Stimmungen: Kollektiv gegen die Depression
In China zählt - offiziell - nur das Kollektiv, in den USA triumphiert die Selbstverwirklichung. Und wir fühlen uns zwischen beidem hin- und hergerissen. Aber welchen Einfluss hat die Gesellschaftsform auf das Glück der Menschen?
Waldsterben, Vogelgrippe, Schweinegrippe, Rinderwahn, Atom-GAU, Atomkrieg, Massenarbeitslosigkeit, Altersarmut, Kinderarmut, Schutzimpfungen: Es gibt vieles, wovor sich "die" Deutschen angeblich oder tatsächlich fürchten – ob es nun berechtigt ist oder nicht. Unsere Angst ist bisweilen so sprichwörtlich, dass sie in anderen Sprachen übernommen wurde: "German Angst" spötteln die notorisch optimistischen US-Amerikaner über die als charakteristisch empfundenen gesellschaftlichen und politischen Verhaltensweisen des deutschen Volkes – etwa, wenn wir uns neuen Technologien vermeintlich verweigern oder zögern, uns unserem größten Bündnispartner in der Außenpolitik zügig anzuschließen.
Wie der erste Absatz schon andeutet, werden verschiedenen Völkern durchaus stereotype Merkmale unterstellt: Neben dem ängstlichen Deutschen und dem optimistischen Amerikaner gibt es die stets fröhlichen Brasilianer, die ernsten und strebsamen Chinesen, die lebenslustigen Italiener oder die zur Depression neigenden Russen – so weit hergeholt manche Sachen bei näherem Blick auch sein mögen.
Zwei unterschiedliche Lebensstile haben sich allerdings wirklich über den Globus verteilt, nach denen sich Völker einteilen lassen, meinen Joan Chiao und Katherine Blizinsky von der Northwestern University in Evanston. Auf der einen Seite existieren jene individualistischen Gesellschaftsformen, in denen die Selbstverwirklichung der einzelnen Person und ihre Wünsche tendenziell über jenen der Gruppe stehen – Beispiele wären hierfür vor allem die angelsächsischen Länder USA, Großbritannien und Australien. Ihnen gegenüber stehen die stark kollektivistisch ausgerichteten Gemeinschaften der ostasiatischen Länder wie China, Japan, Korea oder Singapur, wo soziale Harmonie und Gemeinschaftsgefühl großgeschrieben werden. Deutschland, die skandinavischen Länder oder Frankreich tendieren eher in die individualistische Richtung, Russland, die Türkei und Lateinamerika hingegen in die kollektivistische.
Gene fürs Glück?
Wird dies aber allein durch gesellschaftliche Normen verursacht? Oder spielen auch die Gene bei der Ausprägung dieser Verhaltensweisen eine Rolle? Und beeinflussen diese Gesellschaftsordnungen ebenso die Ausprägung von Gemütszuständen? Das Serotonin-Transporter-Gen SLC6A4 kann beispielsweise beeinflussen, wie ängstlich ein Mensch ist, so die beiden Forscherinnen: Ein Teil von ihm, der Abschnitt 5-HTTLPR, liegt entweder in einer kurzen (S) oder langen (L) Allelversion vor. Personen mit der Kurzfassung weisen eine höhere Konzentration des Neurotransmitters in ihren synaptischen Spalten auf – den Zwischenräumen zwischen Nervenenden und beispielsweise Muskelzellen – als jene mit der Langform.
Serotonin gilt zwar allgemein als "Glückshormon", doch trifft das in diesem Zusammenhang nicht zu: Träger des S-Allels sind laut verschiedener Studien ängstlicher, weniger risikobereit, leichter negativ beeinflussbar und empfänglicher für schlechte Nachrichten. Und sie laufen eher Gefahr, eine Depression zu entwickeln – zumal, wenn sie chronischem Stress durch Streit, persönliche Verluste oder Gefahren ausgesetzt sind. Besitzer der L-Variante hingegen fühlen sich stark von positiven Wörtern und freundlichen Bildern angezogen. Außerdem gelten sie als weniger empfänglich für psychische Belastungen. Diese Zusammenhänge gelten allerdings als umstritten.
Bisherige populationsgenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass vor allem in ostasiatischen Völkern diese Kurzfassung vertreten ist: 70 bis 80 Prozent aller Chinesen oder Japaner tragen die S-Variante, dagegen nur 40 bis 45 Prozent der Europäer. Und in Südafrika ist es nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung, das damit ausgestattet ist, so der weltweite Vergleich von Chiao und Blizinsky. Die kollektivistischen Nationen lagen dabei überwiegend am oberen Ende der Skala, während in den individualistisch geprägten Staaten die L-Form überwog.
Doch obwohl sie genetisch empfänglicher dafür sein sollten, kollektiv in Depressionen zu verfallen oder Angstzustände auszubilden, präsentierte sich den Wissenschaftlerinnen in diesem Zusammenhang ein völlig gegensätzliches Bild. Völker, in denen die gesellschaftlichen Normen die Gemeinschaft über die Selbstverwirklichung des Individuums stellen, erwiesen sich als psychisch deutlich robuster als die individualistische Konkurrenz: Die Masse fängt hier also ihre Mitbürger mit Problemen eher auf. Je mehr der Einzelne in einer Nation dagegen auf sich selbst gestellt ist, desto größer ist auch die Gefahr, dass er irgendwann im Leben psychisch krank wird – obwohl er von seinen Erbanlagen her eigentlich glücklicher sein müsste.
