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Coronavirus-Pandemie : »Covid-19 tötet Menschen, die nicht so bald gestorben wären«

Jeder Mensch muss sterben, jeder stirbt einmal. Doch nun gibt es mehr Tote, als üblich wären. Grund für die Übersterblichkeit: die Pandemie, sagt Demograf Timothy Riffe.
Sanduhr - Symbolbild für abgelaufene Lebenszeit

Nach offiziellen Angaben sind im Zusammenhang mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 weltweit bereits mehr als 210 000 Menschen gestorben. In Paris starben zuletzt täglich doppelt so viele Menschen wie für diese Jahreszeit üblich, in New York sogar viermal so viele. Sind diese Todesfälle alle auf Covid-19 zurückzuführen? Sind es vielleicht noch mehr, und die Toten wurden nur nicht getestet? Sterben auch hier zu Lande mehr Menschen als sonst, und falls ja, warum? Auf diese und weitere Fragen antwortet der Demograf Timothy Riffe vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock im Interview.

»Spektrum.de«: In vielen Ländern sind in den vergangenen Monaten mehr Menschen gestorben als für diesen Zeitraum üblich. Ist das neue Coronavirus Sars-Cov-2 der Grund?

Timothy Riffe: Die kurze Antwort ist: Wir wissen es noch nicht. Die lange Version lautet: Es ist kompliziert. Unbestritten ist, dass das Virus viele Todesfälle verursacht. Manche sind direkt darauf zurückzuführen, andere sind dadurch beschleunigt worden, und wieder andere sind unserer Reaktion auf das Virus geschuldet. Gleichzeitig wurden sicherlich einige Tode vermieden, die es sonst gegeben hätte, zum Beispiel durch Verkehrsunfälle. Wenn man sich in einiger Zeit die Todesstatistiken anschaut, wird man im Vergleich zu anderen Jahren eine Nettozunahme an Todesfällen feststellen. Diese Zunahme ist – in all ihrer Komplexität – der Pandemie zuzuschreiben. Allerdings gibt es viele Arten zu sterben. Um sie zu untersuchen, brauchen wir Fallzahlen, die nach Todesursache und Alter aufgetrennt sind. Diese Art von Daten liegen uns normalerweise erst vor, wenn das Jahr vorüber ist.

Timothy Riffe | Der Demograf stammt ursprünglich aus den USA. Seit 2015 arbeitet er im Arbeitsbereich Gesundheitszustand der Bevölkerung am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock.

Könnte es also sein, dass die offiziellen Zahlen weit unter der tatsächlichen Zahl der Todesfälle liegen? Sprich: Gibt es womöglich noch mehr Menschen, die an den Folgen der Lungenkrankheit Covid-19 sterben als bislang bekannt?

Es sterben deutlich mehr Menschen an Covid-19, als beispielsweise das Robert Koch-Institut herausgibt. Nicht alle dieser Menschen wurden auf das Virus getestet. Manche werden später noch getestet, weshalb die Zahlen im Nachhinein korrigiert werden. Aber es gibt auch zusätzliche Todesfälle, die nicht direkt mit dem Virus in Verbindung stehen. Darum sind die Zahlen eine grobe Unterschätzung der Sterblichkeit im Zusammenhang mit der Pandemie. Um diese zu bestimmen, muss man wissen, wie viele Menschen in einem Land insgesamt gestorben sind. Doch ein Todesfall wird niemals an dem Tag registriert, an dem er sich ereignet. Es gibt immer eine Verzögerung.

»Ein Todesfall wird niemals an dem Tag registriert, an dem er sich ereignet«
Timothy Riffe

Warum?

Die Länder erheben ihre Todesstatistiken unterschiedlich. In Deutschland werden manche Fälle zwar recht schnell registriert. Bis es repräsentative Statistiken gibt, vergehen aber zwei bis drei Wochen. Vielleicht deshalb, weil viele Dinge hier zu Lande noch in Papierform erfolgen. Außerdem haben sich die Menschen, die heute an Covid-19 sterben, nicht gestern oder vorgestern infiziert. Manche Länder haben erst reagiert, als sie die ersten Todesfälle registriert haben. Da war die Pandemie schon seit mehreren Wochen im Land.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Wenn mehr Menschen als üblich sterben, nennt sich das »Übersterblichkeit«. Ist das hier zu Lande auch der Fall?

