Direkt zum Inhalt

Phi-Meson: Starke Wechselwirkung wirbelt die Theorie durcheinander

Die starke Wechselwirkung – eine der vier Grundkräfte der Physik – hält unsere Atome zusammen. Eine Forschergruppe hat nun unerwartete Fluktuationen entdeckt, die bisherige Theorien nicht erklären können.
Der STAR-Detektor des Relativistic Heavy Ion Collider
Der Relativistic Heavy Ion Collider lieferte ein rätselhaftes Ergebnis. Erklären lässt es sich nur mit Hilfe der starken Wechselwirkung, deren fluktuierende Felder auf diese Weise erstmals gemessen werden konnten.

Die starke Wechselwirkung ist schwer zu fassen und für Menschen nicht gerade intuitiv: Einerseits ist sie die stärkste der vier bekannten Grundkräfte der Physik – stärker als die schwache Wechselwirkung, die elektromagnetische Wechselwirkung und die Gravitation. Andererseits wirkt sie nur über winzige Distanzen im subatomaren Bereich. Und trotz ihrer Stärke lässt sich ihr Verhalten weder gut beobachten noch mathematisch präzise vorhersagen. Dennoch ist sie unbestritten von zentraler Wichtigkeit für die Materie: Sie ist es, die die Quarks zusammenhält, aus denen die Protonen und Neutronen eines Atomkerns bestehen.

Eine Forschergruppe am Brookhaven National Laboratory auf Long Island, New York, liefert nun überraschende neue Einblicke in das Verhalten der starken Wechselwirkung. Die im Fachmagazin »Nature« veröffentlichten Ergebnisse kamen so unerwartet, dass Theoretiker neue Modelle entwickeln mussten, um sie zu erklären. Sofern sich die Ergebnisse bestätigen, hat dieses Experiment erstmals gezeigt, wie das Feld der starken Wechselwirkung über kurze Entfernungen variiert.

»Die lokalen Fluktuationen der starken Wechselwirkung wurden unseres Wissens nie zuvor gemessen«, sagt Aihong Tang, Physiker im Brookhavener Team. Die Entdeckung werde es der Wissenschaft ermöglichen, »die starke Kraft aus einer anderen Perspektive zu untersuchen«, sagt Tang.

»Seltsames Teilchen« rotiert im Plasmastrudel

Auf der Suche nach der starken Wechselwirkung haben Organisationen auf der ganzen Welt Milliarden in Teilchenbeschleuniger gesteckt. Wenn Atome in gewaltigen Kollisionen auseinanderbrechen, werden Quarks und die Austauschteilchen der starken Wechselwirkung, die Gluonen, für winzige Sekundenbruchteile in einem Wirbel aus extrem heißen Plasma freigesetzt. Beim anschließenden Abkühlen verbinden sie sich wieder zu neuen, seltenen Teilchen.

Eines dieser bizarren Teilchen ist das so genannte Phi-Meson. Es steht im Mittelpunkt der neuen Ergebnisse. Im Gegensatz zu Protonen und Neutronen, die jeweils aus drei Quarks bestehen, sind Mesonen aus einem Quark und einem Antiquark zusammengesetzt. Quarks gibt es in sechs verschiedenen »Flavours« (englisch für Aroma oder Geschmack). Das Phi-Meson besteht aus einem Quark und seinem Antiquark, die beide den Flavour »strange« tragen, zu Deutsch »seltsam«.

»Es ist, als würden zwei Müllwagen ineinanderfahren, und dann fliegt der komplette Abfall heraus. Jetzt möchte man sehen, wie ein Apfel und eine Banane in zwei verschiedene Richtungen geschleudert werden«Karl Slifer, Kernphysiker

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollten in ihrem Experiment herausfinden, ob das rotierende Quark-Gluon-Plasma, das direkt nach der Kollision entsteht, auch das Phi-Meson mitreißt – wie einen Wasserball in einem Strudel. Dass diese so genannte Spinpolarisation auftreten würde, war nicht selbstverständlich, sie wurde aber bereits bei anderen exotischen Teilchen beobachtet. Die Hoffnung der Fachleute: Ob und wie die Teilchen an die sich drehenden Quarks und Gluonen koppeln, könnte etwas darüber verraten, wie die starke Wechselwirkung die Materie um uns herum zusammenhält.

Allerdings ist eine solche Messung alles andere als einfach: Man benötigt eine automatisierte Software, die die Phi-Mesonen aus Tausenden neu entstandener Teilchen herausfiltert. »Es ist, als würden zwei Müllwagen ineinanderfahren, und dann fliegt der komplette Abfall heraus. Jetzt möchte man sehen, wie ein Apfel und eine Banane in zwei verschiedene Richtungen geschleudert werden«, veranschaulicht der Kernphysiker Karl Slifer der University of New Hampshire, USA, die Herausforderung. »Es ist einfach eine riesige Menge an Informationen, die man analysieren muss«, sagt Slifer, der nicht an dem neuen Experiment beteiligt war.

Die Messergebnisse verblüffen

Tatsächlich gelang es den Forschenden, die schwer fassbaren Teilchen aufzuspüren. Dabei beobachteten sie völlig Unerwartetes: Die Phi-Mesonen drehten sich zwar tatsächlich mit der Quark-Gluon-Suppe mit – allerdings auf eine Weise, die weit von den theoretischen Vorhersagen entfernt war.