Soziales Netz kontra Gene
Joan Chiao und Katherine Blizinsky führen diese erstaunlichen Unterschiede auf die so genannte Kultur-Gen-Koevolution des menschlichen Verhaltens zurück. Diese Theorie besagt, dass sich soziale Normen wie Individualität versus Kollektivismus im Lauf der Zeit entwickelt und vererbt haben. Großes Gemeinschaftsgefühl zeichne deshalb vor allem Völker aus, die stärker von Krankheitserregern wie Malaria, Typhus oder Lepra betroffen sind, so die beiden Forscherinnen. Der Verzicht auf Selbstverwirklichung und geförderte Konformität hätte demnach geholfen, die Ausbreitung von Seuchen in Hochrisikogebieten im Zaum zu halten – eine gesellschaftliche Einschränkung, die in den nördlicheren Ländern mit ihrem "gesünderen" Klima nicht nötig war.
Diese Rückkoppelung zwischen den Genen und der Sozialisierung einer Gesellschaft könnte sich aber auch genauso gut zum Erhalt der psychischen Gesundheit entwickelt haben, meinen Chiao und Blizinsky: Weil soziale Harmonie so großgeschrieben werde, reduziere sich das Risiko, dass trotz negativer genetischer Veranlagung größere Teile der Gesellschaft in Depressionen verfielen. Probleme hätten deswegen vor allem Menschen mit dem S-Allel in individualistischen Gesellschaften: Ihre größere Empfänglichkeit für negative Nachrichten trifft auf ein Umfeld, in dem Selbstverwirklichung und in gewisser Hinsicht auch Egoismus die Norm sind. Ihre Sorgen und Nöte erschweren es ihnen, entsprechende soziale Kontakte zu knüpfen, die wiederum die beste Vorsorge gegen Ängste und Depressionen sind.
Allerdings, so schränken die Wissenschaftlerinnen ein, könnte der Kollektivismus etwa der Chinesen ihre Untersuchung auch etwas verzerren: Mentale Probleme sind in diesen Kulturen häufiger noch mit einem sozialen Stigma verbunden. Betroffene könnten also aus Angst davor, dass "Gesicht zu verlieren", etwaige Leiden verschweigen. Interessant wäre es daher zu beobachten, inwiefern schließlich die Gene oder die soziale Prägung im veränderten Umfeld durchschlagen, wenn beide Kulturen aufeinandertreffen – beispielsweise bei Chinesen, die in die USA ausgewandert sind.
Und die "German Angst"? Verglichen mit den US-Fallzahlen bei psychischen Erkrankungen schneiden wir eigentlich gar nicht so schlecht ab. Etwas mehr Gemeinschaftsgefühl dürfen wir aber vielleicht trotzdem ausbilden.
Wie der erste Absatz schon andeutet, werden verschiedenen Völkern durchaus stereotype Merkmale unterstellt: Neben dem ängstlichen Deutschen und dem optimistischen Amerikaner gibt es die stets fröhlichen Brasilianer, die ernsten und strebsamen Chinesen, die lebenslustigen Italiener oder die zur Depression neigenden Russen – so weit hergeholt manche Sachen bei näherem Blick auch sein mögen.
Zwei unterschiedliche Lebensstile haben sich allerdings wirklich über den Globus verteilt, nach denen sich Völker einteilen lassen, meinen Joan Chiao und Katherine Blizinsky von der Northwestern University in Evanston. Auf der einen Seite existieren jene individualistischen Gesellschaftsformen, in denen die Selbstverwirklichung der einzelnen Person und ihre Wünsche tendenziell über jenen der Gruppe stehen – Beispiele wären hierfür vor allem die angelsächsischen Länder USA, Großbritannien und Australien. Ihnen gegenüber stehen die stark kollektivistisch ausgerichteten Gemeinschaften der ostasiatischen Länder wie China, Japan, Korea oder Singapur, wo soziale Harmonie und Gemeinschaftsgefühl großgeschrieben werden. Deutschland, die skandinavischen Länder oder Frankreich tendieren eher in die individualistische Richtung, Russland, die Türkei und Lateinamerika hingegen in die kollektivistische.
Gene fürs Glück?
Wird dies aber allein durch gesellschaftliche Normen verursacht? Oder spielen auch die Gene bei der Ausprägung dieser Verhaltensweisen eine Rolle? Und beeinflussen diese Gesellschaftsordnungen ebenso die Ausprägung von Gemütszuständen? Das Serotonin-Transporter-Gen SLC6A4 kann beispielsweise beeinflussen, wie ängstlich ein Mensch ist, so die beiden Forscherinnen: Ein Teil von ihm, der Abschnitt 5-HTTLPR, liegt entweder in einer kurzen (S) oder langen (L) Allelversion vor. Personen mit der Kurzfassung weisen eine höhere Konzentration des Neurotransmitters in ihren synaptischen Spalten auf – den Zwischenräumen zwischen Nervenenden und beispielsweise Muskelzellen – als jene mit der Langform.
