Steinzeitumzug: Stand Stonehenge vorher woanders?
Vier bläulich schimmernde Steine sind alles, was von Waun Mawn übrig geblieben ist. Wenn Mike Parker Pearson Recht hat, gibt es gute Gründe, warum vom immerhin drittgrößten Steinkreis Großbritanniens nur noch spärliche Reste vorhanden sind: So ist das Team um den Archäologen vom University College London (UCL) davon überzeugt, dass Waun Mawn im Westen von Wales den Ursprung und das Material für die früheste Phase des weltweit berühmtesten Steinkreises lieferte, der gewaltigen Anlage von Stonehenge im Südwesten Englands.
Es wäre eine fantastische Entdeckung, über die Parker Pearson im Fachmagazin »Antiquity« berichtet. Die ersten Bauern Britanniens hätten demnach um 3400 v. Chr. damit begonnen, aus rund 50 jeweils gut zwei Tonnen schweren Dolerit-Blöcken, die wegen ihres Farbtons auch Blausteine genannt werden, einen Steinkreis zu errichten. Der Durchmesser der Anlage in den Preseli-Bergen betrug 110 Meter. Nach einigen Jahrhunderten bauten sie den Ring ab, transportierten die meisten Steine rund 280 Kilometer Richtung Südosten in die Salisbury Plain und richteten sie dort wieder auf – als Stonehenge. Mike Parker Pearson ist sich sicher: Die erste Phase des berühmten Steinkreises war eine Kopie von Waun Mawn, jener zwar größer und eindrucksvoller angelegt, in seinen Grundzügen jedoch quasi identisch.
Wer heute vor Stonehenge steht, sieht das Ergebnis einer langen Baugeschichte. Das Markenzeichen der Anlage sind die hoch aufragenden Sandsteinblöcke, die so genannten Sarsen. Sie bildeten einst einen gedeckten Ring, der in seinem Inneren weitere Konstruktionen einfasste: fünf Sarsensteingruppen und ringartige Formationen aus Blausteinen. Die Herkunft der durchschnittlich 20 Tonnen schweren Sarsen-Monolithe haben Archäologen jüngst geklärt: Man hatte sie aus dem 25 Kilometer nördlich von Stonehenge gelegenen West Woods herbeigeschafft.
Stonehenge sah allerdings nicht immer so aus. Als Menschen um 3000 v. Chr. die erste Anlage erbauten, hoben sie einen runden Graben aus und legten dahinter einen Erdwall an. Entlang des Walls gruben sie 56 Löcher und versenkten darin womöglich Blausteine aus den walisischen Preseli-Bergen. Der Graben dieses Stonehenge misst im Durchmesser zirka 110 Meter – genau wie der einstige Steinkreis von Waun Mawn. In den Augen von Parker Pearson stimmen die Henge-Monumente nicht zufällig in der Größe überein. Zudem befindet sich bei beiden Anlagen der Zugang im Nordosten. Die Öffnung sei damit exakt auf den Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende ausgerichtet gewesen.
Preseli-Berge: Wo die Riesen Steine stapelten
War also der einsame Ort in den Preseli-Bergen – nördlich von Pembrokeshire im Westen von Wales – der Vorläufer von Stonehenge? Gut vorstellbar ist, dass die Gegend für die Erbauer eine besondere, womöglich sogar magische Anziehungskraft besessen hat. Waun Mawn wirkt wie ein gewaltiges Bauwerk aus zweieinhalb Meter hohen Blausteinen, die mancherorts in den Preseli-Bergen wie aufgehäuft herumliegen – als hätten Riesen sie gestapelt. Die ersten Bauern Britanniens, die sich im Tal des Flusses Nevern niederließen, holten die blauen Blöcke aus den Steinbrüchen und stellten sie in großen Kreisen auf. Auch in Waun Mawn verlief ein Ring über einen sanften Hang. Von der höchsten Stelle des Hügels aus war im Westen die irische Küste zu sehen, im Norden die Berge von Snowdonia. Auch die Steine selbst waren aus der Ferne gut zu erkennen. »Steinkreise wurden gebaut, um Allianzen zwischen vielen verschiedenen Gruppen zu schmieden, wobei jeder Stein die Vorfahren einer Gruppe symbolisierte«, vermutet Parker Pearson.
