Netnografie: Stammeskundler im Online-Dschungel
Mit Methoden aus der Völkerkunde lassen sich auch Netzgemeinschaften erforschen. Doch wo liegen die Grenzen dieser "Netnografie"? Das diskutierten jetzt Forscher auf einer Tagung in Köln.
Computermaus statt Tropenhelm – Ethnologen von heute treffen ihre Forschungsobjekte nicht mehr nur in abgelegenen Weltgegenden. Ja, sie treffen sie nicht einmal mehr in der realen Welt. Denn wer sich hierzulande den Apple-Usern oder der Hobbydichterszene nähern will, muss zwangsläufig ins Netz. Hier kommunizieren Sub- und Fankulturen wie Punks oder Star-Trek-Anhänger, hier tauschen sich Konsumenten aus.
Doch wie charakterisiert man solche Gemeinschaften? Wie versteht man ihre Funktionsweise und ihren inneren Zusammenhalt? Die Antwort suchen online-interessierte Marktforscher und Soziologen immer öfter mit den Methoden der Ethnografie, die einst die klassischen Völkerkundler zur Beobachtung und Beschreibung fremder Kulturen entwickelten. Die Idee dahinter firmiert unter dem griffigen Namen "Netnografie" und stand jüngst im September beim "Netnocamp" in den Räumen der Kölner IHK im Mittelpunkt.
Nur folgerichtig, dass bei den rund 65 Tagungsteilnehmern von "Urban Tribes" die Rede war – oder von den für Firmen besonders interessanten "Consumer Tribes", dem "Stamm" der Schokoladen-Connaisseure etwa. Tatsächlich würden sich in solchen Szenen Rituale und Hierarchien ausmachen lassen, die an die klassischen Forschungsfelder der Kulturwissenschaftler erinnern.
Von indigenen Stämmen zu Consumer Tribes
Solche konzeptuellen Parallelen erlauben es, herkömmliche Methoden und theoretische Ansätze auf die Welt des Internets zu übertragen, gelten aber gewiss nur mit Einschränkung: Anders als in seinen Stamm oder seine Religion wird man in eine Online-Gemeinschaft nicht hineingeboren. So schnell man Aufnahme findet, so rasch kann man wieder daraus verschwinden.
Dennoch sieht sich die Netnografie fest verankert in der Forschungstradition am Offline-Subjekt, wie der Kölner Soziologe Klaus Janowitz mit seinem Einführungsvortrag zeigte, in dem er die Entwicklung der Ethnologie nachzeichnete. Von der traditionellen Völkerkunde führte sie über die Kulturanthropologie zur Erforschung heimischer Kulturen und schließlich zur Erkundung so genannter translokaler Vergemeinschaftungen. An diesem "globalen Dorf" können weder Marktforscher noch Ethnologen oder Soziologen vorübergehen.
Idealtypisch für den Ansatz der Ethnografie ist das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung. Und Gleiches gilt für die Netnografie. Andere Soziologen oder Marktforscher analysieren entweder die Kommunikation in Onlinegemeinschaften quantitativ, ohne sich an ihr zu beteiligen, oder befragen in künstlichen Umgebungen wie Konsumenten-Panels ihre Teilnehmer. Netnografen sollen sich hingegen gezielt in das "natürliche Setting" begeben – so forderte es Robert V. Kozinets, der "Vater" der Netnografie: Die Wissenschaftler tauchen in die jeweilige Szene ein, erwerben profundes Wissen über Themen und Gepflogenheiten und kommunizieren mit den Mitgliedern auf Augenhöhe. Freilich sollen sie sich als Forscher zu erkennen geben, ihr Vorhaben verständlich erläutern und personenbezogene Daten aus der Kommunikation nur dann für ihre Studien verwenden, wenn ihnen dies ausdrücklich gestattet wurde.
Qualität statt Quantität
Für den Experten der York University in Toronto sind dies die wesentlichen Elemente des Forschungsansatzes. Man müsse ein guter Ethnograf sein, um ein guter Netnograf zu werden, fasste er in seiner Keynote-Ansprache zusammen, für die er aus der Heimat per Video zugeschaltet wurde. Eine Kultur könne nicht verstehen, wer sich nur auf automatisierte Analysen quantitativer Daten beschränke.
Stattdessen gelte es, ihr offen, geduldig und partnerschaftlich zu begegnen und während der Feldforschung auf Rituale und andere schwer zu quantifizierende Formen von Bedeutung zu achten. Diese Elemente im Nachhinein richtig zu interpretieren – dafür bedürfe es einer soliden Wissensbasis, wie sie sich nur der teilnehmende Beobachter aneignen könne.
