Vorurteile: Was wir mit einem Akzent verbinden
In vielen Hollywoodfilmen erkennt man die Deutschen sofort am Akzent: Sie sprechen ein hartes Englisch, können das »th« nicht richtig aussprechen und verkörpern oft den diabolischen Schurken mit Nazi-Vergangenheit.
Der deutsche Psychologe Claus-Christian Carbon spricht ein sehr gutes und fast akzentfreies Englisch. Regelmäßig besucht er internationale Fachkongresse, auch in den USA. Dort macht sich der Professor hin und wieder ein anderes Klischee zu Nutze: das vom genialen deutschen Forscher à la Albert Einstein. Der fiel bekanntermaßen durch seinen starken deutschen Akzent auf.
»Ein befreundeter Kollege aus Deutschland hat mich in den USA besucht. Er saß am Steuer des Mietwagens und verhielt sich ganz und gar nicht verkehrsregelkonform. Innerhalb kürzester Zeit war die Polizei hinter uns her, wir mussten rechts ranfahren und die Scheibe herunterkurbeln«, berichtet Carbon. Der Polizist habe ziemlich grimmig in den Wagen geblickt. »Da habe ich ihn treuherzig angeschaut, meinen stärksten deutschen Akzent ausgepackt und gesagt: Sorry, we are researchers from Germany and have lost the way to our conference.« Reaktion des Polizisten: freundliches Lächeln. »Researchers from Germany? – Great. Go ahead.«
Themenwoche »Fremdsprachen lernen«
Bin ich als Erwachsener zu alt, um eine neue Sprache zu lernen? Gibt es leichte und schwere Sprachen? Ist ein ausländischer Akzent ein Problem? Und wie lernen Erwachsene am besten? Diese Themenwoche beantwortet Fragen rund um eine der schönsten Nebensachen der Welt: fremde Sprachen.
- Fremdsprachen: Die besten Lernmethoden für Erwachsene
- Bilinguale Schulen: Spielerisch zur Zweitsprache
- Linguistik: Welche Sprachen sind leicht zu lernen?
- Vorurteile: Was wir mit einem Akzent verbinden
- Alte und bedrohte Sprachen: Wozu braucht man das denn?
- Motivation: Warum es für eine neue Sprache nie zu spät ist
Ein ausländischer Akzent kann allerdings ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen: Der eine findet ihn schön, der andere mag ihn gar nicht. Dahinter stecken häufig Vorurteile und Stereotype, im guten wie im negativen Sinne. Das kann schlimmstenfalls dazu führen, dass Menschen mit einem starken ausländischen Akzent diskriminiert werden.
Nach wie vor zeigen Studien: In Deutschland haben Menschen, von denen angenommen wird, dass sie einen türkischen, arabischen oder sonstigen Migrationshintergrund haben, oft schlechtere Chancen bei der Suche nach einem Job, einem Ausbildungsplatz oder einer Wohnung. Solche negativen Bewertungen nehmen aber in den jüngeren Altersgruppen ab, was nicht verwundert: Diversität ist heute in vielen Klassenzimmern und Hörsälen von Hochschulen Normalität.
Akzente aktivieren das Kopfkino
Wie wir ausländische Akzente empfinden – warum beispielsweise Niederländisch niedlich und Russisch rau klingt –, habe auch etwas mit Erfahrungen zu tun, erläutert Claus-Christian Carbon, der an der Universität Bamberg Wahrnehmung und Gedächtnis erforscht. »Diese Erfahrungswerte aktivieren Areale im assoziativen Speicher, in den Temporallappen des Gehirns. Es ist sehr viel Kopfkino, was sich da abspielt«, sagt der Psychologe.
Das Assoziationsprinzip wurde in der Psychologie bereits in den 1860er Jahren von dem Mediziner und Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner (1801–1887) beschrieben. Und es greift in den meisten Alltagssituationen.