Um das zu beantworten, brauchen wir die aktuellen Zahlen zur Gesamtsterblichkeit. Die aktuellen Daten für Deutschland gehen derzeit bis zum 15. März. Bis dahin wurde keine Übersterblichkeit verzeichnet. Aber ich glaube, dass wir eine erhöhte Sterblichkeit erkennen werden, sobald es neue Daten gibt. Die Grippewelle von 2018 hat einen sehr steilen Anstieg der Sterblichkeit verursacht. Dieser Peak wird vermutlich überschritten. Doch wir wissen noch nicht, wann und wie hoch die Zahlen sein werden. Das wissen wir erst in einem Monat oder zwei.

Was bedeutet Übersterblichkeit eigentlich genau?

Das ist eine philosophische Frage. Jeder Mensch muss sterben, und jeder stirbt nur einmal. Woher wissen wir, ob zu wenige oder zu viele Menschen sterben? Die Antwort ist: Wir erwarten regelmäßige Muster. In einem typischen Jahr sterben Menschen jeden Alters mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Das ändert sich im Lauf der Zeit, aber es ändert sich langsam und gleichmäßig. Forscher benutzen statistische Modelle, um die erwarteten Werte zu bestimmen. Die vergleichen sie dann mit denen, die sie beobachten. Alles, was über die typischen Abweichungen der Modelle hinausgeht, gilt als Überschuss. Was diesen Überschuss dramatisch macht, ist sein Ausmaß: Was derzeit in der Welt geschieht, hat es seit 1918 nicht mehr gegeben. Damals sind Millionen Menschen weltweit an der Spanischen Grippe gestorben.

In Italien, Spanien und Frankreich sind laut den offiziellen Zahlen bereits jeweils mehr als 20 000 Menschen an den Folgen von Covid-19 gestorben, in Deutschland bislang etwa 6000 – warum dieser Unterschied?

Das ist eine gute Frage. Darüber diskutieren wir schon lange. Die Pandemie hat Deutschland etwa zur selben Zeit erreicht wie andere Länder. Hier dauerte es aber viel länger, bis es schlimm wurde. Wenn ich spekulieren darf, würde ich sagen, das liegt daran, dass die täglichen Kontakte sich in Deutschland anders gestalten als in Italien, Spanien oder Frankreich. Wir küssen uns zur Begrüßung nicht auf die Wangen – das war dort im Januar, wahrscheinlich noch bis Anfang Februar, Teil des täglichen Lebens. Außerdem sehen viele ihre Eltern und Großeltern in Deutschland nicht jeden Tag. Solche Dinge können am Anfang, wenn es erst wenige Infektionen gibt, eine große Rolle spielen. Außerdem erhöhen bestimmte Vorerkrankungen das Risiko, schwer von Covid-19 betroffen zu sein. Sie sind innerhalb von Europa ungleich verteilt. Ich weiß nicht, wie groß der jeweilige Anteil dieser Faktoren ist. Aber das Ausmaß der Pandemie ist es wert, das herauszufinden.

Laut dem aktuellen Lagebericht des RKI sind weniger als fünf Prozent der Erkrankten, die in Deutschland gestorben sind, jünger als 60, danach steigt offenbar die Sterberate. 87 Prozent der Verstorbenen waren 70 Jahre oder älter. In anderen Ländern ist die Verteilung ähnlich. Manche sagen, diese Menschen wären ohnehin in absehbarer Zeit gestorben – was sagen Sie dazu?

Manche von ihnen: ja. Wenn jemand bereits im Hospiz ist und dann an Covid-19 stirbt, ist niemand wirklich überrascht. Aber Covid-19 tötet auch Menschen, die sonst nicht so bald gestorben wären. Forscher aus Großbritannien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Menschen, die in Italien an den Folgen der Krankheit gestorben sind, im Schnitt mehr als zehn Jahre ihres Lebens verloren haben. Das ist sehr viel. In die Studie waren Menschen aller Altersklassen miteinbezogen. Für jemanden, der an Diabetes leidet, aber gut damit zurechtkommt, gibt es keinen Grund, dieses Jahr zu sterben. Erkrankt er oder sie an Covid-19, steigt das Risiko dafür stark an. Die meisten Covid-19-Todesfälle sind vermutlich verfrüht. Das ist in vielerlei Hinsicht ein großer Verlust für unsere Gesellschaft. Es ist eine Tragödie.

