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Stochastik: Kopf oder Zahl

Eine Münze fällt so manche klare Entscheidung. Im Mikrokosmos wäre das Ergebnis dagegen nicht so eindeutig. Genau das sollen sich zukünftige Quantensuchmaschinen zu Nutze machen.
Mal angenommen, wir würden folgendes Experiment durchführen: Wir drücken einer Versuchsperson – nennen wir sie der Einfachheit halber Hans – eine Münze in die Hand. Hans soll sie nun mehrmals hintereinander werfen. Immer wenn sie Kopf zeigt, soll er einen Schritt nach rechts machen. Liegt dagegen Zahl oben, geht es einen Schritt nach links. Nach zehn Würfen schauen wir, wo Hans steht. Wahrscheinlich wird er sich nicht allzu weit vom Ausgangspunkt entfernt haben: Kopf und Zahl fallen in etwa gleich häufig.

Münze als Entscheidungshilfe | Wirft man eine Münze und geht für jeden Kopf einen Schritt nach rechts und für jede Zahl einen Schritt nach links, so wird man sich nicht allzu weit vom Ausgangspunkt entfernt haben: Kopf und Zahl fallen in etwa gleich häufig. Führt man dieses Experiment 1000 Mal hintereinander durch, notiert jeweils seinen Standort und trägt das Ergebnis als Grafik auf, so ergibt sich eine so genannte Binomialverteilung, mit einem Maximum nahe am Startort.
Nun sei unser Hans ein sehr geduldiger Mensch – so geduldig, dass er dieses Experiment 1000 Mal hintereinander durchführt. Nach jedem Durchgang notieren wir seinen Standort. Wenn wir am Ende das Ergebnis als Grafik auftragen, erhalten wir eine typische Glockenkurve: Sehr häufig endet Hans nach zehn Würfen irgendwo in der Nähe des Startpunkts. Weit links oder rechts finden wir ihn dagegen sehr selten.

Das Experiment nennt sich "Zufallswanderung", englisch: "random walk". Wissenschaftler greifen darauf zurück, um verschiedenste Dinge zu beschreiben, etwa Diffusionsprozesse, Glücksspiele oder das Feuern von Neuronen im Gehirn. In der Welt der Quantenphysik gibt es ein Analogon mit verblüffenden neuen Eigenschaften, den "quantum walk". Lange war er nicht mehr als ein theoretisches Konstrukt, über das schon der berühmte Physiker Richard Feynman in den 1960er Jahren nachdachte.

Tatsächlich gelang es Wissenschaftlern in den vergangenen zehn Jahren, die Idee mehr oder weniger zu realisieren – beispielsweise in optischen Systemen, mit Hilfe der Kernspinresonanz oder mit eingesperrten Ionen. Der Originalentwurf sieht allerdings nur ein einzelnes Quantenteilchen vor, das sich im uns vertrauten Raum bewegt – das aber ist bislang noch keinem gelungen. Michal Karski und seine Kollegen von der Universität Bonn setzen deshalb auf einen anderen Ansatz.

Als Läufer und gleichzeitig Münze diente ihnen ein einzelnes Cäsiumatom, das sie in einem Gitter aus Licht gefangen hielten. Atome können verschiedene quantenmechanische Zustände annehmen – ähnlich wie bei einem Geldstück entweder Kopf oder Zahl oben liegt. Doch im Mikrokosmos ist alles ein wenig komplizierter, denn Quantenteilchen können in einer Überlagerung verschiedener Zustände existieren. Es liegen dann gewissermaßen gleichzeitig ein bisschen Kopf und ein wenig Zahl oben. Physiker sprechen bei diesem Phänomen von Superposition.

Karski und sein Team zogen das Cäsiumatom nun mit zwei Förderbändern aus Laserstrahlen in entgegengesetzte Richtungen – den Kopf-Anteil nach rechts, den Zahl-Anteil nach links. "So konnten wir die beiden Zustände um Bruchteile eines tausendstel Millimeters gegeneinander verschieben", erklärt Artur Widera, der ebenfalls mitforschte. Danach "würfelten" die Wissenschaftler neu und brachten jeden der beiden Bestandteile wieder in eine Superposition aus Kopf und Zahl.

Der Weg zum "quantum walk" | (a) Ein einzelnes Cäsiumatom wird in einem Gitter aus Licht gefangen. Das Atom hat zwei interne Zustände: rot und blau. Es wird in eine quantenmechanische kohärente Überlagerung aus diesen Zuständen gebracht – man wirft sozusagen eine Quantenmünze.

