Sterne zählen: Früher mehr große, heute mehr kleine
Im ersten Moment klingt die Entstehung von Sternen nicht besonders kompliziert. Eine Molekülwolke kollabiert unter ihrer eigenen Schwerkraft, ballt sich zu einem kugelrunden Etwas zusammen, zündet im Inneren die Kernfusion, fängt an zu leuchten, fertig. Allerdings entstehen Sterne nicht in Isolation, sondern meist zu Hunderten oder gar Tausenden in speziellen Sternentstehungsregionen. Sterne gibt es in allen möglichen Größen: Von winzigen, massearmen und rötlichen Zwergsternen bis hin zu massereichen Blauen Riesen kann alles dabei sein. Die anfängliche Massenfunktion, auch ursprüngliche Massenfunktion (kurz IMF, aus dem Englischen »initial mass function«) genannt, liefert eine Antwort auf die Frage, wie viele große und wie viele kleine Sterne in einer solchen Sternenwiege entstehen. Doch nun zeigt ein Forschungsteam im Fachjournal »Nature«, dass diese so praktische Formel wohl nicht überall und zu allen Zeiten gilt.
Dabei hätte alles so einfach sein können. Bereits im Jahr 1955 schrieb der Physiker Edwin Salpeter eine Formel für die ursprüngliche Massenfunktion auf, die er aus seinen Beobachtungen der Sterne in Sonnennähe abgeleitet hatte. Demnach seien massereiche Sterne viel seltener als masseärmere Sterne: Auf einen riesigen Stern mit der zehnfachen Sonnenmasse kämen demnach mehrere hundert sonnenähnliche, kleinere Sterne. Seine Formel war eine Exponentialgleichung mit einem konstanten Exponenten für alle Sternenmassen. Weitere Beobachtungen zeigten zwar, dass dies vor allem für massearme Sterne nicht zu gelten scheint, sie brauchen einen kleineren Exponenten. Aber ob diese »kanonische«, das heißt anerkannte Massenfunktion, wirklich für alle Sterne auch jenseits unserer eigenen Galaxie und zu unterschiedlichen Zeiten in der Entwicklung des Universums gilt, war und ist umstritten.
Immer wieder gab es Hinweise in die eine oder in die andere Richtung. Die aktuelle Studie des Teams um Jiadong Li von den Nationalen Astronomischen Observatorien in Peking, China, zeigt nun in die andere Richtung: Die Ergebnisse der Forscherinnen und Forscher deuten darauf hin, dass die ursprüngliche Massenfunktion sich mit dem Alter der Sterne sowie mit ihrer Metallizität ändert. Die Metallizität bezeichnet dabei den Gehalt an Elementen, die schwerer sind als Wasserstoff und Helium. Für die Studie verwendeten die Forschenden Daten des Teleskops LAMOST sowie des Gaia-Weltraumteleskops. Sie interessierten sich dabei für Rote Zwerge, so genannte M-Zwerge mit Massen von 0,3 bis 0,7 Sonnenmassen, die sich rund 330 bis 1000 Lichtjahre von unserer Sonne entfernt befinden. Das Praktische an diesen M-Zwergen ist: Da sie so klein sind, sind sie extrem langlebig. Daher lässt sich durch die Vermessung der derzeitigen Massenverteilung mehr oder weniger direkt auf ihre ursprüngliche Massenverteilung schließen.
Auf den ersten Blick schienen alle M-Zwerge den anerkannten Massenverteilungen zu folgen, ohne dass ihre Metallizität dabei eine Rolle spielte. Aber wie sähe es aus, wenn man diese Sterne in junge und alte Sterne unterteilen könnte? Nun ist es extrem schwierig, das Alter von Sternen zu bestimmen, wenn diese sich etwa in der Mitte ihrer Lebensdauer befinden, das heißt, in ihrem Inneren Wasserstoff zu Helium verbrennen – und das war bei allen beobachteten M-Zwergen der Fall. Allerdings ist ein grober Anhaltspunkt für das Alter eines Sterns seine vertikale Geschwindigkeit durch die Milchstraße. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wie schnell bewegt sich der Stern nach oben oder nach unten durch unsere Galaxie? Aus Beobachtungen wissen Astronominnen und Astronomen, dass ältere Sterne dabei schneller unterwegs sind als jüngere Sterne.
Anhand dieser Einteilung schließlich zeigten sich Unterschiede in der Massenverteilung. Laut den Daten der Forschenden hätten sich zu früheren Zeiten tendenziell weniger masseärmere Sterne gebildet, als es die ursprüngliche Massenfunktion vorhersagt. Das bedeutet: Früher sind wohl mehr größere Sterne entstanden, als dies heutzutage in der Milchstraße der Fall ist. Darüber hinaus zeigte sich für jüngere Sterne, dass ihre Massenverteilung sehr wohl von ihrer Metallizität abhängt. Je größer die Metallizität, also je höher der Anteil von schwereren Elementen als Wasserstoff und Helium, desto mehr masseärmere Sterne entstehen.
Die ursprüngliche Massenverteilung von Sternen scheint von der Zeit und von der Metallizität abzuhängen
Das Team um Jiadong Li schließt daraus, dass die ursprüngliche Massenverteilung sowohl von der Zeit als auch von der Metallizität abhängt. Somit gäbe es keine einfache Formel für den stellaren Zensus, die durchgängig anwendbar ist. Die Forschenden schreiben, dass das Auswirkungen auf viele Bereiche der Astronomie habe, bei denen die Interpretation der Ergebnisse von der ursprünglichen Massenverteilung abhängt: Unter anderem seien davon Modelle der chemischen Elementverteilung in der Galaxienentwicklung, der Massenbestimmung ferner Galaxien oder sogar die Effizienz der Planetenentstehung betroffen.
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