Dunkle Energie: Spurensuche in kosmischen Wellenfronten
Das Werkzeug, mit dem David Schlegel eines der größten Rätsel des Universums lösen will, sieht täuschend einfach aus: Es handelt sich um eine vielfach durchlöcherte Aluscheibe in der Größe eines Gullydeckels. Genauer gesagt sind es derer 2200 Stück, von denen er jede mit einem eigenen, hochpräzisen Lochmuster versehen hat. Jedes Muster wiederum entspricht genau der Position von Galaxien, die in einem bestimmten Abschnitt des Nachthimmels zu sehen sind.
Die Scheiben werden nacheinander – für jeweils rund eine Stunde – in den Strahlengang des Apache Point Observatoriums in New Mexico eingespannt. Richtet man das Teleskop aus, scheint durch jedes der Löcher das Licht einer einzelnen Galaxie. Dieses lässt sich nun wunderbar isoliert von dem der anderen betrachten und in seine Wellenlängen aufspalten, was den Wissenschaftlern anschließend verrät, wie schnell sich jede dieser Galaxien durch die unaufhaltsame Expansion des Universums von unserer Erde entfernt.
Seit 2009 arbeiten Schlegel und sein Forscherteam mit der Apparatur. Am Ende sollen die Daten von 1,5 Millionen Galaxien vorliegen – zu einem einfachen Zweck: Die Wissenschaftler wollen endlich erfahren, ob ein Effekt namens Dunkler Energie, den man dafür verantwortlich macht, dass sich das All immer schneller ausdehnt, über die Jahrmilliarden der kosmischen Geschichte konstant geblieben ist oder ob sein Einfluss über die Zeit variierte.
"Je mehr Galaxien wir kriegen, desto besser das Ergebnis", sagt der Astronom vom Lawrence Berkeley National Laboratory (LBNL) in Kalifornien, der die Leitung des auf den Namen BOSS getauften Riesenprojekts übernommen hat. Die Abkürzung steht für Baryon Oscillation Spectroscopy Survey (in etwa "Spektroskopische Durchmusterung auf Baryonenoszillationen").
Erste Resultate – basierend auf der Auswertung von 460 000 Galaxien – hat das Team um Schlegel Mitte Januar auf einer Tagung der American Astronomical Society in Austin vorgestellt. Die Ergebnisse vermitteln bislang vor allem einen Eindruck davon, an welchen Stellen im All Galaxien zusammenklumpen und dabei gigantische Muster bilden.
Wellenberge aus abertausend Galaxien
Die großräumigen Strukturen, die dabei hervortreten, erinnern vordergründig an die Schaumkronen kosmischer Wellenberge. Sie gelten als Überbleibsel von Vorgängen, als das Universum noch wesentlich jünger und kleiner war. Durch das dichte und extrem heiße Plasma liefen damals akustische Wellen, die Forscher als akustische Baryonenoszillationen bezeichnen; sie drückten die Materie in Regionen hoher und niedriger Dichte mit vergleichsweise regelmäßigem Abstand dazwischen. Als sich das Plasma langsam abkühlte, konnten dort die ersten Sterne und mit ihnen die ersten Galaxien entstehen. So entwickelte sich aus den Spuren der Wellen schließlich das heutige Bild einer weitverzweigten Struktur von fadenförmigen Filamenten und flächigen Anordnungen.
Auf die Regelmäßigkeit des Wellenmusters mit seinen gleichmäßigen Abständen stießen Astronomen im Jahr 2005. Dabei fiel ihnen auch auf, dass das Phänomen als eine Art kosmisches Metermaß dienen könnte [1]: Im heutigen Universum ist der Abstand der Wellenkämme auf rund 150 Megaparsec (500 Millionen Lichtjahre) angewachsen. Indem nun BOSS Abweichungen von diesem Raster ausmacht, könnte es den Einfluss der Dunklen Energie genauer dingfest machen als alle bisherigen Experimente.