Jahrelang hatte Parker Pearson mit seinem Team die Region in den Preseli-Bergen gründlich abgesucht. Geophysikalische Untersuchungen und Luftaufnahmen hatten jedoch keine Hinweise auf große Steinkreise geliefert. »Ich wollte schon aufgeben«, sagt der Archäologe gegenüber »Spektrum.de«. Doch der Durchbruch kam 2017: Ein Teamkollege hatte vorgeschlagen, vier Blausteine am Hang in Waun Mawn genau zu untersuchen. Ihre Lage war den Forschern schon länger bekannt, aber ihre Funktion war ungewiss. Die Archäologen begannen zu graben und entdeckten verfüllte Gruben mit Bruchsteinen – in ihnen waren einst Blausteine eingelassen und mit den Bruchsteinen verkantet worden.
Entlang eines Kreisbogens deckten sie sechs weitere Steinpositionen auf. Sie hatten, so schildert es Parker Pearson, das Zentrum eines zeremoniellen Komplexes gefunden. In der Umgebung stießen die Forscher auf zahlreiche Dolmen, Steingrabkammern sowie nördlich und südlich des Steinkreises auf weitere Anlagen, die einst mit Erdwällen und Palisaden umringt waren. Dann kam die Überraschung: Nach nur etwa zwei Jahrhunderten der Nutzung verlieren sich um 3200 v. Chr. die Spuren der damaligen Menschen. »Es scheint, als wären sie einfach verschwunden«, sagt der Archäologe. »Vielleicht sind die meisten ausgewandert und haben ihre Steine – ihre angestammte Identität – mitgenommen.«
Die Steinbrüche der Blausteine
Warum, weiß auch Parker Pearson nicht. Doch er meint, den Zielort zu kennen: Stonehenge. Dies legten Isotopenanalysen nahe. In Stonehenge waren um 3000 v. Chr. Menschen begraben worden. Zirka 16 Prozent der Toten stammten laut den Isotopenuntersuchungen an den Überresten aus Westbritannien, sehr wahrscheinlich aus Westwales – also womöglich aus der Gegend der Preseli-Berge. Aus all diesen Indizien formt Parker Pearson nun seine spektakuläre These: Im späten 4. Jahrtausend v. Chr. wanderten Menschen aus Wales Richtung Osten – samt ihren Blausteinen – und ließen sich in der Region um Stonehenge nieder.
Parker Pearson stützt sich noch auf weitere, teils ältere Beobachtungen. Schon lange ist klar, dass die Blausteine in der Ebene von Salisbury – insgesamt wohl rund 80 Stück, die in Stonehenge und dem nahe gelegenen Steinkreis Bluestonehenge aufgestellt waren – nicht aus der unmittelbaren Umgebung dieser beiden Henges kommen konnten. Schon 2015 hatte Parker Pearson mit seinem Team nachgewiesen, dass die Monolithen aus zwei 250 Kilometer entfernten Steinbrüchen an der Nordseite der Preseli-Berge stammen. Er hatte damit das seit Generationen ungeklärte Rätsel um die Herkunft der Blausteine von Stonehenge gelöst.
Aus den beiden Steinbrüchen bargen die Forscher Reste von Holzkohle und Nahrungsmitteln. Eine C-14-Datierung legte nahe, dass sich dort Menschen um 3400 v. Chr. aufgehalten und wahrscheinlich auch die Steine gebrochen hatten. Schon damals vermutete Parker Pearson, dass die jeweils zirka zwei Tonnen schweren Blöcke mehrere Jahrhunderte lang an einem Ort standen, abgebaut und auf dem Landweg nach Stonehenge transportiert wurden – denn ihre Verwendung in Stonehenge lässt sich nicht früher als dessen erste Phase um 3000 v. Chr. datieren. Nur hatte Parker Pearson damals den Ort der Erstaufstellung noch nicht entdeckt.
