Sprachentwicklungsstörungen: Wenn die Worte fehlen
Wenn Leon* etwas trinken wollte, fragte er nicht danach. Stattdessen machte er ein zischendes Geräusch, bewegte die Faust nach unten und spreizte die Finger. Seine Mutter verstand: Sprudelwasser soll es sein. Doch wie sich ihr zweijähriger Sohn verständigte, kam ihr seltsam vor. Vielleicht brauchte Leon mit dem Sprechen nur etwas länger als seine älteren Geschwister? Schließlich war er schon immer ein stilles Kind gewesen, das außer »Mama« und »ja« nicht viel sagte. Bestimmt würde er mehr sprechen, wenn er erst einmal in den Kindergarten käme.
Doch die Mutter sollte sich irren. Auch ein Jahr später, Leon besuchte längst die Kita, blieb sein Wortschatz stark begrenzt. Der Rat des Kinderarztes war wenig hilfreich: »Sie sollten Ihren Sohn einfach in Ruhe lassen«, empfahl er den Eltern. Auch Kinder wie Leon müsse es geben. »Wir wurden als übersensibel abgestempelt«, erinnert sich der Vater. Abend für Abend wälzten die Eltern nun Bücher über Sprache und recherchierten im Netz. Endlich vereinbarten sie einen Termin bei einer Sprachtherapeutin – und erhielten wenig später die Diagnose: Leon litt an einer Sprachentwicklungsstörung oder kurz SES.
Obwohl in den Medien eher selten darüber berichtet wird, gehören SES zu den am häufigsten diagnostizierten Entwicklungsstörungen. Etwa 7,5 Prozent der Kinder haben erhebliche Schwierigkeiten beim Spracherwerb, die nicht zum Beispiel durch ein beeinträchtigtes Hörvermögen oder verminderte Intelligenz erklärbar sind. Weitere 2,3 Prozent haben eine SES, die mit anderen sprachrelevanten Störungen verbunden ist: Mehrfachbehinderungen, Intelligenzminderung oder Hörstörungen etwa. Zum Vergleich: ADHS, regelmäßig von den Medien thematisiert, wird nur bei fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland diagnostiziert.
Das internationale Diagnosehandbuch ICD-11 unterscheidet zwischen Beeinträchtigungen des Sprechens und der Sprache. So gehören Stottern und Poltern zur ersten Kategorie (siehe »Abgrenzung: Was keine Sprachentwicklungsstörung ist«), Sprachentwicklungsstörungen zur zweiten. Letztere gehen über das rein motorische Artikulieren von Worten und Sätzen hinaus, auch kognitiv-linguistische Funktionen sind beeinträchtigt: Die betroffenen Kinder haben beispielsweise Probleme, Laute und Wörter zu erkennen, Beziehungen zwischen ihnen herzustellen und grammatische Regeln zu lernen. Im Vergleich zu Gleichaltrigen fällt es ihnen zudem deutlich schwerer, das Sprechen selbst zu lernen: dem, was sie sagen wollen, die passenden Worte und die passende Grammatik zuzuordnen. Nicht bei jedem Kind äußert sich eine SES gleich – bei einigen ist nur die Sprachproduktion betroffen, bei anderen auch das Sprachverständnis. Manche Kinder sprechen wie Leon lange Zeit fast gar nicht. Andere haben lediglich Schwierigkeiten, längere Sätze zu bilden. Und wieder anderen geraten ähnlich klingende Wörter wie »Tasse« und »Kasse« immer wieder durcheinander.
Ein wesentliches gemeinsames Merkmal all dieser Störungen ist, dass die Symptome von Kindheit an auftreten. Die meisten Betroffenen zeigen wie Leon schon früh Auffälligkeiten, erklärt Kerstin Nonn, Lehrlogopädin für den Fachbereich Kindersprache an der Staatlichen Berufsfachschule für Logopädie am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München: »Als Baby lautieren diese Kinder oft wenig. Später setzen sie Gesten an Stelle von Wörtern ein und sprechen – wenn überhaupt – bloß in kurzen Äußerungen, weil die Satzentwicklung nicht einsetzt. Oder sie erfinden eigene Wörter, die nur ihre Familie versteht.« Auch würden Kinder mit eingeschränktem Sprachverständnis häufig bloß mit »Ja« antworten – weil sie eine Frage gar nicht verstehen.
