Umweltschutz: Stickoxide - eine europäische Erfolgsgeschichte
Tempo 90 auf allen Autobahnen, Fahrverbote für Fahrzeuge ohne Katalysator: Ozonalarm! Wer kann sich daran noch erinnern? Das große Thema, das Joschka Fischer im Juli 1994 als hessischer Umweltminister auf die politische Tagesordnung setzte und das noch im Jahr 2000 dem damaligen Bundesumweltminister Jürgen Trittin Ärger in der Fraktion bescherte, weil er es schleifen ließ – es ist heute keines mehr, zumindest nicht in Deutschland. "Europa reinigt die Luft", vermeldete unlängst die Europäische Weltraumagentur (ESA).
"Über der industrialisierten Welt ist die Luft deutlich sauberer geworden", resümiert denn auch Andreas Hilboll vom Institut für Umweltphysik an der Universität Bremen die jüngsten Forschungsergebnisse. Über Großstädten gehe die Menge der Stickoxide in der Troposphäre, der untersten Atmosphärenschicht, recht konstant um jährlich drei bis fünf Prozent zurück. Für die Stickoxide (vor allem NO und NO2) interessieren sich Atmosphärenforscher, weil diese beiden Gase in der bodennahen Luftschicht die Produktion des gesundheitsschädlichen Ozons begünstigen.
Meist sprechen Experten von NOx, denn NO und NO2 verwandeln sich in der sauerstoffhaltigen Atmosphäre schnell in die jeweils andere Form. "Zirka 60 Prozent der Stickoxide in der Troposphäre stammen aus anthropogenen Verbrennungsprozessen", erklärt Hilboll. Überall, wo Verbrennungen bei hoher Temperatur stattfinden, entsteht NO: in Kraftwerken, in Fahrzeugen. Maßgeblich ist vor allem die Höhe der Temperatur. Die restlichen Stickoxide gehen auf Blitze zurück, auf verbrennende Biomasse – sprich Waldbrände – und auf den Stoffwechsel bestimmter Bakterien. Einmal in der Troposphäre angekommen, reagiert Stickstoffdioxid mit Wasser zu Salpetersäure und erzeugt damit sauren Regen. Oder das Gas reagiert mit Sauerstoff unter dem Einfluss von UV-Strahlung zu Ozon. "NO2 selbst ist sehr aggressiv gegen die Atemwege", sagt Hilboll, "aber nicht bei den Konzentrationen, wie sie in der Atmosphäre vorkommen."
Erste Messungen der Stickoxide in der Atmosphäre gab es in den 1970er Jahren von der Erde aus, doch die Daten zu gewinnen, war aufwändig und unpräzise. Erst seit 1996 liegen belastbare Daten über den Stickstoffgehalt der Troposphäre vor, da Atmosphärenforscher seitdem satellitenbasierte Instrumente nutzen. Begonnen hat die Forschung mit GOME, dem Global Ozone Monitoring Experiment an Bord des 1995 gestarteten Satelliten ERS-2, und SCIAMACHY an Bord des im April nach zehn Jahren ausgefallenen Envisat. Heute arbeitet unter anderem noch der Nachfolger GOME-2 auf dem Satelliten MetOP.
Die Instrumente verwenden ein optisches Verfahren, um die Menge der Stickoxide in der Atmosphäre zu bestimmen. Zum einen erfassen sie das Spektrum des Lichts, das von der Sonne auf den Satelliten fällt. Zum anderen messen sie das Licht, das von der Erde zum Satelliten zurückgeworfen wird und somit zweimal die Atmosphäre durchquert hat. Da die Stickoxide dort einen Teil der Lichtenergie absorbieren, ändern sie das Spektrum des Lichts, und aus dem Vergleich mit dem unveränderten Licht direkt von der Sonne lässt sich die Menge des Gases errechnen. Damit die Methode korrekte Daten ergibt, benötigen die Forscher ein solides Modell der Atmosphäre, müssen Korrekturen für die jeweils aktuelle Bewölkung vornehmen und den Weg des Lichts durch die Atmosphäre präzise verstehen. Seit diese Voraussetzungen geschaffen sind, liefert die Methode eine vollständige Übersicht in hoher räumlicher Auflösung über die Stickoxidbelastung rund um den Globus.
Eigentlich ein kurzlebiger Schadstoff
Diese Sorgfalt hat durchaus ihren Wert, da Stickoxide sehr kurzlebige Gase sind. Meist existieren sie wenige Stunden, älter als einen Tag wird kaum ein Molekül. "Stickoxide werden dadurch hauptsächlich dort gemessen, wo sie emittiert wurden", erklärt Hilboll. Das Ergebnis: "Über stark industrialisierten Regionen sehen wir fünfmal so viel NO2 wie über ländlichen Regionen", sagt der Experte. In Deutschland sei das nicht so deutlich, weil man dort "selten weiter als 50 Kilometer vom dicken Dreck weg" sei.