Das Alter von Waun Mawn – nicht eindeutig bestimmbar
Ein heißer Kandidat ist nun Waun Mawn, das Menschen offenbar zu einer Zeit angelegt hatten, als auch in den Steinbrüchen gearbeitet wurde. Parker Pearson und sein Team nahmen Proben aus den Gruben von Waun Mawn. Sie entdeckten nur wenig Holzkohle, die sich für eine Radiokarbondatierung eignete, bargen aber auch Erdreich aus den Verfüllungen der Löcher, um deren Alter mit Hilfe der optisch stimulierten Thermolumineszenz (OSL) zu bestimmen. Das Ergebnis war jedoch nicht eindeutig. Die C-14-Datierungen lieferten eine große Schwankungsbreite: Demnach war der Steinkreis von Waun Mawn in den Jahrhunderten zwischen 3600 und 3000 v. Chr. errichtet worden. Die OSL-Daten, welche die Archäologen aus der Bruchsteinpackung der Blausteine gewannen, gingen hingegen nicht über 3200 v. Chr. hinaus – sie fielen in die Zeit um 3530 v. Chr. plus/minus 330 Jahre. Daraus folgt: Spätestens um 3200 v. Chr., so vermuten die Forscher, waren die Steine aufgestellt beziehungsweise frühestens danach entfernt worden. Die Erde, die anschließend in die Steinfassungen gelangte, ist laut der OSL-Daten sehr viel jünger: Sie sammelte sich in den Jahrhunderten vor zirka 2100 v. Chr. Der Beginn von Waun Mawn liegt damit im Dunkeln. Allerdings wissen Parker Pearson und seine Kollegen, dass kein Steinkreis in Großbritannien früher als 3400 v. Chr. entstanden ist. Daher nehmen sie an, dass auch der walisische Ring in den Preseli-Bergen nicht älter sein dürfte.
Parker Pearson ist von einem Detail besonders begeistert, das seiner Einschätzung nach die Verbindung von Waun Mawn zu Stonehenge klar belegt: Ein Blaustein in Stonehenge, Nummer 62, weist einen ungewöhnlichen fünfeckigen Umriss auf, der mit einem der sechs frei gelegten Löcher in Waun Mawn übereinstimmt. »Im entsprechenden Steinloch fanden wir sogar einen Splitter aus nicht fleckigem Dolerit, der geologisch zum Stein 62 passt. Das hat mich sehr überrascht.« Die meisten Blausteine in Stonehenge bestehen aus Dolerit, der an der Oberfläche fleckig erscheint, einige wenige sind gleichmäßiger gefärbt.
Wurde Stonehenge wirklich transferiert?
Der Megalith-Experte Johannes Müller schätzt die Sache zurückhaltender ein: »Dolerite sind oft ähnlich geformt. Hier fehlt eine klare statistische Analyse in natürlichen Vorkommen. Mir geht es daher etwas zu weit mit der Fantasie.« Müller stimmt aber zu – es sei durchaus sensationell, dass die jungsteinzeitlichen Gemeinschaften Blausteine über mehrere hundert Kilometer transportierten, doch die Verwendung von Blausteinen an sich in unterschiedlichen Monumenten beweise nicht, dass es einst eine Verbindung zwischen Waun Mawn und Stonehenge gab.
Müller, prähistorischer Archäologe an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, kann sich zwar gut vorstellen, dass die Menschen einst migrierten. »Die ganze Welt war damals unterwegs – Viehtrieb, Heiratsbeziehungen, Expeditionen zu Rohstoffquellen können Gründe dafür sein«, sagt Müller. Derartige Kontakte jedoch auf bestimmte Menschen und konkrete Blausteine zu beziehen, findet er gewagt. »Der Abbau einiger Blausteine an einem Monument in Wales und deren gezielte Nutzung an einer über 250 Kilometer entfernten Stelle wäre in dieser Dimension etwas Neues«, sagt Müller. »Allein für den extrem aufwändigen Vorgang, über diese Distanz derart große Blöcke zu transportieren, gibt es kein zweites Beispiel.« Trotzdem sei Waun Mawn eine Art Proto-Stonehenge. »Allerdings ist es nur einer von vielen Vorläuferbauten«, ist Müller überzeugt. Sowohl von der Dimension als auch vom Bauprinzip habe es zahlreiche solcher Steinkreise und Konstruktionen auf den Britischen Inseln gegeben. Ein berühmtes Beispiel sei der Ring of Brodgar auf den Orkneyinseln. Sein Durchmesser beträgt 104 Meter. »Es gibt also rituell betrachtet nicht nur ein Proto-Stonehenge, sondern viele.«
Ist das letzte Rätsel um die Blausteine also doch noch nicht gelöst? Dass es um nichts weniger als das weltberühmte Stonehenge geht, macht die nüchterne wissenschaftliche Auswertung neuer Daten vermutlich nicht leichter. Parker Pearson etwa beginnt seine Studie im Fachmagazin »Antiquity« mit der ältesten bekannten Erzählung über die Ursprünge von Stonehenge. Geoffrey von Monmouth überliefert sie in seiner »Geschichte der Könige Britanniens« aus dem 12. Jahrhundert. Es ist eine Legende über den Zauberer Merlin, der eine Armee nach Irland führt, um einen magischen Steinkreis, den Tanz der Riesen, zu erobern und ihn als Stonehenge wieder aufzubauen. »Könnte die Geschichte nicht ein Körnchen Wahrheit enthalten?«, fragt Parker Pearson. Solche Überlegungen gelten womöglich vor allem den Zuschauern einer BBC-Dokumentation, die parallel zur Veröffentlichung in »Antiquity« ausgestrahlt wird und an der der Forscher mitgewirkt hat.