Die ersten Hinweise auf die Existenz dieser ominösen Macht lieferte im Jahr 1998 eine umfassende Auswertung von Typ-Ia-Supernovae. Das Besondere an diesen Sternenexplosionen ist, dass sie alle vermutlich annähernd dieselbe Maximalhelligkeit erreichen. So können sie als "Standardkerzen" eingesetzt werden, mit denen sich die Entfernung ihrer Heimatgalaxie bestimmen lässt. Kombiniert man diese Daten mit der zuvor ermittelten Fluchtgeschwindigkeit einer solchen Supernova, zeigt sich, dass das Universum zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich schnell expandierte. Genauer gesagt: dass es sich immer rascher ausdehnte. Dabei hatten Astronomen ursprünglich noch spekuliert, dass das All auf Grund der Gravitation in seiner Expansionsgeschwindigkeit nachlassen würde.
Beschleunigung aus dem Nichts
Eine Erklärung für die Beschleunigung ist, dass die Dunkle Energie identisch ist mit der "kosmologischen Konstante", einem abstoßend wirkenden Druck, der aus dem Vakuum des Alls erwächst. Die Unsicherheiten, mit denen Vertreter dieses Modells derzeit kalkulieren müssen, wird BOSS auf wenige Prozent einengen. "Das ist um ein Vielfaches besser als alles, was wir heute haben", meint Schlegel.
Chris Blake, Astronom von der Swinburne University of Technology in Melbourne glaubt, dass BOSS "noch mindestens für die kommenden fünf Jahre 'state of the art' bleiben wird. Ganz ohne Zweifel." Der Forscher war an einer Arbeitsgruppe beteiligt, die im Rahmen des WiggleZ-Surveys akustische Baryonenoszillationen erforscht hat. Mit dem 3,9-Meter-Teleskop des Siding-Spring-Observatoriums – eine anglo-australische Kooperation – hatten sie dazu annähernd 240 000 Galaxien beobachtet und dabei genug Daten gesammelt, um verkünden zu können, dass sich auch unabhängig von Supernova-Messungen die Wirkung Dunkler Energie eindeutig nachweisen lässt [2 3].
Aber kein Projekt zur Erforschung Dunkler Energie hat bislang mit Sicherheit sagen können, ob sich die mysteriöse Kraft über die Jahrmilliarden konstant verhielt. Die definitive Antwort wird vielleicht erst ein neues Experiment liefern, mit dem die Wissenschaftler der BOSS-Kooperative seit einiger Zeit liebäugeln: BigBOSS würde ein nochmals deutlich größeres Volumen durchforsten und dabei 20 Millionen Galaxien ins Visier nehmen, die bis zu 3,1 Milliarden Parsec entfernt wären. Hinzu kämen noch vier Millionen Quasare, hell leuchtende Galaxienkerne aus den Jugendjahren des Universums. Insgesamt würde dies den Astronomen erlauben, den Großteil der kosmischen Geschichte abzudecken und etwaige Veränderungen in der Wirkung Dunkler Energie nachzuweisen.
Der wahre BOSS
An die Stelle der Aluminiumplatten aus dem BOSS-Experiment, die mühsam von Hand angefertigt werden müssen, würde allerdings ein weiterentwickeltes System treten. Es wäre in der Lage, die Spitzen von Glasfasern rechnergesteuert so zu positionieren, dass sie die Aufgabe der Bohrlöcher übernehmen können. Ein Budget von 70 Millionen US-Dollar haben die Forscher bereits beim National Optical Astronomy Observatory beantragt, um das 4-Meter-Mayall-Teleskop auf dem Kitt Peak in Arizona mit der neuen Messeinrichtung auszustatten. Geht der Antrag durch, wollen sie im Jahr 2018 mit der fünfjährigen Durchmusterung beginnen.