Deutlicher hingegen ist dieser Effekt in den Schwellenländern mit hohen Wachstumsraten. Anders als Europa und Nordamerika verzeichnen sie keinen Rückgang der Belastung mit Stickoxiden. Über Peking beispielsweise wachsen die NO2-Konzentrationen in der Troposphäre jährlich um 7 Prozent, in Schanghai sogar um 13 Prozent. Dabei liegt schon heute der Wert chinesischer Großstädte "locker um den Faktor zwei über dem westlicher Großstädte", weiß Hilboll. "In den ersten Jahren der Beobachtung stieg die Verschmutzung durch den Straßenverkehr und die Zementproduktion", erläutert er. Jetzt sei dafür auch der massive Bau neuer Kohlekraftwerke verantwortlich. "Wir können in den Satellitendaten sogar einzelne Kraftwerke ganz klar erkennen, wenn sie ans Netz gehen." Neben Süd- und Ostasien fallen aber auch Regionen des Nahen Ostens negativ auf. So seien Kairo und Teheran weitere Beispiele für eine hohe Belastung mit Stickoxiden – und damit Ozon. In Teheran etwa verdoppelte sich der Gehalt in der Luft in kurzer Zeit.
Eine gegenläufige Beobachtung hat Hilboll über Europa gemacht: "Im letzten Jahr haben wir über Athen – und generell über Griechenland – eine beschleunigte Abnahme der NOx-Gase gemessen." Die NO2-Menge sank seit dem Jahr 2008 um ein Viertel – ein deutliches Abbild der wirtschaftlichen Stagnation des Landes. Einige andere Forschergruppen hätten jüngst ein ähnliches Phänomen über den USA beobachtet. Hilboll selbst präsentiert zudem eine Karte mit den Stickoxidwerten über den USA: An Punkten, wo besonders hohe Konzentrationen vorliegen, finden sich zuverlässig Großstädte oder Kohlekraftwerke.
Tatsächlich ist ein sinkender Verbrauch fossiler Rohstoffe wohl der alleinige Schlüssel zu weniger Stickoxiden und damit weniger saurem Regen und geringeren Ozonbelastungen. "Wir müssen die Verbrennungen sauberer und effizienter machen", rät Hilboll – oder natürlich verringern. Besondere Aufmerksamkeit widmen einige Forscher derzeit den Flugzeugemissionen. Obwohl der Anteil der Luftfahrt am gesamten anthropogenen Stickoxidausstoß gering ist, könnte ihr Einfluss erheblich sein: Bodennahes NOx hat eine sehr kurze Lebensdauer und muss in dieser Zeit von Aufwinden in die Troposphäre befördert werden, damit es problematisch wird. Flugzeuge erzeugen ihr Abgas hingegen direkt in der Troposphäre, jedes einzelne Molekül kann dort reagieren und hat obendrein eine erhöhte Lebensdauer. Doch um die Bedeutung der Flugzeugemissionen solide bewerten zu können, ist weitere Forschung notwendig.
Dank dem technischen Fortschritt
Keine große Rolle spielt hingegen die immer wieder kritisierte Stickstoffdüngung in der Landwirtschaft. Durch sie entsteht jedoch N2O, das Lachgas. Es ist zwar ein starkes Treibhausgas und aus diesem Grund problematisch, für die Ozonbildung in der bodennahen Luftschicht kann man es jedoch vernachlässigen: "Lachgas ist ziemlich inert, also reaktionsträge. Unten in der Atmosphäre hat es keine große Auswirkung", bestätigt Hilboll.
Die Erfolge in Europa und Nordamerika seit Mitte der 1990er Jahre führt der Umweltphysiker vor allem auf den flächendeckenden Einbau von Katalysatoren und eine bessere Verbrennung in Fahrzeugen zurück. Hinzu kommen Filter in den Kraftwerken und Fabriken. Ihr Ziel erreicht haben die Industrieländer jedoch noch nicht: Seit dem 1. Januar 2010 gilt in der EU eine neue Richtlinie, laut der im Jahresmittel der Stickstoffgehalt in der Luft nicht über 40 Mikrogramm je Kubikkilometer liegen darf. Als Ein-Stunden-Mittelwert dürfen 200 Mikrogramm je Kubikkilometer nicht öfter als 18-mal pro Jahr überschritten werden. Für viele Städte gelten jedoch Ausnahmen, die dazu führen, dass die Grenzwerte erst ab 2015 greifen.
Um das zu erreichen, setzen die Kommunen auf Umweltzonen als schärfste Waffe; auf übergeordneter Ebene spielen dagegen die Euro-Normen für Fahrzeuge eine Rolle. Die Euro-6-Norm umfasst strenge Grenzwerte für die Stickstoffemissionen. Ab 2015 gelten demnach für Pkw mit Ottomotor weiterhin 60 und für Diesel 80 Milligramm je Kilometer als Höchstwert – unter der aktuell geltenden Euro-5-Norm dürfen es dagegen noch 180 Milligramm sein.
Auch für Ozon, um das es letztendlich bei der Stickstoffdebatte geht, gibt es Grenzwerte: 120 Mikrogramm Ozon je Quadratkilometer sollen im Acht-Stunden-Mittel nicht mehr überschritten werden, so haben es die EU-Umweltminister bereits im Jahr 2000 beschlossen. Doch laut Jahresbericht der Europäischen Umweltagentur wurde dieser Wert zwischen April und September 2011 in allen EU-Ländern überschritten, bei 84 Prozent aller Messstationen und zum größten Teil über 25 Tage lang. Selbst die Alarmschwelle von 240 Mikrogramm je Quadratkilometer im Ein-Stunden-Mittel – ein gesundheitlich bedenklicher Wert – wurde EU-weit an heißen Sommertagen 41-mal überschritten. Ganz am Ziel sind also auch die fortschrittlichen Europäer noch nicht.
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