Ein weiterer Marker, der sich in verschiedenen Studien gezeigt hat, ist die Anzahl der gesprochenen Wörter. Bis zum zweiten Geburtstag sollten Kinder mindestens 50 verschiedene Wörter sprechen und außerdem Zweiwortsätze bilden können. Laut Kerstin Nonn erfüllen etwa 15 Prozent aller Zweijährigen in Deutschland dieses Kriterium nicht. Dennoch haben nicht alle von ihnen eine behandlungsbedürftige Sprachentwicklungsstörung: »Gerade im frühen Spracherwerb gibt es eine sehr hohe Variabilität«, erklärt die Expertin. Je nach Studie seien ein Drittel bis die Hälfte der betroffenen Kinder so genannte Late Bloomer: Spätstarter. Sie fangen erst langsam an zu sprechen, holen anfängliche Rückstände jedoch bis zum dritten Geburtstag auf und entwickeln sich danach alterstypisch weiter. Eine Sprachentwicklungsstörung wächst sich hingegen nicht von selbst aus.
Sichere Diagnose ab drei Jahren
Wer unsicher ist, ob das eigene Kind womöglich an einer Sprachentwicklungsstörung leidet, sollte sich deshalb nicht vertrösten lassen: »Einfach abwarten ist falsch«, sagt Logopädin Kerstin Nonn. Eine sichere Diagnose sei zwar erst ab einem Alter von drei Jahren möglich. Dennoch könne im Einzelfall einiges für einen früheren Therapiebeginn sprechen – etwa ein eingeschränktes Sprachverständnis, eine familiäre Veranlagung für Sprachstörungen oder wenn das Kind selbst denkt, eine Störung zu haben. Schaden kann eine frühe Intervention keinesfalls: Auch Late Bloomer, die ihren Entwicklungsrückstand später von allein aufholen, profitieren schließlich davon, wenn die Eltern eine Anleitung oder ein Training zur frühen Sprachförderung erhalten.
Carina Lüke, Professorin für Sprachheilpädagogik an der Universität Würzburg, nimmt die Einschätzung von Eltern ebenfalls ernst: »Ihre Sorge ist ein guter Indikator dafür, ob sich eine Entwicklungsverzögerung manifestiert oder von allein auflöst.« Wer wie Leons Eltern vom Kinderarzt abgewimmelt wird, sollte also hartnäckig bleiben und im Zweifel eine zweite Meinung einholen.
Laut Erhebungen der Krankenkasse KKH wurde in den vergangenen Jahren immer mehr Kindern eine logopädische Therapie auf Grund von Sprachentwicklungsstörungen verordnet, was unter anderem auf die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Kita-Schließungen zurückgeführt wird. Die Zeit, die Eltern am Smartphone verbringen, könnte ebenfalls dazu beitragen. Einige Fachleute wie etwa der Pädaudiologe Peter Kummer vom Universitätsklinikum Regensburg führen den Anstieg aber auch darauf zurück, dass Eltern tendenziell weniger mit ihren Kindern redeten, während umgekehrt der kindliche Medienkonsum zunehme.
