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Astrophysik: Streit um Galaxie ohne Dunkle Materie

Ist ausgerechnet eine Galaxie ohne Dunkle Materie der Beweis für die Existenz der Dunklen Materie? Oder ist sie ein Triumph für eine Theorie, die ohne sie auskommt?
Ultradiffuse Galaxie DF2

Als wäre die Sache mit der Dunklen Materie nicht schon verwirrend genug! Ausgerechnet eine Galaxie, in der Astronomen paradoxerweise keine Hinweise auf den mysteriösen Stoff finden konnten, wurde Anfang 2018 als Kronzeuge für die Existenz der Dunklen Materie angeführt: Die rund 65 Millionen Lichtjahre entfernte Welteninsel namens DF2 besteht laut Pieter van Dokkum von der US-amerikanischen Yale-Universität und seinen Kollegen fast ausschließlich aus Sternen und Gas.

Das unterschiedet die ultradiffuse Galaxie von den meisten anderen ihrer Art. Ultradiffuse Galaxien sind groß und massereich wie die Milchstraße, leuchten aber nur schwach. Statt vieler heller Sterne sollten sie daher zu einem guten Teil aus nicht leuchtender, Dunkler Materie bestehen. Außerdem schwirren ihre Sterne und das Gas in ihnen viel zu schnell umher: Ohne stabilisierende Dunkle Materie sollten die Galaxien auseinanderfliegen.

Die Sterne der Galaxie bewegten sich zu langsam

So jedenfalls sahen Astrophysiker die Sache bis zum Jahr 2018. Dann kam DF2. Sie scheint die große Ausnahme zu sein: Ihre Sterne bewegen sich so langsam, dass die Galaxie auch ohne dunkle Unterstützung stabil bleibt, berichteten van Dokkum und seine Kollegen im März 2018 in der Fachzeitschrift »Nature«.

Und nicht nur das: Die Bewegung ihrer Sterne scheine streng dem Gravitationsgesetz zu folgen, das Isaac Newton und später in einer umfassenderen Form Albert Einstein aufgestellt haben. Damit seien alternative Gravitationstheorien aus dem Rennen, schrieben van Dokkum und Kollegen: Eine gültige Gravitationstheorie müsse schließlich in allen Galaxien gelten, ob diese nun Dunkle Materie enthalten oder nicht.

Gemeint waren damit Theorien wie die 1983 vom israelischen Physiker Mordehai Milgrom vorgeschlagene und seither weiterentwickelte MOND-Hypothese, die den Kosmos ganz ohne Dunkle Materie erklären will. Für DF2 liefere MOND ein völlig falsches Ergebnis für die Geschwindigkeit der Sterne, argumentierten van Dokkum und sein Team. Das war der Auftakt für einen Forscherstreit, der bis heute andauert – und bei dem längst noch nicht klar ist, wer am Ende die Nase vorne haben wird.

Der Todesstoß für MOND?

Im März 2019 folgte die jüngste Wendung in der Auseinandersetzung: Da gab van Dokkums Team in der Zeitschrift »Astrophysical Journal Letters« (ApJ) den Fund einer zweiten Dunkle-Materie-freien Galaxie bekannt, sie trägt die Bezeichnung DF4. »Mit nur einem einzelnen System konnten wir nicht 100-prozentig sicher sein, dass wir nicht zufällig von oben auf die rotierende Scheibe blicken und daher die wahre Bewegung der Sterne und die Galaxienmasse unterschätzen«, sagt van Dokkum. Denn in diesem Fall ließe sich die Geschwindigkeit der Sterne nicht über den Dopplereffekt ermitteln. »Dank der zweiten Galaxie haben sich diese Zweifel praktisch aufgelöst. Dass wir beide Galaxien exakt von oben sehen, ist sehr unwahrscheinlich.«

Ist das also der Todesstoß für MOND, der Alternative zur Dunklen Materie? Im Gegenteil, meinen Anhänger von Milgroms Hypothese. Der Fund der Galaxien bestätige genau die Vorhersagen ihrer Theorie, man müsse sie nur richtig anwenden. Zwei gegnerische Parteien, ein Resultat, und beide feiern den Erfolg – das kennt man sonst nur vom Wahlabend.