(b) Das Lichtgitter ist abhängig vom Zustand des Atoms. Es kann anschaulich als ein rotes und ein blaues Gitter gesehen werden, wobei der rote Zustand des Atoms nur im roten Gitter und der blaue Zustand des Atoms nur im blauen Gitter gefangen ist. Werden diese beiden Gitter in unterschiedliche Richtungen bewegt, läuft der rote Teil des Atoms nach links, der blaue Teil nach rechts.

(c) Lässt man nun beide Teilgitter wieder überlappen, ist das Atom über zwei Gitterplätze delokalisiert oder "verschmiert" – es befindet sich also gleichzeitig rechts und links. Der erste Schritt des quantum walk ist damit vollständig.

(d) Jeder Teil des Atoms wird nun wieder in eine Überlagerung der beiden Zustände gebracht und anschließend wird erneut eine Verschiebung durchgeführt. Daraufhin ist das Atom über drei Gitterplätze delokalisiert. Dabei kommen zwei Teile des Atoms am selben Gitterplatz zu liegen. Dort können sich die beiden Teile gegenseitig verstärken oder auslöschen – es kommt zu Interferenz.
Nach mehreren Schritten befindet sich das Atom an vielen Orten gleichzeitig. Dabei können verschiedene Anteile des Cäsiumatoms an einer Stelle zusammenkommen und sich dort wie zwei Lichtstrahlen in der klassischen Welt gegenseitig verstärken oder auslöschen. Diese Interferenzeffekte verändern die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Teilchens an bestimmten Plätzen. Wo es letztlich auftaucht, entscheidet sich aber erst, wenn man die Position des Atoms tatsächlich misst.

Die Wissenschaftler fotografierten dazu das vom Atom ausgehende Fluoreszenzlicht vor und nach der Wanderung mit einem hoch auflösenden Mikroskop. Auf diese Weise bestimmten sie die Position des Teilchens auf wenige zehn Nanometer genau. Wie im Beispiel mit dem Münzwerfer Hans kann man diesen quantum walk nun viele Male wiederholen. Man erhält dann ebenfalls eine Kurve, die die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Atoms widerspiegelt. "Unsere Kurve unterscheidet sich deutlich von den Resultaten des klassischen random walks und hat ihr Maximum nicht in der Mitte, sondern an den Rändern", betont Karski. "Das ist exakt, was wir nach theoretischen Überlegungen erwarten." Statt einer zufälligen Zappelbewegung um den ursprünglichen Startort, legt das Quantenteilchen also in den meisten Fällen eine längere Strecke zurück. Verantwortlich dafür ist die quantenmechanische Interferenz – sie sorgt dafür, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit für das Cäsiumatom in Gitterpunkten nahe des Ausgangspunktes schrumpft und weiter davon entfernt ansteigt.

Zum Vergleich haben die Forscher nach jedem einzelnen "Münzwurf" die quantenmechanische Superposition zerstört. Dabei wird aus dem quantum walk ein random walk, und das Cäsiumatom verhält sich wie Hans. Viel lieber sehen die Wissenschaftler natürlich ihren quantum walk, denn dieser eröffnet vielleicht ganz neue Möglichkeiten. Die Gruppe arbeitet bereits seit vielen Jahren an der Entwicklung von Quantencomputern, die mit Hilfe der ungewöhnlichen Gesetzmäßigkeiten des Quantenkosmos einmal schneller arbeiten sollen als klassische Rechner.

"Mit dem von uns gezeigten Effekt lassen sich ganz neue Algorithmen realisieren", erklärt Widera. Ein Beispiel sind Suchvorgänge: Will man heute in einer Reihe von Nullen eine einzige Eins aufspüren, muss man alle Ziffern einzeln überprüfen. Der Aufwand steigt daher linear mit der Zahl der Ziffern. Ein Algorithmus auf quantum-walk-Basis kann dagegen an vielen Stellen gleichzeitig suchen. Die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen würde dadurch extrem beschleunigt.

Bis es so weit ist, lässt sich mit dem Versuchsaufbau der Bonner Forscher aber auch Grundlagenforschung betreiben. Denn im Experiment kann beobachtet werden, wie das quantenmechanische Verhalten der mikroskopischen Welt langsam in das klassische Verhalten der makroskopischen Welt übergeht, erläutert Widera. Und was an dieser Stelle passiert, ist bislang immer noch ein großes Rätsel – selbst wenn man gelernt hat, mit den Eigenarten der Quantenwelt umzugehen.
  • Quellen
Karski M. et al.: Quantum Walk in Position Space with Single Optically Trapped Atoms. In: Science 325, S. 174–178, 2009.

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