Man kann das an sich selbst überprüfen: Wer jahrelang einen unangenehmen Chef hatte, der sich in breitestem Wiener Schmäh ausdrückte, wird vermutlich auch später von dem Dialekt negativ getriggert. Und wenn die geliebte Oma aus Sachsen stammt und kräftig sächselt, verbinden wir damit ihren Humor und ihre liebevolle Art. Andere Menschen dagegen denken bei einem sächsischen Dialekt eher an die rechtspopulistischen Reden auf Pegida-Demos.
Mit anderen Worten: Erfahrungen sind mit Emotionen gekoppelt. Und die bestimmen, wie wir einen starken Dialekt oder ausländischen Akzent bewerten und welche Eigenschaften wir der Sprecherin oder dem Sprecher womöglich zuschreiben.
Derselbe Laut klingt mal französisch, mal nach Kreuzberger Kiez
Am liebsten mögen die Deutschen den französischen Akzent. Während die Sprache unseres Nachbarlandes mit ihrer Melodie, der Bindung zwischen Wörtern und den Nasalen weich und harmonisch anmutet, wird das Deutsche von vielen als hart und kehlig empfunden und entsprechend auch der deutsche Akzent. Beispielsweise sprechen Deutsche weiche Konsonanten am Wortende hart aus, wie das »g« in »Tag«, das zum »k« wird – und so wird auch der englische »dog« (Hund) mit deutschem Akzent zum »dok«.
Doch der Wohlklang ist nur ein Nebenaspekt. »Die Einstellung zu einer Sprache ist eher eine Einstellung dem Menschen beziehungsweise seiner Kultur gegenüber: Mit Französisch verbinden die meisten von uns kulturell viel, mit Suaheli oder Rumänisch weniger. Es sei denn, man hat eine Zeit lang in Rumänien oder in einem ost- oder zentralafrikanischen Land gelebt oder sich in anderen Zusammenhängen mit den Ländern beschäftigt«, sagt die Linguistin Stefanie Jannedy. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) in Berlin und hat sich auf Soziophonologie spezialisiert. Jannedy forscht unter anderem zum so genannten Kiezdeutsch. Dabei handle es sich um eine Variante des Deutschen, »die zwar häufig mit türkisch-arabischen Communitys assoziiert wird, aber insbesondere in urbanen Regionen von vielen Jugendlichen in multiethnischen und mehrsprachigen Kontexten verwendet wird«, etwa in Berlin in den Bezirken Kreuzberg, Wedding oder Neukölln.
»Unsere Reaktion auf einen ausländischen Akzent hat viel damit zu tun, was wir über den Menschen zu wissen glauben«Stefanie Jannedy, Soziophonologin
Jannedy untersuchte gemeinsam mit einer Kollegin, welche Erwartungen deutschsprachige Menschen haben, wenn sie »ch« oder »sch« hören, eine Variation, die auch im Kiezdeutsch vorkommt. Die Versuchspersonen sollten einzelne Lautproben entweder als »Fichte« oder als »Fischte« kategorisieren. Während des Experiments wurde ein Zettel gezeigt, auf dem entweder »Kreuzberg« oder »Zehlendorf« stand, um den Eindruck zu erwecken, dass die Lautprobe von einer Person aus Kreuzberg oder aus dem gutbürgerlichen Zehlendorf stammte. Im ersten Fall wurde dieselbe Lautprobe häufiger als »Fischte« – also als Kiezdeutschvariante – wahrgenommen.
Ein zweiter Versuch machte sich die Tatsache zu Nutze, dass »sch«-Laute häufig auch zu hören sind, wenn Franzosen Deutsch sprechen. Die Teilnehmer bekamen Wörter zu hören, die vom Standarddeutsch abwichen, wie »Honisch« statt »Honig«. Bei einem klassischen Versuchsaufbau, dem impliziten Assoziationstest, zeigte sich: Die älteren Probanden hatten zum angeblichen Kiezdeutsch häufiger negative Assoziationen als zum vorgeblich französischen Akzent.