Phi-Mesonen können sich in eine von drei Richtungen drehen, man spricht von ihrem Spin. Wäre der Spin von der wirbelnden Teilchensuppe unbeeinflusst, würde jede dieser Spinrichtungen gleich häufig auftreten. Schon eine kleine Abweichung von dieser Drittelquote wiese darauf hin, dass der Spin des Phi-Mesons durch den sich drehenden Impuls der Suppe beeinflusst wurde. Doch die Forscher fanden nicht nur eine kleine, sondern eine extreme Abweichung von der Ein-Drittel-Wahrscheinlichkeit. Sie war 1000-mal größer, als es herkömmliche Modelle erklären konnten. Die bekannten Faktoren – zum Beispiel der Einfluss elektromagnetischer Felder auf den Spin – können einen so großen Unterschied schlichtweg nicht hervorrufen. Dieses vorläufige Ergebnis gab das Team bereits 2017 bekannt, was die Fachwelt damals schon erstaunte.

»Wir haben uns wirklich den Kopf zerbrochen und gefragt: Was ist hier los?«, sagt Xin-Nian Wang, ein theoretischer Physiker am Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien. An den ursprünglichen Brookhaven-Experimenten war Wang nicht beteiligt, er hat jedoch geholfen, Publikationen über die Ergebnisse zu begutachten. »Ich habe ihnen damals nicht geglaubt: ›Nein, das ist unglaublich, das ist zu groß‹«, erinnert sich Wang.

»Irgendwann wurde uns bewusst, dass es etwas sein könnte, das wir als Theoretiker noch nicht verstanden haben«Xin-Nian Wang, theoretischer Physiker am Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien, USA

Das Brookhaven-Team war ebenfalls skeptisch und führte die Analyse immer wieder durch – und kam jedes Mal zum selben scheinbar unmöglichen Ergebnis. »Irgendwann wurde uns bewusst, da haben wir als Theoretiker vielleicht etwas noch nicht verstanden«, sagt Wang.

Anscheinend hatten sie etwas Zentrales übersehen: Elektromagnetische Felder mögen nicht stark genug sein, um den Spin der Phi-Mesonen zu beeinflussen; doch was ist mit Feldern, die durch die starke Wechselwirkung hervorgerufen werden? Felder entstehen, wenn sich geladene Teilchen bewegen. Im Elektromagnetismus sind das sich bewegende Elektronen, bei der starken Wechselwirkung sind es sich bewegende Quarks und Gluonen. Frühere Modelle ignorierten diese Möglichkeit weitgehend, da die Auswirkungen in der Regel irrelevant sind. Selbst über typische subatomare Entfernungen würden sich die zufälligen Bewegungen von Quarks und Gluonen aufheben – und damit auch die dadurch erzeugten Felder. Es gäbe also keine Auswirkungen auf das System insgesamt, so die Annahme.

Einfluss eines übersehenen Kraftfelds

Aber auf sehr kleinen Skalen – man denke an Entfernungen, die kleiner sind als die infinitesimale Spannweite eines Protons – können die aufaddierten zufälligen Bewegungen tatsächlich von Bedeutung sein. Diese These stellen Wang und seine Kollegen in einer aktuellen Preprint-Studie auf: Die Bewegung der Phi-Mesonen selbst erzeugt ein starkes Kraftfeld, dessen winzige Veränderungen die Spinpolarisation der Mesonen selbst beeinflussen.

»Es gibt keine andere Theorie, die die Messungen erklären könnte«, sagt Bedangadas Mohanty, einer der an den Brookhaven-Experimenten beteiligten Forscher und Physiker am National Institute of Science Education and Research in Indien. Wenn die Vermutung richtig ist, haben Physiker bei diesen Experimenten zum ersten Mal derartige Fluktuationen im Feld der starken Wechselwirkung beobachtet. »Das ist völlig neu. Die Konsequenzen werden wahrscheinlich weit reichend sein«, sagt Wang.

»Es gibt keine andere Theorie, die die Messungen erklären könnte«Bedangadas Mohanty, Physiker am National Institute of Science Education and Research in Indien

Das sieht auch sein Kollege Qun Wang so, theoretischer Physiker an der University of Science and Technology China und einer der Koautoren von Xin-Nian Wang beim kürzlich erschienenen Preprint-Artikel: »Man erfährt sehr viel mehr darüber, was mit den starken Wechselwirkungen im Quark-Gluon-Feuerball passiert.« Das Verständnis dieser Wechselwirkungen ist das dringendste Ziel der heutigen Teilchenbeschleunigerexperimente.

Zum Test ihrer Hypothese planen die Brookhavener Wissenschaftler, ihr Experiment mit einem anderen Meson, dem so genannten J/ψ-Meson, zu wiederholen. Dieses Meson, auch Psion genannt, besteht aus einem Quark-Antiquark-Paar mit einem anderen Flavour. Die Annahme: Wenn Phi-Mesonen zum starken Kraftfeld beitragen können, sollten dies auch ihre Verwandten tun – und die Spinpolarisationen der J/ψ-Mesonen sollten daher in ähnlicher Weise von den daraus resultierenden Schwankungen beeinflusst werden.

Obgleich wir es hier mit physikalischen Prozessen auf extrem kleinen Skalen zu tun haben, wären solche Experimente alles andere als eine Kleinigkeit: Die winzigen Bewegungen rasch vergänglicher Teilchen in einem Billionen Grad heißen Plasmastrudel zu verfolgen, ist so, als würde man versuchen, ein Stück Holz nur aus seiner Asche zu rekonstruieren. »Man muss die Herausforderung anerkennen«, sagt Mohanty. Dass sich überhaupt jemand daran versucht, zeigt, wie wichtig diese grundlegenden Wahrheiten sind: Schließlich geht es um ein besseres Verständnis der Kraft, die uns alle zusammenhält.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.