Die Kontroverse zeigt in jedem Fall, wie knifflig die Beobachtungen sind, auf die sich van Dokkums Team stützt. Schon die Entdeckung von DF2 hatte 2018 Kritiker auf den Plan gerufen. Sie monierten die geringe Datengrundlage, auf der die Forscher ihre Schlüsse gezogen hatten: Um die Bewegung der Sterne in DF2 zu ermitteln, mussten sie sich auf zehn so genannte Kugelsternhaufen verlassen, welche die ferne Welteninsel umkreisen. Die Galaxie und ihre Begleiter sind allerdings so weit entfernt, dass man einzelne ihrer Sterne nur mit den weltgrößten Teleskopen ausmachen kann.

Auf die Geschwindigkeitsverteilung kommt es an

Die Astronomen verwendeten das Zehn-Meter Keck-Teleskop auf Hawaii, um aus dem Lichtspektrum die Bewegung der Kugelsternhaufen zu ermitteln und daraus auf die Bewegung der restlichen Sterne zu schließen. Doch nicht nur war die Zahl der Sternhaufen recht gering. Zweifler fragten auch, ob die Bewegung der Kugelsternhaufen repräsentativ für die der restlichen Sterne der Galaxie sei. Schließlich gehören Kugelsternhaufen nicht zur eigentlichen Sternpopulation einer Galaxie, sie umgeben sie vielmehr in einem ausgedehnten »Halo«.

Himmelskarte | Auf einer Übersichtskarte des Dragonfly Telephoto Array des Keck-Observatoriums sind sowohl die Galaxie DF2 als auch ihre Schwester DF4 zu sehen. Beide enthalten nach Einschätzung von Forschern keine Dunkle Materie.

Van Dokkum und seine Kollegen lassen den Einwand nicht gelten. Diese Zweifel seien mittlerweile ausgeräumt, berichteten die Forscher Anfang 2019 in einem ebenfalls in »Astrophysical Journal Letters« veröffentlichten Artikel. Nachdem die Gruppe die Messungen wiederholt und dabei auch weitere Sterne der Galaxie mit einbezogen hatte, bestätigte sich ihr ursprüngliches Resultat.

Im Wesentlichen interessieren sich die Forscher bei ihren Messungen für die so genannte Geschwindigkeitsdispersion der Sterne in DF2. So bezeichnen Fachleute die Verteilung der Sterngeschwindigkeiten in einer Galaxie um den Mittelwert. Sie erlaubt Rückschlüsse auf die Menge an Dunkler Materie, da diese zusätzlich die Sterne zusätzlich beschleunigt, sie führt also zu einer größeren Streuung der Geschwindigkeiten.

Im Fall der Dunklen-Materie-freien Galaxie DF2 liege die Streuung bei nur 7 bis 8 Kilometern pro Sekunde, schreiben von Dokkum und sein Team. Das sei weniger als die Hälfte des Werts, den Dunkle-Materie-reiche Galaxien typischerweise erreichen: »Unsere Studie bestätigt, dass DF2 weit weniger Dunkle Materie enthält als erwartet und vielleicht auch überhaupt keine«, schreiben die Autoren.

Das passt ganz gut zu einer anderen Messung: Ein Astronomenteam um Eric Emsellem von der Europäischen Südsternwarte (ESO) hat mit dem Very Large Telescope (VLT) in Chile einen mit 10,6 km/s etwas höheren, im Rahmen der Messungenauigkeit mit van Dokkums Resultat jedoch verträglichen Wert der Geschwindigkeitsdispersion ermittelt.

Ein Effekt namens EFE

Damit kann man die Prämisse als bestätigt sehen: Die Sterne in DF2 bewegen sich tatsächlich langsamer als in anderen Galaxien, und sie tun es gemäß Newtons Gesetzen. Doch gilt Gleiches auch für die Schlussfolgerung, dies widerlege die MOND-Hypothese? Van Dokkum und Kollegen hatten aus der alternativen Schwerkraftstheorie eine Geschwindigkeitsdispersion von 20 km/s abgeleitet – ein krasser Widerspruch zu den Messungen.