Wo im Netz man seine avisierten Stammesmitglieder am wahrscheinlichsten antreffen wird, ist die erste Frage, die es bei einem netnografischen Forschungsvorhaben zu klären gilt. Dabei kann es durchaus Überraschungen geben, wie der Marktforscher Steffen Hück anhand einer Studie über Selbstbräunungsmittel demonstrierte: Besonders wertvolle Erkenntnisse gewannen er und seine Kollegen nicht aus der Selbstbräunerszene, sondern aus Bodybuilder-Communities.
Ist die Wo-Frage geklärt, steht die häufig sehr zeitaufwändige eigentliche Feldforschung an. Die großen Datenmengen, die dabei anfallen, müssen ausgewertet und interpretiert werden – zumeist durch Codierung und semantische Analysen. Am Ende steht ein Ergebnisbericht, der je nach Fragestellung auch theoretische Schlüsse oder Handlungsempfehlungen enthält. Derzeit erscheinen weltweit etwa 35 netnografische Fachartikel pro Jahr.
Zitiert oder vorgeführt?
Nicht nur die zu untersuchenden Gemeinschaften, auch das Internet selbst wird in den Metaphern der klassischen Kulturwissenschaft verstanden, und zwar zumeist als Text oder als öffentlicher Raum, als Ort, an den man sich begibt. Beide Bilder haben ihre Grenzen – und erhebliche Auswirkungen auf die netnografische Forschungsethik. Versteht man Forendiskussionen oder Twitter-Kurznachrichten als veröffentlichte Texte, liegt es nahe, sie unter Nennung ihrer Urheber zu zitieren. So veranschaulichte der Kölner Psychologe und Marktforscher Thilo Trump in seinem Vortrag eine verhaltensbasierte Twitter-Nutzertypologie und zitierte dazu vollständig einzelne Beiträge, so genannte Tweets, einschließlich der Nutzerbilder und -namen.
Bei mindestens zwei der neun Nutzertypen – den "Impulsiven", die Twitter wie ein Tagebuch verwenden und ihren Gefühlen freien Lauf lassen, und den "Chattern", die Tweets wie SMS einsetzen – wirkte die Verwendung dieser aus dem Kontext herausgelösten, ihrer intendierten Flüchtigkeit beraubten Zitate von eindeutig erkennbaren, zum Teil sehr jungen und unerfahrenen Nutzern jedoch ethisch problematisch.
Vermutlich ist es kein Zufall, dass diese Nutzertypologie aus einer nichtteilnehmenden Beobachtung abgeleitet wurde: Die Forscher haben sich der Gemeinschaft, deren Äußerungen sie auswerteten, nicht vorgestellt; die Twitterer erfuhren nicht, dass sie Studienobjekte wurden. Überhaupt wurde in keinem der vier beim Netnocamp vorgestellten Projekte ein strikt netnografischer Ansatz im Sinne einer aktiv teilnehmenden Beobachtung und einer Immersion in die jeweilige Onlinegemeinschaft verfolgt: Zwei der Arbeiten drehten sich um Webmonitoring beziehungsweise Social-Media-Monitoring, der automatisierten Auswertung einer großen Zahl von Inhalten. Bei den beiden anderen haben die Forscher Gemeinschaften beobachtet, ohne sich an ihnen zu beteiligen.
Online- und Offlinesphäre verschmelzen
Wegen des hohen Zeit- und Datenschutzaufwands werden klassische netnografische Arbeiten in der Marktforschung wohl auch in Zukunft die Ausnahme bleiben. In anderen Forschungsgebieten wie der Organisations- oder Religionssoziologie wird dagegen schon länger echte Netnografie betrieben, ohne dass die Wissenschaftler ihren Ansatz so nennen würden. Ein Austausch mit solchen Forschern würde künftige Konferenzen zur Exploration der Online-Welt sehr bereichern, hieß es unter den Tagungsteilnehmern. Zum einen könnte dies Marktforscher für die ethische Dimension ihrer Arbeit sensibilisieren, zum anderen würde so den an reines Social-Media-Monitoring gewohnten Analysten die Vorteile einer teilnehmenden Beobachtung der jeweiligen Kultur eher bewusst.
Zudem verschwimmen mittlerweile die Grenzen zwischen Online und Offline: Bei genauerem Hinschauen dürfte sich die noch vor wenigen Jahren von vielen Forschern getroffene Unterscheidung zwischen virtueller und realer Welt oder zwischen parasozialen und sozialen Beziehungen als obsolet erweisen. Insbesondere Jugendliche gehen heute nicht mehr bewusst online, sondern stehen ständig (auch) online mit ihrer Peergroup in Verbindung.
