Klimatologie: Stratosphäre wühlt die Tiefsee auf
Vor der Südspitze Grönlands stürzen jede Sekunde Millionen Liter Salzwasser in die Tiefe und treiben damit über das Golfstromsystem den Energietransport im Atlantik an: Europas Klima hängt stark von diesem Förderband ab, denn es beschert Nordwesteuropa ein relativ mildes Klima für seine Breitenlage. Da schon eine kleinere Erwärmung oder Abkühlung der Atmosphäre über dem Nordatlantik diese Wärmepumpe verstärken oder schwächen kann, bezeichnet der amerikanische Atmosphärenforscher Thomas Reichler von der University of Utah in Salt Lake City sie als "Achillesferse" der ozeanischen Zirkulation. Nun hat der Wissenschaftler zusammen mit seinen Kollegen einen überraschend weit entfernten Einflussfaktor für diese Meeresströmung und das weltweite Klima gefunden: den Polarwirbel.
Diese Höhenluftströmung rast relativ konstant in der Stratosphäre in 25 bis 50 Kilometer Höhe mit einer Geschwindigkeit von 130 Kilometer pro Stunde gegen den Uhrzeigersinn um die Arktis. Etwa alle zwei Jahre bricht dieses System jedoch zusammen: Während des so genannten Berlin-Phänomens heizt sich die untere Stratosphäre innerhalb weniger Tage um bis zu 50 Grad Celsius auf (normalerweise liegen die Temperaturen hier bei minus 70 Grad Celsius), weil der Zustrom warmen Wassers am Boden die gesamte Luftsäule erwärmt. Das macht den Polarwirbel instabil und sorgt dafür, dass er sogar völlig zusammenbricht. In der Folge wechselt die vorherrschende Windströmung von West nach Ost, so dass die Luft sich nun im Uhrzeigersinn dreht – ein Zustand, der bis zu zwei Monate andauern kann.
Entgegen bisheriger Annahmen, dass diese Umkehrung nur das Wettergeschehen in der tiefer gelegenen Troposphäre beeinflusst, kommt Reichlers Team nun zu einem anderen Schluss: Die Auswirkungen reichen demnach sogar direkt bis zwei Kilometer Tiefe ins Meer und verändern dadurch die thermohaline Zirkulation. Diese pulsiert in einem natürlichen Rhythmus von zehn Jahren, in dem sie stärker beziehungsweise schwächer wird. Und das Berlin-Phänomen erkläre etwa ein Drittel dieser Schwankungen, so Reichler, dessen Team Wetter- und Meeresdaten der letzten 30 Jahre ausgewertet hatte und zudem das Wechselspiel von Stratosphäre und Ozeanströmungen über 4000 Jahre hinweg modellierte.
Demnach schwächte sich der Polarwirbel in den 1980er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends regelmäßig ab, während er in den 1990er Jahren konstant stark blieb. Parallel dazu transportierte das Golfstromsystem in den 1980er und 2000er Jahren weniger Warmwasser nach Norden, während die Zirkulation im Jahrzehnt dazwischen sehr kräftig andauerte. "Die Stärke der stratosphärischen Zirkulation korrespondiert deutlich mit den Veränderungen der Meeresströmungen im Nordatlantik", erklärt Reichler. Die wiederkehrenden Umkehrungen des Polarwirbels erzeugten demnach langlebige Störungen an der Meeresoberfläche, die sich anschließend in die Tiefe verlagern, so der Forscher. Diese wiederum beeinflussen, wie viel kaltes Wasser im Nordatlantik in tiefere Wasserschichten absinkt und wie viel wärmeres Wasser von Süden her aus dem Golfstrom nachfließt.
"Damit konnten wir erstmals zeigen, dass es eine direkte Verbindung zwischen Stratosphäre, Troposphäre und Ozean gibt", sagt Reichler. Da die thermohaline Zirkulation im Nordatlantik durch den Ferntransport des abgesunkenen Tiefenwassers von globaler Bedeutung ist, haben mengenmäßige Veränderungen des absinkenden Salzwassers auch weltweite Folgen für das Klima und die Ozeane – ein Effekt, den zukünftige Klimamodelle berücksichtigen müssen.
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