Jüngere deutschsprachige Probandinnen und Probanden dagegen reagierten deutlich weniger negativ und stereotypisierend auf das vermeintliche Kiezdeutsch, »vermutlich weil vielen von ihnen der Klang und die Menschen, die sich damit ausdrücken, im Alltag vertrauter sind als Älteren«, sagt Jannedy. »Unsere Reaktion auf einen ausländischen oder vermeintlich ausländischen Akzent hat also viel damit zu tun, was wir über den Menschen zu wissen glauben, in welchem Alltagszusammenhang wir ihn erleben und wie sehr wir uns und unsere Einstellungen selbst kritisch kontrollieren«, erklärt die Linguistin.
Ein prominentes Beispiel ist der Berliner SPD-Politiker und gebürtige Palästinenser Raed Saleh. Saleh kam als Fünfjähriger mit seinen Eltern nach Deutschland. Vor einigen Jahren äußerte er Ambitionen, Regierender Bürgermeister zu werden. Während dieser Zeit kam es zu einem Phänomen, das die Tageszeitung »taz« als »Grammatik-Tinnitus« bezeichnete: Journalistinnen und Journalisten attestierten dem Politiker Grammatikfehler und einen deutlichen Akzent. Die »taz« untersuchte daraufhin seine Redebeiträge und hielt fest: Salehs Deutsch war grammatikalisch einwandfrei.
»Raed Saleh spricht korrekt. Er klingt möglicherweise manchmal wie jemand mit Migrationshintergrund – und das genügte schon, um zu vermuten, er spreche falsches Deutsch«, sagt dazu Jannedy. Mit dem »Grammatik-Tinnitus« beschäftigt sich nun ein weiteres Forschungsteam am Berliner Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft: Es untersucht unter anderem, welche Rolle die Einstellung auf die Wahrnehmung von einem Akzent im Deutschen und Polnischen hat.
»Je mehr eigene diagnostische Informationen man hat, desto weniger lässt man sich von Stereotypen leiten«Melanie Steffens, Sozialpsychologin
Bei Vorurteilen und Stereotypen handelt es sich um eine Art Heuristik, eine mentale Abkürzung, die es dem Menschen ermöglicht, schnell zu entscheiden, ob jemand Freund oder Feind ist. Vor etlichen tausend Jahren war diese Abkürzung für die Menschen im Alltag oft noch überlebenswichtig. Das Zaudern und Überdenken kam – kulturhistorisch gesehen – erst später. Für das gesellschaftliche Miteinander war das eine gute Entwicklung. Denn: »Je mehr eigene diagnostische Informationen man hat, desto weniger lässt man sich von Stereotypen leiten«, sagt die Sozialpsychologin Melanie Steffens von der Universität Koblenz-Landau.
Auf Jobsuche: Besser ohne Akzent oder Dialekt
Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Arbeitspsychologie. Unter anderem erforscht sie die Wirkung ausländischer Akzente und Dialekte in Bewerbungsgesprächen für gehobene Positionen. Mit einer Kollegin untersuchte sie, welchen Effekt es hat, wenn eine Person mit einer dunkleren Hautfarbe exzellent Hochdeutsch spricht. »Eines der Ergebnisse war: Wenn man südländisch aussieht und einwandfrei Deutsch spricht, dann bekommt man vom Gesprächspartner oft einen Bonus und hohe Sympathiewerte, nach dem Motto: Oh, Sie sprechen aber sehr gut Deutsch!«, sagt Steffens. »Umgekehrt stellt sich diese positive Bewertung interessanterweise nicht ein: wenn man die Person zuerst hört und dann sieht.«
In einem weiteren Experiment ließen die beiden Wissenschaftlerinnen Personen, darunter auch ausländisch aussehende, Deutsch mit einem starken Dialekt sprechen. Steffens Vermutung war, dass dies den ausländisch aussehenden Probanden und Probandinnen zusätzliche Pluspunkte verschaffen würde: »Er oder sie spricht nicht nur Hochdeutsch, sondern beherrscht auch noch perfekt den Dialekt der Region!« Doch das war nicht der Fall. »Eine starke Dialektfärbung führte für alle Probandinnen und Probanden zu einer Abwertung.«
Andererseits setzen Politiker und Politikerinnen Dialekt gezielt ein, um Sympathiepunkte zu gewinnen. Das wirkt offenbar besonders gut in Bundesländern wie Bayern oder Schleswig-Holstein, wo ein großer Anteil der Menschen auf dem Land lebt und den regionalen Dialekt eher pflegt als in Großstädten. Die »zweisprachigen« Volksvertreterinnen und -vertreter nutzen dabei den Effekt, dass man Menschen besonders sympathisch findet, wenn sie einen ähnlichen Dialekt sprechen. »Es gibt Untersuchungen dazu: Demnach bekommen Kellnerinnen mehr Trinkgeld, wenn sie einen süddeutschen Gast mit ›Grüß Gott‹ zurückgrüßen«, sagt Melanie Steffens.