"BigBOSS schöpft Daten ab, von denen wir bislang glaubten, dass man sie nur vom Weltraum aus messen kann."David Schlegel
Laut Schlegel könnte ein solches Verfahren deutlich präzisere Daten liefern als wesentlich teurere Weltraummissionen zur Erforschung der Baryonenoszillation, die derzeit ebenfalls in der Diskussion sind. Dazu zählt etwa das Wide-Field Infrared Survey Telescope, das die NASA geschätzte 1,6 Milliarden US-Dollar kosten würde. "BigBOSS schöpft Daten ab, von denen wir bislang glaubten, dass man sie nur vom Weltraum aus messen kann", sagt Schlegel.
Aufwind erhielten Experimente zur Erforschung akustischer Baryonenoszillationen, weil die Supernova-Studien in ihrer statistischen Aussagekraft zu schwächeln begonnen haben. Der Grund: Längst ist nicht mehr klar, ob die sterbenden Sterne tatsächlich so einheitlich explodieren wie lange geglaubt. Darüber hinaus versprechen die neuen Experimente einigen Zusatznutzen. So könnten sie auch dazu beitragen, den Effekt der Schwerkraft auf Bewegungen innerhalb der Galaxienhaufen aufzudröseln. "Wir können erkennen, wie Galaxien in diese Cluster hineingezogen werden", erklärt Blake.
Unerwarteter Zusatznutzen
Damit wiederum lassen sich womöglich bald Alternativerklärungen zur Dunklen Energie ausschließen, die nicht auf dem Konzept der kosmologischen Konstante aufbauen. Beispielsweise wurde bereits vorgeschlagen, dass die allgemeine Relativitätstheorie bei Distanzen dieser Größenordnung nicht mehr greift. "Es könnte durchaus sein, dass es da die eine oder andere Überraschung gibt, was die Schwerkraft angeht", findet etwa Josh Frieman, ein Astronom vom Fermilab in Batavia (US-Bundesstaat Illinois).
Sein Mittel der Wahl, um diese Frage zu klären, ist die Suche nach schwachen Gravitationslinseneffekten. Dabei verändert eine große nahe Materieansammlung scheinbar die Form dahinterliegender entfernter Galaxien. Beim Dark Energy Survey, dem Frieman vorsteht, wollen die Wissenschaftler noch in diesem Jahr damit beginnen, rund 300 Millionen Galaxien mit Hilfe einer 570-Megapixel-Kamera zu fotografieren, die sie am Blanco, einem 4-Meter-Teleskop des Cerro Tololo Inter-American Observatory in Chile, installiert haben.
Als Problem könnten sich allerdings Störungen in der Atmosphäre erweisen, die die Auflösung verringern und schon anderen erdgestützten Teleskopen bei der Suche nach dem schwachen Linseneffekt einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Experimente wie BigBOSS hingegen benötigen lediglich das Spektrum einer Galaxie und kein hochaufgelöstes Bild davon. Daher stellen die Verzerrungen durch die Atmosphäre ein geringeres Problem für sie dar.
Saul Perlmutter, der für die Entdeckung der kosmischen Beschleunigung einst mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, glaubt daher auch, dass sich ein Projekt wie BigBOSS selbst dann auszahlen würde, wenn es die wahre Natur der Dunklen Energie weiterhin im Dunklen belassen würde. Denn mit unerwarteten Effekten sei immer zu rechnen, wie schon seine eigene Supernova-Studie belege: Ursprünglich hatte er mit seinen Kollegen nur schnell nachweisen wollen, dass sich das Universum in seiner Ausdehnung langsam abbremst – und dann das genaue Gegenteil gefunden. "Wir haben gerade eine Glückssträhne", sagt er. "Jetzt heißt es, bloß nicht auszusteigen!"
Dieser Artikel ist eine Übersetzung von "Survey tunes in to dark energy", erschienen in: Nature 481, S. 10–11, 2012
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