»Das ist in vielerlei Hinsicht ein großer Verlust für unsere Gesellschaft. Es ist eine Tragödie«Timothy Riffe

Für wie tödlich halten Sie das Virus?

Bislang gibt es keine offizielle Sterberate. Doch es kommen eine Menge neuer Studien heraus. Besonders gespannt bin ich auf die Ergebnisse einer Studie des Helmholtz-Instituts. Ich hoffe, sie gibt uns ein genaueres Bild davon, wie viele Menschen sich bisher tatsächlich infiziert haben. Wir wissen bereits, dass diese Zahl viel größer ist als die Zahl der Fälle, die offiziell registriert wurden. Und trotzdem ist es nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Der potenzielle Einfluss, den diese Pandemie ausüben kann, ist immer noch sehr groß. Selbst wenn sich zehnmal mehr Menschen infiziert haben, als uns bekannt ist, hat sie noch so viel Raum, um sich auszubreiten. Diese Pandemie wird auch in den kommenden Monaten eine große Gefahr bleiben. Selbst wenn wir die genauen Zahlen noch nicht kennen – sie wird definitiv mehr Tote verursachen als eine normale Grippe.

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? | Die »Sieben-Tage-Inzidenz« gibt an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten 7 Tagen pro 100.000 Einwohner gab. Stecken sich zu viele Menschen an, sollen die Landkreise Schutzmaßnahmen ergreifen.

Sterben derzeit mehr Menschen an Herzinfarkten und dergleichen, weil sie wegen der Pandemie nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gehen?

Bisher gibt es keine Daten, die dies belegen. Aber ich nehme an, dass es Menschen gibt, die es momentan vermeiden, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.

»Es wird Kollateralschäden geben«
Timothy Riffe

Könnte auch die soziale Distanzierung – und daraus resultierende Einsamkeit – zu mehr Todesfällen führen?

Ja, ich glaube schon. Ich selbst untersuche nicht den Einfluss von Emotionen auf die Sterblichkeit. Aber andere Demografen machen das. Sie wissen, dass diese sich genauso stark auf die Sterblichkeit älterer Menschen auswirken können wie das Alter. Darum mache ich mir wirklich Sorgen. Ich mache mir auch Gedanken um Menschen mit psychischen Problemen. Der Alkoholmissbrauch wird zunehmen. Die Suizidraten werden vermutlich steigen. Es wird jedoch noch eine Weile dauern, bis wir die Statistiken haben. Ich spekuliere ungern, nur weil die Lage so ernst ist, tue ich es dennoch: Es wird Kollateralschäden geben; sowohl durch die Infektionen als auch auf Grund unserer Reaktion auf die Pandemie.

Aber gäbe es ohne Kontaktbeschränkungen, Aufenthaltsverbote und Hygieneregeln in Deutschland nicht noch viel mehr Tote?

Definitiv. Diese Richtlinien sind notwendig. Wir müssen eine zweite Welle vermeiden, solange es irgendwie geht.

Also sind Sie sicher, dass eine zweite Welle kommen wird.

Ja, auch wenn ich wünschte, ich läge damit falsch. Wann sie kommt, hängt davon ab, wie wir uns jetzt verhalten. Wie viel Disziplin wir haben, wie gut die Menschen sich an die Regeln halten, wie wir in den nächsten Monaten reagieren. Nicht jeder kann sich an alle Richtlinien halten, etwa auf Grund seiner Arbeit oder seiner finanziellen Situation. Und ab einem gewissen Punkt kann es auch ungesund sein, Regeln zu befolgen. Aber wir können aus der Geschichte lernen. Im Jahr 1918 hat die zweite Welle deutlich mehr Menschen getötet als die erste. Wer über die Lockerung von Distanzierungsmaßnahmen diskutiert, sollte das im Hinterkopf behalten.

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