Serotonin gilt zwar allgemein als "Glückshormon", doch trifft das in diesem Zusammenhang nicht zu: Träger des S-Allels sind laut verschiedener Studien ängstlicher, weniger risikobereit, leichter negativ beeinflussbar und empfänglicher für schlechte Nachrichten. Und sie laufen eher Gefahr, eine Depression zu entwickeln – zumal, wenn sie chronischem Stress durch Streit, persönliche Verluste oder Gefahren ausgesetzt sind. Besitzer der L-Variante hingegen fühlen sich stark von positiven Wörtern und freundlichen Bildern angezogen. Außerdem gelten sie als weniger empfänglich für psychische Belastungen. Diese Zusammenhänge gelten allerdings als umstritten.
Bisherige populationsgenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass vor allem in ostasiatischen Völkern diese Kurzfassung vertreten ist: 70 bis 80 Prozent aller Chinesen oder Japaner tragen die S-Variante, dagegen nur 40 bis 45 Prozent der Europäer. Und in Südafrika ist es nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung, das damit ausgestattet ist, so der weltweite Vergleich von Chiao und Blizinsky. Die kollektivistischen Nationen lagen dabei überwiegend am oberen Ende der Skala, während in den individualistisch geprägten Staaten die L-Form überwog.
Doch obwohl sie genetisch empfänglicher dafür sein sollten, kollektiv in Depressionen zu verfallen oder Angstzustände auszubilden, präsentierte sich den Wissenschaftlerinnen in diesem Zusammenhang ein völlig gegensätzliches Bild. Völker, in denen die gesellschaftlichen Normen die Gemeinschaft über die Selbstverwirklichung des Individuums stellen, erwiesen sich als psychisch deutlich robuster als die individualistische Konkurrenz: Die Masse fängt hier also ihre Mitbürger mit Problemen eher auf. Je mehr der Einzelne in einer Nation dagegen auf sich selbst gestellt ist, desto größer ist auch die Gefahr, dass er irgendwann im Leben psychisch krank wird – obwohl er von seinen Erbanlagen her eigentlich glücklicher sein müsste.
Soziales Netz kontra Gene
Joan Chiao und Katherine Blizinsky führen diese erstaunlichen Unterschiede auf die so genannte Kultur-Gen-Koevolution des menschlichen Verhaltens zurück. Diese Theorie besagt, dass sich soziale Normen wie Individualität versus Kollektivismus im Lauf der Zeit entwickelt und vererbt haben. Großes Gemeinschaftsgefühl zeichne deshalb vor allem Völker aus, die stärker von Krankheitserregern wie Malaria, Typhus oder Lepra betroffen sind, so die beiden Forscherinnen. Der Verzicht auf Selbstverwirklichung und geförderte Konformität hätte demnach geholfen, die Ausbreitung von Seuchen in Hochrisikogebieten im Zaum zu halten – eine gesellschaftliche Einschränkung, die in den nördlicheren Ländern mit ihrem "gesünderen" Klima nicht nötig war.
Diese Rückkoppelung zwischen den Genen und der Sozialisierung einer Gesellschaft könnte sich aber auch genauso gut zum Erhalt der psychischen Gesundheit entwickelt haben, meinen Chiao und Blizinsky: Weil soziale Harmonie so großgeschrieben werde, reduziere sich das Risiko, dass trotz negativer genetischer Veranlagung größere Teile der Gesellschaft in Depressionen verfielen. Probleme hätten deswegen vor allem Menschen mit dem S-Allel in individualistischen Gesellschaften: Ihre größere Empfänglichkeit für negative Nachrichten trifft auf ein Umfeld, in dem Selbstverwirklichung und in gewisser Hinsicht auch Egoismus die Norm sind. Ihre Sorgen und Nöte erschweren es ihnen, entsprechende soziale Kontakte zu knüpfen, die wiederum die beste Vorsorge gegen Ängste und Depressionen sind.
Allerdings, so schränken die Wissenschaftlerinnen ein, könnte der Kollektivismus etwa der Chinesen ihre Untersuchung auch etwas verzerren: Mentale Probleme sind in diesen Kulturen häufiger noch mit einem sozialen Stigma verbunden. Betroffene könnten also aus Angst davor, dass "Gesicht zu verlieren", etwaige Leiden verschweigen. Interessant wäre es daher zu beobachten, inwiefern schließlich die Gene oder die soziale Prägung im veränderten Umfeld durchschlagen, wenn beide Kulturen aufeinandertreffen – beispielsweise bei Chinesen, die in die USA ausgewandert sind.
Und die "German Angst"? Verglichen mit den US-Fallzahlen bei psychischen Erkrankungen schneiden wir eigentlich gar nicht so schlecht ab. Etwas mehr Gemeinschaftsgefühl dürfen wir aber vielleicht trotzdem ausbilden.
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