Doch manche Kollegen sind skeptisch, ob die schnelle Einordnung möglicher Zusammenhänge zwischen Waun Mawn und Stonehenge (zudem als Sensation in einer populären Dokumentation präsentiert) wissenschaftlich hilfreich ist. Die in Waun Mawn erhobenen naturwissenschaftlichen Daten legen das Dilemma offen. Parker Pearson und sein Team haben im Rahmen ihres Projekts »Stones of Stonehenge« zahlreiche C-14- und OSL-Daten gesammelt, die im Detail jedoch schwierig zu interpretieren sind. Die Werte suggerierten Eindeutigkeit, die es bei genauem Hinsehen nicht gebe, meint Johannes Müller. »Als mitteleuropäischer Archäologe muss ich bekennen, dass wir vorsichtiger mit der Interpretation von OSL- und Radiokarbondaten umgehen, als dies offensichtlich durch das britische Forscherteam in Waun Mawn geschehen ist.« Denn ob in Stonehenge schon um 3000 v. Chr. tatsächlich Blausteine standen oder doch erst um 2500 v. Chr., sei seines Erachtens noch nicht geklärt. Der Kieler Archäologe ist der Ansicht, dass das Team um Parker Pearson sich für die Datierungen entschieden habe, »die ins eigene Weltbild passen – es sind aber Zweifel an ihrer Interpretation angebracht«.
Weitere Grabungen sind nötig
Auch der britische Archäologe Vincent Gaffney von der University of Bradford bezweifelt, dass sich aus den Daten genügend Hinweise ergeben, um derart detailliert Wanderungen zwischen Waun Mawn und der Salisbury Plain nachzuweisen. »Die grundsätzlichen Vorschläge von Mike Parker Pearson zur Bewegung von Materialien und sogar Menschen mögen im Großen und Ganzen richtig sein«, sagt Gaffney gegenüber »Spektrum.de«. »Aber es bleibt doch ein gewisses Unbehagen über die Art und Weise, wie die Daten interpretiert werden.« Demnach ist die Hypothese, die Menschen seien mit ihren Blausteinen von Waun Mawn nach Stonehenge migriert, plausibel, aber eben längst nicht gesichert. »Weitere Ausgrabungen sind notwendig«, sagt auch Tim Kinnaird von der University of St Andrews, der die OSL-Daten von Waun Mawn ausgewertet hat. »Ohne die Pandemie wäre unser Team aber schon 2020 wieder vor Ort gewesen.«
Vermutlich sind dem von Kollegen wie Johannes Müller und Vince Gaffney geschätzten Archäologen Mike Parker Pearson all diese Unsicherheiten bewusst. Jedenfalls hat er ein Fragezeichen in den Titel seiner sonst klar formulierten Studie gesetzt. »Das ursprüngliche Stonehenge?« heißt es da mit Bezug auf Waun Mawn. Darauf angesprochen, warum der Titel eine Frage sei, antwortet Parker Pearson: »Weil es in der Archäologie arrogant ist, in einer ersten Publikation über eine neue Hypothese zu behaupten, dass man alles gelöst hat.« Das Rätsel der Blausteine am Hang über dem Nevern-Tal ist also längst nicht entschlüsselt.
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