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Spieltheorie: Altruisten in der Petrischale

Nicht nur Affen und Ameisen haben eine soziale Ader, sogar einfache Hefezellen können selbstlos sein und andere auf eigene Kosten durchfüttern. Doch warum verlieren sie nicht das evolutionäre Wettrennen gegen die Trittbrettfahrer?
Saccharomyces cerevisiae
Manche Menschen helfen wildfremden alten Damen über die Straße, Moschusochsen wärmen sich gegenseitig im Schneesturm, und Tausende von Ameisen bauen gemeinsam an ihrem Staat. Weder in der menschlichen Gesellschaft noch in der Tierwelt herrscht immer nur Hauen und Stechen. Aber wie kann es überhaupt sein, dass Altruismus entsteht?

Denn auf den ersten Blick ist es unmöglich, dass sich ein Verhalten durchsetzt, von dem ein anderer profitieren kann, ohne die Kosten dafür mitzutragen. Doch die Erfahrung zeigt: Es ist möglich. Eine Lösung besteht zum Beispiel darin, die Egoisten zu bestrafen und von zukünftiger Kooperation auszuschließen. Allerdings braucht es dafür zumindest ein Gedächtnis. Computersimulationen haben ergeben, dass eine solche Strategie dann sogar eine ganze Gesellschaft virtueller Egoisten umkrempeln kann.

Und eine Studie einer Forschergruppe vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge hat jetzt gezeigt: Selbstlose Individuen können sogar ganz ohne eine Gegenleistung in einer Gruppe lupenreiner Egoisten überleben. Nicht einmal ein Bestrafungssystem ist dafür notwendig, denn dazu wäre das Versuchsobjekt, das sich die Wissenschaftler um Jeff Gore vornahmen, ohnehin nicht in der Lage gewesen. Während Soziobiologen sich meist mit dem Menschen oder seinem nächsten Verwandten, dem Schimpansen, beschäftigen, wagte sich der Biophysiker Gore ins Reich der Mikroorganismen: Er nahm das Miteinander von Hefezellen ins Visier.

Kann Hefe hilfsbereit sein? Durchaus. Die Back- oder Bierhefe Saccharomyces cerevisiae ernährt sich zwar am liebsten von Glukose. Zur Not nehmen die Einzeller aber auch den Mehrfachzucker Saccharose, den sie allerdings erst mit dem Enzym Invertase zu Glukose zerstückeln müssen. Nur: Nicht alle Hefezellen müssen das besagte Enzym überhaupt produzieren. Sie können Kapital daraus schlagen, dass den Invertase produzierenden Zellen 99 Prozent der aufgespalteten Saccharose wegfließt und Trittbrettfahrern in der Umgebung zur Verfügung steht.

Doch damit nicht genug: Solche Trittbrettfahrer profitieren sogar gleich doppelt. Das Enzym zu produzieren, kostet die "kooperativen" Zellen Ressourcen; in einem idealen Medium mit reichlich Glukose würden diese deshalb langsamer wachsen als Konkurrenten, die das Enzym nicht herstellen. Saccharose freigiebig aufzuspalten, ist, alles in allem, ein schlechter Handel für die hilfsbereite Hefe.

Warum also sollte sich das "hilfsbereite" Verhalten überhaupt durchsetzen, fragten sich die Forscher. Um dies unter kontrollierbaren Bedingungen zu klären, entwickelten Gore und sein Team zwei genetisch modifizierte Hefestämme. Einer kooperierte immer und wurde dafür künstlich mit hohen Kosten belegt, während der andere die Fähigkeit, das Enzym zu produzieren, verloren hatte. Beide kultivierte Gore gemeinsam in einem Medium, in dem Saccharose die einzige Nahrungsquelle war. Der zweite Stamm war demnach vollkommen auf sein Schmarotzertum angewiesen.

Mathematische Überlegungen zeigen: Gäbe es keine Auszahlung für kooperatives Handeln – bei den Hefen das eine Prozent, das die Enzymproduzenten selbst verspeisen dürfen –, wäre auf lange Sicht ihr Untergang besiegelt. Wäre der Profit dagegen deutlich größer oder die Kosten niedriger, würden sie schnell die Oberhand gewinnen.

Gore beobachtete tatsächlich die dritte denkbare Variante: Egal wie zu Beginn des Experiments die Kräfte verteilt waren, stets stellte sich ein Gleichgewicht zwischen Enzymproduzenten und Trittbrettfahrern ein. Denn vor allem wenn die Mehrzahl der Zellen sich "egoistisch" verhält, macht sich die Fähigkeit einer Zelle, Saccharose aufspalten zu können, erst richtig bezahlt. Sie sind dadurch den anderen gegenüber im Vorteil. Sind allerdings erst einmal viele kooperative Zellen im Spiel, lohnt es sich wieder zu schummeln. Mathematisch gesprochen ist der Grund für das Gleichgewicht zwischen beiden Typen, dass die faktische Auszahlung nicht über alle Bedingungen hinweg konstant bleibt.

Die Hefezellen reagierten auf die Zwickmühle nicht anders, als es ein vollständig rational handelnder Mensch tun würde, meint Gore. Ihre Situation erklärt er mit einem Modell, das Spieltheoretiker im Englischen snowdrift game, also "Schneewehen-Spiel", nennen. Wenn zwei Autofahrer hinter einer Schneewehe eingeschlossen sind: Wie verhalten sie sich da am besten? Sollte man aussteigen und Schnee schippen oder sitzen bleiben? Oder sich vielleicht sogar die Arbeit teilen? Die cleverste Strategie in diesem Fall lautet: erst einmal gucken, was der andere tut. Macht der Leidensgenosse sich an die Arbeit, ist es am günstigsten, im Wagen sitzen zu bleiben. Bleibt der andere aber sitzen, lohnt es sich, selbst aktiv zu werden.

Genauso verhalten sich die Hefen im Naturzustand: Ist viel Glukose vorhanden, schalten sie die Enzymproduktion ab und gönnen sich eine Freifahrt. Sinkt dagegen die Zuckerkonzentration, werfen sie die Enzymproduktion wieder an.

Nun lassen sich Menschen natürlich nur schwer mit simplen Einzellern vergleichen. Aber das Experiment zeigt, dass grundlegende Prinzipien des Sozialverhaltens im gesamten Reich der Biologie verbreitet sind. Vor allem aber ist das Experiment ein weiterer Beleg dafür, dass Evolution und Kooperation sich sehr wohl vereinbaren lassen.
  • Quellen
Gore, J. et al.: Snowdrift game dynamics and facultative cheating in yeast. 10.1038/nature07921, 2009.

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