»Ob eine Sprachentwicklungsstörung auftritt, hängt nicht davon ab, ob einem Kind täglich vorgelesen wird oder nicht«Carina Lüke, Professorin für Sprachheilpädagogik an der Universität Würzburg
Carina Lüke hält solche Erklärungen für unzureichend: Die Zeit, die Kinder vor dem Bildschirm verbringen, könne zwar einen Einfluss auf die Sprachentwicklung haben – es gebe neben negativen jedoch auch positive Folgen. Übermäßiger Medienkonsum, vor allem in sehr jungen Jahren, gehe schon mit der Ausbildung eines geringeren Wortschatzes einher. Wer aber in Begleitung von Mama oder Papa spezielle Lernmedien und -sendungen konsumiere, könne umgekehrt der Sprachentwicklung sogar einen Schub geben. Den Anstieg der Therapiezahlen in den vergangenen Jahren interpretiert Lüke als pandemiebedingten Nachholeffekt: »In der Hochphase der Corona-Pandemie waren Kindergärten und Schulen teilweise geschlossen, und auch Sprachtherapie fand nicht regulär statt. Daher wurden auch weniger Entwicklungsstörungen festgestellt.«
Die Ursachen für eine SES sind laut Lüke noch nicht abschließend geklärt. Forscher vermuten eine genetische Veranlagung, die kognitive Funktionen beeinträchtigt, die für eine altersgemäße Sprachentwicklung notwendig sind: Laute zu erkennen, Beziehungen zwischen Wörtern herzustellen und grammatische Regeln zu erlernen. Widerlegt ist dagegen der Mythos, die Eltern seien an den Sprachproblemen ihrer Kinder schuld. »Kinder, in deren Familien viel gesprochen und vorgelesen wird, haben zwar meist einen größeren Wortschatz. Doch ob eine echte SES auftritt, hängt nicht davon ab, ob einem Kind täglich vorgelesen wird oder nicht«, sagt die Würzburger Sprachheilexpertin Lüke. Ob Kinder mehrsprachig aufwachsen oder nicht, mache ebenfalls keinen Unterschied. Bei mehrsprachig erzogenen Kindern zeige sich eine SES sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache, da das gesamte Sprachsystem betroffen sei.
Abgrenzung: Was keine Sprachentwicklungsstörung ist
Stottern und Poltern sind Redeflussstörungen, die zu den Sprechstörungen gehören. Fünf Prozent aller Kinder und etwa ein Prozent der Erwachsenen stottern. Ursache des Stotterns sind ungünstige neurologische Verschaltungen. Bei den meisten Kindern verschwindet das Problem mit der Zeit von selbst. Dennoch sind eine Beratung und gegebenenfalls eine Sprachtherapie sinnvoll, da Kinder mit frühem Behandlungsbeginn eine deutlich bessere Prognose haben. Polternde Kinder sprechen ungewöhnlich schnell oder unrhythmisch. Dabei können Wörter verkürzt oder zusammengezogen werden, so dass die Sprache oft unverständlich klingt. Poltern tritt häufig zusammen mit Stottern auf, ist aber deutlich seltener.
Lispeln ist ebenfalls keine Sprachentwicklungsstörung und stellt – anders als oft vermutet – kein Risiko für den Lese-Rechtschreib-Erwerb dar. Im Gegensatz zum Stottern und Poltern erschwert es in der Regel auch nicht die Kommunikation mit anderen. Aussprachestörungen wie Lispeln treten bei etwa 13,5 Prozent der Kinder auf und verschwinden häufig auch ohne Sprachtherapie. Logopäden erachten Lispeln daher mitunter als Schönheitsfehler. Um zu entscheiden, ob das Lispeln im Einzelfall trotzdem behandlungsbedürftig ist, ist wesentlich, ob das betroffene Kind selbst sich damit unwohl fühlt oder nicht.
Mutismus betrifft Kinder, die nicht sprechen, obwohl keinerlei Störungen des Sprechvermögens, des Gehörs oder des Sprechapparats vorliegen. Von selektivem Mutismus spricht man, wenn ein Kind in bestimmten Situationen spricht, in anderen jedoch nicht. In der Differenzialdiagnose werden Sprachentwicklungsstörungen sowie organische Störungen oder mechanische Traumata wie etwa Hirnverletzungen ausgeschlossen. Mutismus ist häufig mit psychischen Störungen wie einer Sozialphobie, Posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression verbunden.
Eine Lese-Rechtschreib-Störung ist eine Entwicklungsstörung, die etwa vier bis fünf Prozent aller Kinder betrifft. Sie äußert sich in Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, die nicht auf geringe Intelligenz, fehlenden Unterricht oder Unwilligkeit zurückzuführen sind. Als Ursache werden sowohl genetische als auch neurobiologische Ursachen angenommen.