Bei gehobenen Positionen dagegen macht sich dieser Effekt eher nicht bemerkbar. Deshalb sei es klug, in Bewerbungsgesprächen möglichst immer Hochdeutsch zu sprechen, sagt die Psychologin. Auch Bewerber und Bewerberinnen mit der nötigen Kompetenz, die sich mit der deutschen Sprache im Gespräch jedoch noch schwertun, rät Steffens, zunächst per E-Mail zu kommunizieren und schriftliche Referenzen beizufügen. In einem solchen Fall sei das sicherlich besser, als spontan anzurufen, wenn man sich initiativ bewerben möchte. »Unter Umständen kommt es auch positiv an, wenn man in dem Schreiben offen einräumt, noch nicht so flüssig Deutsch sprechen zu können – und dann vielleicht besser auf Englisch ausweicht, wenn man sich darin sicherer fühlt.« Denn wie so oft gelte auch in solchen Situationen: Der erste Eindruck zählt.
»Die drei Vorgänge Wahrnehmung, Gefühl und Interpretation sind so miteinander vernetzt, dass wir sie normalerweise gar nicht trennen können«Inke Du Bois, Soziolinguistin
Mitarbeitende von Behörden werden in Workshops bereits gezielt trainiert, um die Situation für Menschen mit ausländischem Aussehen oder Akzent zu entspannen und sich selbst nicht diskriminierend zu verhalten. Die Soziolinguistin Inke Du Bois berät dazu unter anderem die niedersächsische Landesregierung, führt Workshops mit Angestellten durch und sagt über ihr Vorgehen: »Grundsätzlich geht es zunächst einmal darum, den Leuten klarzumachen, was auf einer metakognitiven Ebene passiert, wenn sie in einer konkreten Situation sind.« Nämlich, was automatisiert im Kopf ablaufe, wenn wir einen anderen Menschen wahrnehmen: Die Wahrnehmung eines anderen Menschen führe sofort zu einem Gefühl und zu einer Interpretation – und somit oft zu einer voreiligen Einordnung. »Die drei Vorgänge Wahrnehmung, Gefühl und Interpretation sind so miteinander vernetzt, dass wir sie normalerweise gar nicht trennen können«, sagt Du Bois.
Die Wissenschaftlerin, die unter anderem zu Stigma und Prestige von ausländischen Akzenten forscht, bringt die Teilnehmenden in Übungen wie Rollenspielen in Situationen, in denen sie sich selbst in einer anderen Kultur zurechtfinden müssen. Oder sie konfrontiert sie mit realen Geschichten, die ihnen die eigenen Klischees und Vorurteile verständlich machen. Das Ziel, sagt Du Bois: Wahrnehmung, Gefühl und Interpretation getrennt voneinander zu betrachten, um bewusstere Entscheidungen zu treffen.
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