Gut möglich daher, dass die Netnografie, kaum dass sie durch Fachpublikationen Konturen gewinnt und durch Veranstaltungen wie das Netnocamp Bekanntheit erlangt, schon bald erste Auflösungserscheinungen zeigen wird. Einfach verschwinden wird sie hingegen wahrscheinlich nicht, sondern eher in die Vielzahl von "Bindestrich-Soziologien" eingehen: Keine dieser Spezialdisziplinen kann es sich heute noch leisten, die Bedeutung und die Besonderheiten von Online-Gemeinschaften zu ignorieren.
Doch wie charakterisiert man solche Gemeinschaften? Wie versteht man ihre Funktionsweise und ihren inneren Zusammenhalt? Die Antwort suchen online-interessierte Marktforscher und Soziologen immer öfter mit den Methoden der Ethnografie, die einst die klassischen Völkerkundler zur Beobachtung und Beschreibung fremder Kulturen entwickelten. Die Idee dahinter firmiert unter dem griffigen Namen "Netnografie" und stand jüngst im September beim "Netnocamp" in den Räumen der Kölner IHK im Mittelpunkt.
Nur folgerichtig, dass bei den rund 65 Tagungsteilnehmern von "Urban Tribes" die Rede war – oder von den für Firmen besonders interessanten "Consumer Tribes", dem "Stamm" der Schokoladen-Connaisseure etwa. Tatsächlich würden sich in solchen Szenen Rituale und Hierarchien ausmachen lassen, die an die klassischen Forschungsfelder der Kulturwissenschaftler erinnern.
Von indigenen Stämmen zu Consumer Tribes
Solche konzeptuellen Parallelen erlauben es, herkömmliche Methoden und theoretische Ansätze auf die Welt des Internets zu übertragen, gelten aber gewiss nur mit Einschränkung: Anders als in seinen Stamm oder seine Religion wird man in eine Online-Gemeinschaft nicht hineingeboren. So schnell man Aufnahme findet, so rasch kann man wieder daraus verschwinden.
Dennoch sieht sich die Netnografie fest verankert in der Forschungstradition am Offline-Subjekt, wie der Kölner Soziologe Klaus Janowitz mit seinem Einführungsvortrag zeigte, in dem er die Entwicklung der Ethnologie nachzeichnete. Von der traditionellen Völkerkunde führte sie über die Kulturanthropologie zur Erforschung heimischer Kulturen und schließlich zur Erkundung so genannter translokaler Vergemeinschaftungen. An diesem "globalen Dorf" können weder Marktforscher noch Ethnologen oder Soziologen vorübergehen.
Idealtypisch für den Ansatz der Ethnografie ist das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung. Und Gleiches gilt für die Netnografie. Andere Soziologen oder Marktforscher analysieren entweder die Kommunikation in Onlinegemeinschaften quantitativ, ohne sich an ihr zu beteiligen, oder befragen in künstlichen Umgebungen wie Konsumenten-Panels ihre Teilnehmer. Netnografen sollen sich hingegen gezielt in das "natürliche Setting" begeben – so forderte es Robert V. Kozinets, der "Vater" der Netnografie: Die Wissenschaftler tauchen in die jeweilige Szene ein, erwerben profundes Wissen über Themen und Gepflogenheiten und kommunizieren mit den Mitgliedern auf Augenhöhe. Freilich sollen sie sich als Forscher zu erkennen geben, ihr Vorhaben verständlich erläutern und personenbezogene Daten aus der Kommunikation nur dann für ihre Studien verwenden, wenn ihnen dies ausdrücklich gestattet wurde.
Qualität statt Quantität
Für den Experten der York University in Toronto sind dies die wesentlichen Elemente des Forschungsansatzes. Man müsse ein guter Ethnograf sein, um ein guter Netnograf zu werden, fasste er in seiner Keynote-Ansprache zusammen, für die er aus der Heimat per Video zugeschaltet wurde. Eine Kultur könne nicht verstehen, wer sich nur auf automatisierte Analysen quantitativer Daten beschränke.
Stattdessen gelte es, ihr offen, geduldig und partnerschaftlich zu begegnen und während der Feldforschung auf Rituale und andere schwer zu quantifizierende Formen von Bedeutung zu achten. Diese Elemente im Nachhinein richtig zu interpretieren – dafür bedürfe es einer soliden Wissensbasis, wie sie sich nur der teilnehmende Beobachter aneignen könne.
Wo im Netz man seine avisierten Stammesmitglieder am wahrscheinlichsten antreffen wird, ist die erste Frage, die es bei einem netnografischen Forschungsvorhaben zu klären gilt. Dabei kann es durchaus Überraschungen geben, wie der Marktforscher Steffen Hück anhand einer Studie über Selbstbräunungsmittel demonstrierte: Besonders wertvolle Erkenntnisse gewannen er und seine Kollegen nicht aus der Selbstbräunerszene, sondern aus Bodybuilder-Communities.