Um eine Sprachentwicklungsstörung zu diagnostizieren, wird zunächst geprüft, ob eine Sprachverzögerung noch andere Ursachen haben könnte: Hörstörungen, Autismus-Spektrum-Störungen, neurologische Störungen oder eine geistige Behinderung zum Beispiel. Anschließend erfolgt eine logopädische Sprachentwicklungsdiagnostik. Dabei werden nach und nach spielerisch die sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes getestet, um einschätzen zu können, wie weit es im Vergleich zu seiner Altersgruppe ist.
Zu diesem Zweck nahm Leon unter anderem an einem nonverbalen Intelligenztest teil. Dabei werden einem Kind gezielt unsinnige oder komplizierte Aufgaben gestellt, um festzustellen, ob es die Anweisungen wirklich versteht und korrekt ausführen kann. Leon sollte etwa eine Puppe unter eine Tasse legen oder einen weißen Ball mit einem gelben so anstoßen, dass der weiße Ball vom Tisch fällt. Leon verstand und tat genau, was er sollte. Das Sprachverständnis sei demnach vorhanden, folgerte die testende Logopädin damals. Dennoch sei unklar, ob Leon jemals flüssig sprechen werde.
Im Lauf der Jahre folgten weitere Teildiagnosen bei Leon, darunter eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung sowie eine expressive und rezeptive Sprachentwicklungsstörung mit Schwierigkeiten beim Speichern und Abrufen von Wörtern, beim Bilden von Wörtern und Sätzen sowie bei der Aussprache. Schließlich stand fest, dass alle Facetten der Sprachentwicklung bei ihm betroffen waren. Zusätzlich stellten Ärzte eine verbale Entwicklungsdyspraxie fest. Dies ist eine muskuläre Störung, die es Betroffenen erschwert, die Bewegungen des Sprechapparats richtig auszuführen.
Wer unsicher ist, ob das eigene Kind womöglich an einer Sprachentwicklungsstörung leidet, sollte sich nicht vertrösten lassen
Ist einmal eine Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert, sei es wichtig, so früh wie möglich mit der Therapie zu beginnen, betont Carina Lüke, die die seit 2022 gültige Behandlungsleitlinie für SES mit verfasst hat. »Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen haben verschiedene Risikofaktoren für den ganzen Lebensweg, etwa für niedrigere Schulabschlüsse oder psychische Schwierigkeiten.« Kinder mit schwerer Symptomatik seien im Erwachsenenalter zudem häufiger arbeitslos und lebten seltener in einer Partnerschaft. Kurzum: »Diese Störungen können sich auf den gesamten Bildungs- und Lebensweg auswirken.«
Leon durchlief mit der Zeit verschiedene Therapien. Als er vier Jahre alt war, fuhr seine Mutter mit ihm für sechs Wochen zu einer Intensivtherapie, bei der Leon dreimal täglich sprachtherapiert wurde. Später erfolgte eine Behandlung im Ausland, bei der Leon mit Sprachaufnahmen seiner Mutter beschallt wurde. Als er mit sechs Jahren auf eine Förderschule mit Schwerpunkt Sprache kam, übte seine Therapeutin neue Wörter und Sätze immer wieder mit ihm. Bei einer anderen Logopädin lernte er, seine Sprechmuskulatur gezielt einzusetzen.
