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Gesellschaft: Sozialer Zungenschlag

Was bringt Menschen dazu, ihr Umfeld in Gruppen einzuteilen, die eigene dabei zu bevorzugen und andere abzulehnen? Vorurteile, mögen manche antworten. Doch wurzeln diese nicht etwa erst in bewusstem Überlegen, sondern viel tiefer - in Erfahrungen der frühesten Kindheit. Und ausgerechnet Sprache, die Grenzen überwinden könnte, baut diese Denkmauern auf.
Kinder am Bootssteg
"Und die Gileaditer besetzten die Furten des Jordans vor Ephraim. Wenn nun einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Lass mich hinübergehen!, so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibbolet. Sprach er aber: Sibbolet, weil er's nicht richtig aussprechen konnte, dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans, sodass zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend." (Buch der Richter 12: 5-6)

Es ist eher ungewöhnlich, dass ein naturwissenschaftlicher Fachartikel mit einem Bibelzitat beginnt. Doch ein besseres Bild hätten Elizabeth Spelke von der Harvard-Universität und ihre Kollegen kaum wählen können, um ein altbekanntes Phänomen zu verdeutlichen: Wer den Dialekt einer Gegend nicht beherrscht, kann in böse Schwierigkeiten geraten. Das reicht vom vergeblichen Versuch, in Bayern Schrippen zu bekommen über die neuen Nachbarn, die nach dem Umzug lange vergeblich Anschluss suchen, bis hin zu mangelnder Integration von Menschen aus dem Ausland, die durch fehlende Sprachkenntnisse vor einem Kommunikationsproblem stehen. Noch dazu weckt ihr fremder Zungenschlag häufig Bedenken und Ablehnung aller Art.

Aber kleine Kinder sollten davon doch frei sein, möchte man meinen. Zwar herrschen schon bei den Zwergen teils strikte Meinungen, doch halten sie selten lang: Die ärgste Feindin von gestern ist morgen die beste Freundin, und sich morgens im Sandkasten zu verhauen verhindert nicht, nachmittags zusammen Sandkuchen zu backen – und das egal, ob es um Anna, Ali, Alberto oder Aiko geht.

Geschenkvorlieben | Zehn Monate alte Kinder waren eher geneigt, nach einem Spielzeug zu greifen, wenn die offerierende Person zuvor in einer gemeinsamen Muttersprache gesprochen hatte.
Doch die Wurzeln der sprachbedingten Vourteile reichen weit zurück: Gerade einmal fünf Monate waren die jüngsten Probanden von Spelkes Team alt, mit denen die Forscher das Verhalten gegenüber verschiedenen Sprachklängen testeten. Spielten sie den Kleinen Filmaufnahmen vor, in denen Frauengesichter in der Mutter- oder einer fremden Sprache erzählten, schenkten die Säuglinge anschließend der Vertreterin mit den vertrauten Lauten mehr Aufmerksamkeit als der Sprecherin mit ungewohntem Klang. Zehn Monate alte Kinder waren eher geneigt, von einer Frau ein Spielzeug entgegenzunehmen, deren Sprache sie aus der eigenen Familie kannten, als von einer fremdländisch intonierenden. Hier zeigen sich also schon Präferenzen für bestimmte Sprachen und ihre Sprecher, bevor das eigene Sprachvermögen überhaupt vollständig entwickelt ist.

Willst du mein Freund sein? | Fünfjährige wählten lieber jene als potenziellen Freund, der mit ihnen die Sprache teilte. Das zeigte sich sogar schon bei leichten Dialektunterschieden.
Und das Sortieren geht munter weiter. Fünfjährige wählten als potenzielle Freunde gezielt nach deren Sprache, ja sogar Dialekt: Ein fremder Akzent wirkte ganz offenbar abstoßend im Vergleich zu einem bekannten, obwohl sie auch die anders klingenden Worte problemlos verstanden hatten.

Dass Akzente eine große Rolle spielen für soziale Kontakte, ist von Erwachsenen lange bekannt. Schließlich kann der Zungenschlag Hinweis sein auf den sozialen Status, Bildungshintergrund, ethnische Zugehörigkeit oder regionale Herkunft – alles Aspekte, die im gesellschaftlichen Miteinander, das gern aus Gleichen unter Gleichen besteht, von Bedeutung sind. Klingt jemand vertraut, bringt das häufig schon entscheidende Pluspunkte ein. Nicht umsonst entstand ein Slogan wie "Wir können alles. Außer Hochdeutsch", der den von vielen verlachten Dialekt als vereinendes Element preist.

Die Tendenz, selbst unbekannte Menschen zu bevorzugen, die sich anhand der Sprache als zur selben Bevölkerungsgruppe gehörig entlarven, beginne also schon früh in der Kindheit, erklären die Autoren – lange bevor Kinder überhaupt etwas über die Form und Geschichte von Konflikten zwischen sozialen Gruppen lernen. "Der Weg von den kindlichen sozialen Präferenzen zu den sozialen Konflikten Erwachsener mag lang und kurvenreich sein", folgern sie weiter. "Aber ein solcher Übergang könnte tatsächlich stattfinden und zumindest teilweise erklären, warum Konflikte zwischen verschiedenen sprachlichen und sozialen Gruppen so verbreitet und schwer zu beseitigen sind." In der Tat: Hier hat sich seit biblischen Zeiten nur wenig geändert.

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