem Prozess eine entscheidende Rolle zu spielen. Vermutlich besteht seine Aufgabe darin, die Anzahl der vorhandenen X-Chromosomen zu ermitteln und zu entscheiden, ob und welches X inaktiviert wird. Auch wenn noch nicht geklärt ist, wie genau dieser Zählvorgang funktioniert – geben muss es ihn. Ansonsten könnten Wissenschaftler nicht erklären, dass Frauen mit drei X-Chromosomen genau zwei von ihnen inaktivieren und Männer ihr einziges X über das komplette Leben aktiv halten.
Ein relativ schlüssiges Modell hat man hingegen von der eigentlichen Stilllegung des einen X. Zwei Gene in der Xic-Region mit den zungenbrecherischen Namen Xist und Tsix bringen dabei in einem komplexen Wechselspiel die eine Anwärterin auf den Solopart zum Schweigen. Wie ihr Name schon vermuten lässt, besitzen die beiden zwar die gleiche Sequenz, werden aber in entgegen gesetzter Richtung abgelesen. Das Ergebnis sind zwei lange RNA-Stücke, die Xist- und die Tsix-RNA, aus denen im Gegensatz zu anderen Genen kein Protein hergestellt wird.
Stattdessen dient die Xist-RNA als eine Art molekularer "Knebel" für jenes X-Chromosom, das für die Inaktivierung auserkoren wurde. Um dessen Gene für ablesende Enzyme wie zum Beispiel Polymerasen nicht mehr zugänglich zu machen, lagern sich nach und nach zahlreiche Xist-Moleküle an das Chromosom. Die Enzyme werden so rein räumlich daran gehindert, an das Gen zu binden und mit der Expression zu beginnen.
Der Ablauf dieser Knebelungsaktion basiert auf einer fein abgestimmten Regulation, damit nicht versehentlich beide X inaktiviert werden. Dabei fungiert Tsix als eine Art Aufpasser, der die Herstellung der Xist-RNA hemmt. Bevor entweder das väterliche oder das mütterliche Chromosom abgeschaltet wird, produzieren beide Xist- und Tsix-RNA – allerdings nur in geringer Menge. Wenn der Inaktivierungsprozess beginnt, erhöhen beide Chromosomen die Ableserate von Xist. Gleichzeitig wird aber im aktiv bleibenden X genügend hemmende Tsix-RNA hergestellt, um die Knebelung durch Xist zu verhindern. Somit wird sichergestellt, dass nur im inaktiven X ausreichend Xist-RNA produziert wird, die das Chromosom vollständig bedecken kann.
Doch woher wissen Xist und Tsix, wann genau sie aktiv werden sollen? Die Antwort könnte möglicherweise in der neu entdeckten X-pairing-region (Xpr) liegen. Die Gruppe um Edith Heard vom Curie-Institut in Paris hatte entdeckt, dass sich vor der Inaktivierung die beiden X-Chromosomen in diesem Bereich aneinanderlagern. Die Wissenschaftler vermuten, dass diese Paarung der beiden X zum einen eine Rolle beim Zählvorgang spielt und zum anderen die Expression der beiden RNAs Xist und Tsix reguliert.
Für das stillgelegte X ist damit aber noch nicht alles vorbei. Um die Inaktivierung ein Leben lang aufrecht zu erhalten, werden die weniger stabilen Xist-Moleküle durch dauerhafte chemische Veränderungen ersetzt. Dabei werden Methylgruppen an die DNA-Stränge angehängt, die Enzymen als Signal dienen, diese Gene nicht mehr abzulesen. So verändert werden dann die DNA-Moleküle mit Hilfe spezieller Proteine eng verpackt und komprimiert. Man bezeichnet diese Form von dicht gepackter DNA als Heterochromatin.
Nur einige Gene, die für die gleichmäßige Aufteilung der X-Chromosome bei der Zellteilung eine Rolle spielen, entgehen dieser sorgfältigen Verpackungsprozedur. Sie liegen in den so genannten pseudoautosomalen Regionen, die sich sowohl auf X- als auch auf Y-Chromosomen befinden. Weil deshalb jeder Mensch zwei Ausführungen dieser Bereiche besitzt, müssen sie nicht deaktiviert werden.
Für die gefesselte und geknebelte X-Solistin ist das nur ein schwacher Trost. Denn während sie den Rest ihres Lebens fast mucksmäuschenstill verbringen wird, darf ihre Konkurrentin mit ihrer kompletten Genaustattung den Ton für die weitere Entwicklung angeben. Und damit den begehrten Solopart übernehmen.
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