Und irgendwann fing Leon tatsächlich an zu sprechen. Die Worte kamen nicht plötzlich, sondern langsam, Silbe für Silbe, erinnert sich seine Mutter. Bei seiner Einschulung konnte er den eigenen Namen noch nicht korrekt aussprechen. Seine Logopädin erklärte den Eltern das so: Während andere Kinder an die 500 gehörte Wiederholungen brauchen, um ein Wort zu sprechen, benötige ein Kind wie Leon mehrere tausend. Kindern, die erst wenige Wörter kennen, helfe es, mit neu zu lernenden Wörtern geradezu überflutet zu werden, erklärt Carina Lüke. Sie selbst vermittelt in der Therapie zusätzliche Strategien, um sich ein Wort auf unterschiedlichen Ebenen einzuprägen: So werden zum Beispiel Wörter mit Gesten unterlegt oder verschiedene Wortarten in verschiedenen Farben markiert. Oder sie untersucht mit dem Kind ein Wort von allen Seiten: Woher kennen wir es? Zu welcher Wortart gehört es? Wie viele Silben hat es? Und wie kann man das bezeichnete Ding noch nennen?
Da die Ursachen für Sprachentwicklungsstörungen überwiegend genetisch bedingt sind, setzt die Therapie vor allem an den Symptomen an, erklärt Kerstin Nonn. Dabei orientiert sie sich an der natürlichen Sprachentwicklung: »Es geht immer darum, den nächsten Entwicklungsschritt herbeizuführen.« Gerade bei jüngeren Kindern sei es wichtig, die Therapie spielerisch zu gestalten: Mit ihnen ahmt sie etwa die Geräusche von Bauernhoftieren nach, um anschließend zuzuordnen, welche Lautmalerei zu welchem Tier gehört. »Eine Sprachtherapie besteht nicht nur aus Üben, sondern hat immer auch motorische, kognitive und emotionale Anteile.« Über die gemeinsamen Sitzungen hinaus sei es sinnvoll, die gesamte Familie mit einzubeziehen, damit auch Eltern, Geschwister oder Großeltern dem Kind Rückmeldung geben – und reichlich Lob als positive Verstärkung spendieren.
Auch das Selbstwertgefühl zählt
So vielfältig wie das Störungsbild SES und seine Therapieformen, so auch deren Ergebnisse: Manche Kinder überwinden ihre Sprachprobleme vollständig und entwickeln sich im Anschluss normal weiter. Andere haben ihr Leben lang Schwierigkeiten mit Sprache: Ein Teil der betroffenen Kinder zeigt noch mehrere Jahre nach der Diagnose Symptome. Die beste Prognose habe eine Therapie, wenn nur die Aussprache betroffen sei, sagt Kerstin Nonn. Doch unabhängig vom genauen Störungsprofil könnten eine frühzeitige Förderung und eine professionelle Sprachtherapie sowohl die Kommunikationsfähigkeit als auch das Selbstwertgefühl der betroffenen Kinder verbessern.
Obwohl er vergleichsweise früh gefördert wurde, fiel es Leon lange schwer, zu verstehen, warum er nicht so sprechen konnte wie seine Geschwister und Freunde. Mit Anfang 20 wurden bei ihm Depressionen diagnostiziert. Seither war er deswegen mehrfach in Therapie. Heute, mit 24 Jahren, hat er akzeptiert, dass er ein bisschen anders ist als die meisten anderen. Mittlerweile führt er ein eigenständiges Leben. An der Förderschule hat er seinen Hauptschulabschluss gemacht und arbeitet heute für eine gemeinnützige Organisation. Im Alltag hilft ihm ein Betreuer – etwa, wenn es darum geht, die Post von Behörden zu lesen, die für Leon meist zu kompliziert formuliert ist.
»Für mich ist es ein Riesenerfolg, heute überhaupt sprechen zu können«, sagt er. Zwar hat er noch Schwierigkeiten, starke Akzente oder Dialekte zu verstehen oder Fremdwörter korrekt auszusprechen. Auch verschluckt er die eine oder andere Silbe und sagt beispielsweise »krotzdem« statt »trotzdem«. Das Lesen fällt ihm nicht leicht, seine Handschrift ist mitunter unleserlich. Und wenn er gestresst ist, stottert er bisweilen. Aber wer sich mit Leon unterhält, käme kaum auf die Idee, dass er in den ersten Jahren seines Lebens so gut wie gar nicht sprach. Leon ist zufrieden. Nur manchmal wünscht er sich, dass andere nicht so schnell von seiner Sprache darauf schließen würden, was er alles kann.
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