Andere Forscher unterstellen dem Yale-Astrophysiker jedoch einen Argumentationsfehler: MOND gerate durch DF2 mitnichten in Schwierigkeiten, schrieben Mitte 2018 Pavel Kroupa von der Universität Bonn und seine Mitautoren in einer ebenfalls in »Nature« veröffentlichten Replik. Van Dokkum und seine Kollegen hätten bei der Berechnung der MOND-Vorhersage in ihrem ursprünglichen »Nature«-Artikel einen wesentlichen Kniff der MOND-Theorie ignoriert, den so genannten Externfeldeffekt, kurz EFE.

Er ist eine Eigentümlichkeit der alternativen Schwerkrafttheorie, in der klassischen Gravitationstheorie und der allgemeinen Relativitätstheorie kommt er nicht vor. Der EFE besagt, dass es nicht nur auf die Schwerkraft der betreffenden Galaxie selbst ankommt, sondern auch auf eventuell vorhandene externe Gravitationsfelder.

Ob die MOND-Gleichung angewendet werden muss oder das klassische Gravitationsgesetz, hängt dann davon ab, ob die gemeinsame Beschleunigung aller Felder, intern und extern, über einem kritischen Wert von etwa 0,0000000001 Metern pro Quadratsekunde liegt. Erst unterhalb dieses sehr kleinen Werts müsse die modifizierte Gravitationsgleichung angewendet werden, oberhalb davon gelte weiterhin das newtonsche Gesetz.

Im Fall von DF2 (und auch der im März 2019 entdeckten DF4) sorge das Gravitationsfeld der nahen Galaxie NGC 1052 für das zusätzliche externe Feld. Deshalb seien die beiden von van Dokkum gefundenen Galaxien als quasiklassisch zu behandeln – im Einklang mit MOND. Mit EFE sage die alternative Gravitationstheorie eine Geschwindigkeitsdispersion der Sterne in DF2 von 14 km/s voraus. Das ist mit der Messung der ESO-Astronomen um Emsellem noch halbwegs kompatibel.

Mit MOND wächst der Spielraum für Parameter

Eine größere Herausforderung sind die Keck-Messungen, die eine Geschwindigkeitsdispersion von 7 bis 8 km/s ergeben haben. Doch der Widerspruch lasse sich auflösen, argumentieren MOND-Anhänger: Berücksichtigt man einerseits die Unsicherheiten der Modellparameter, wie die nicht genau bekannte Masse von NGC 1052 und die Entfernung der Galaxien zueinander, und andererseits die Unsicherheiten bei der Messung der Sternbewegungen, dann stimmen die theoretischen Werte und die mit Keck und dem VLT ermittelten Resultate miteinander überein.

Aus Sicht der MOND-Befürworter ist DF2 also ein Triumph ihrer Theorie. Sorgt der Kronzeuge der Anklage also für einen überraschenden Freispruch? Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Im Januar 2019 nahm die Zeitschrift »Astronomy & Astrophysics« eine Arbeit von Oliver Müller von der Universität Straßburg zur Veröffentlichung an.

In dem Aufsatz berechnet der Astrophysiker zusammen mit zwei Kollegen die jeweils gemäß MOND unter Berücksichtigung des EFE zu erwartende Geschwindigkeitsdispersion für 22 ultradiffuse Galaxien. Für DF4 liegt der berechnete Wert wieder deutlich über den von van Dokkum und seinem Team gemessenen 2 bis 8,4 km/s. Allerdings ist die Aussagekraft des theoretischen Werts begrenzt: Wegen der genannten Unsicherheiten schwankt die MOND-Vorhersage zwischen 9,2 und 23,4 km/s – sie könnte damit also auch mit den Messwerten übereinstimmen.

Ähnliches gilt auch die übrigen 21 Galaxien der Liste. Das dämpft die Hoffnung auf eine baldige Entscheidung in dem Disput. Im Rahmen der gegenwärtigen Messunsicherheiten sind die MOND-Vorhersagen einfach noch nicht präzise genug. Befürworter und Gegner können sich gleichermaßen auf diese weite Streuung berufen, ohne ihren Standpunkt aufgeben zu müssen. Damit werden die MOND-Vertreter zwar vorerst kaum einen Zweifler von ihrer Idee überzeugen. Erledigt ist die von der Mehrheit der Astrophysiker geschmähte Alternative zur Dunklen Materie aber auch noch nicht.

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