Ist die Wo-Frage geklärt, steht die häufig sehr zeitaufwändige eigentliche Feldforschung an. Die großen Datenmengen, die dabei anfallen, müssen ausgewertet und interpretiert werden – zumeist durch Codierung und semantische Analysen. Am Ende steht ein Ergebnisbericht, der je nach Fragestellung auch theoretische Schlüsse oder Handlungsempfehlungen enthält. Derzeit erscheinen weltweit etwa 35 netnografische Fachartikel pro Jahr.
Zitiert oder vorgeführt?
Nicht nur die zu untersuchenden Gemeinschaften, auch das Internet selbst wird in den Metaphern der klassischen Kulturwissenschaft verstanden, und zwar zumeist als Text oder als öffentlicher Raum, als Ort, an den man sich begibt. Beide Bilder haben ihre Grenzen – und erhebliche Auswirkungen auf die netnografische Forschungsethik. Versteht man Forendiskussionen oder Twitter-Kurznachrichten als veröffentlichte Texte, liegt es nahe, sie unter Nennung ihrer Urheber zu zitieren. So veranschaulichte der Kölner Psychologe und Marktforscher Thilo Trump in seinem Vortrag eine verhaltensbasierte Twitter-Nutzertypologie und zitierte dazu vollständig einzelne Beiträge, so genannte Tweets, einschließlich der Nutzerbilder und -namen.
Bei mindestens zwei der neun Nutzertypen – den "Impulsiven", die Twitter wie ein Tagebuch verwenden und ihren Gefühlen freien Lauf lassen, und den "Chattern", die Tweets wie SMS einsetzen – wirkte die Verwendung dieser aus dem Kontext herausgelösten, ihrer intendierten Flüchtigkeit beraubten Zitate von eindeutig erkennbaren, zum Teil sehr jungen und unerfahrenen Nutzern jedoch ethisch problematisch.
Vermutlich ist es kein Zufall, dass diese Nutzertypologie aus einer nichtteilnehmenden Beobachtung abgeleitet wurde: Die Forscher haben sich der Gemeinschaft, deren Äußerungen sie auswerteten, nicht vorgestellt; die Twitterer erfuhren nicht, dass sie Studienobjekte wurden. Überhaupt wurde in keinem der vier beim Netnocamp vorgestellten Projekte ein strikt netnografischer Ansatz im Sinne einer aktiv teilnehmenden Beobachtung und einer Immersion in die jeweilige Onlinegemeinschaft verfolgt: Zwei der Arbeiten drehten sich um Webmonitoring beziehungsweise Social-Media-Monitoring, der automatisierten Auswertung einer großen Zahl von Inhalten. Bei den beiden anderen haben die Forscher Gemeinschaften beobachtet, ohne sich an ihnen zu beteiligen.
Online- und Offlinesphäre verschmelzen
Wegen des hohen Zeit- und Datenschutzaufwands werden klassische netnografische Arbeiten in der Marktforschung wohl auch in Zukunft die Ausnahme bleiben. In anderen Forschungsgebieten wie der Organisations- oder Religionssoziologie wird dagegen schon länger echte Netnografie betrieben, ohne dass die Wissenschaftler ihren Ansatz so nennen würden. Ein Austausch mit solchen Forschern würde künftige Konferenzen zur Exploration der Online-Welt sehr bereichern, hieß es unter den Tagungsteilnehmern. Zum einen könnte dies Marktforscher für die ethische Dimension ihrer Arbeit sensibilisieren, zum anderen würde so den an reines Social-Media-Monitoring gewohnten Analysten die Vorteile einer teilnehmenden Beobachtung der jeweiligen Kultur eher bewusst.
Zudem verschwimmen mittlerweile die Grenzen zwischen Online und Offline: Bei genauerem Hinschauen dürfte sich die noch vor wenigen Jahren von vielen Forschern getroffene Unterscheidung zwischen virtueller und realer Welt oder zwischen parasozialen und sozialen Beziehungen als obsolet erweisen. Insbesondere Jugendliche gehen heute nicht mehr bewusst online, sondern stehen ständig (auch) online mit ihrer Peergroup in Verbindung.
Gut möglich daher, dass die Netnografie, kaum dass sie durch Fachpublikationen Konturen gewinnt und durch Veranstaltungen wie das Netnocamp Bekanntheit erlangt, schon bald erste Auflösungserscheinungen zeigen wird. Einfach verschwinden wird sie hingegen wahrscheinlich nicht, sondern eher in die Vielzahl von "Bindestrich-Soziologien" eingehen: Keine dieser Spezialdisziplinen kann es sich heute noch leisten, die Bedeutung und die Besonderheiten von Online-Gemeinschaften zu ignorieren.
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