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Interview: Streptokokken: »Kein harmloser Keim, sondern lebensgefährlich«

Droht Deutschland eine Scharlach-Welle? Mark van der Linden vom Nationalen Referenzzentrum für Streptokokken schätzt im Interview die aktuelle Situation ein.
Kranker Junge auf dem Sofa
Scharlach ist eine typische Kinderkrankheit. Neben dem juckenden Hautausschlag leiden Betroffene oft auch unter hohem Fieber. (Symbolbild)

In Großbritannien gibt es derzeit ungewöhnlich viele Scharlach-Fälle. Auslöser der Krankheit sind Bakterien der Art Streptococcus pyogenes, auch Gruppe-A-Streptokokken genannt. Sie machen sich meist durch Halsentzündung und Hautausschlag bemerkbar, es kann aber auch zu schweren Verläufen kommen. Bereits 15 Kinder sind seit September 2022 infolge einer Infektion mit A-Streptokokken in Großbritannien gestorben. Üblicherweise sind es deutlich weniger, etwa ein bis zwei Todesfälle pro Winter. Die britische Gesundheitsbehörde UKHSA ruft Eltern und Ärzte zur Wachsamkeit auf.

Droht Deutschland – neben Erkältungen und Grippe – nun auch noch eine Scharlach-Welle? Der Biochemiker Mark van der Linden, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Streptokokken an der RWTH Aachen, sieht dafür noch keine Anzeichen. Im Interview erklärt er, warum mit A-Streptokokken nicht zu spaßen ist und wie die Corona-Pandemie Einfluss auf Atemwegsinfektionen genommen hat.

»Spektrum.de«: Herr van der Linden, beobachten Sie in Deutschland derzeit mehr Scharlach-Fälle als sonst?

Mark van der Linden: Nein. Aber ich kann über die Entwicklung der Fallzahlen keine gesicherte Aussage treffen, weil mir die entsprechenden Daten fehlen. In Deutschland gibt es für Gruppe-A-Streptokokken, die Scharlach verursachen, weder eine ärztliche noch eine Labormeldepflicht. Nur Ausbrüche in Gemeinschaftseinrichtungen sind meldepflichtig. Außerdem müssen invasive Pneumokokken-Erkrankungen (verursacht durch Streptococcus pneumoniae, Anm. d. Red.) seit März 2020 gemeldet werden.

Mark van der Linden | Der Biochemiker leitet seit vielen Jahren im Auftrag des Robert Koch-Instituts das Nationale Referenzzentrum für Streptokokken am Institut für Medizinische Mikrobiologie der Universitätsklinik Aachen.

Sie würden einen Anstieg der Scharlach-Fälle in Deutschland also gar nicht bemerken?

Nicht direkt zumindest, das würden zuerst die Gesundheitsämter und die Kinderarztpraxen sehen. Wir untersuchen hier nur Proben von Menschen mit invasiven Streptokokken-Erkrankungen. Wenn wir alle Streptokokken untersuchen würden, bekämen wir Millionen von Proben, so viele können wir gar nicht verarbeiten. Bei den Gruppe-A-Streptokokken, die invasiv geworden sind (englisch: invasive group A streptococci (iGAS), Anm. d. Red.) und die schweren Erkrankungen in Großbritannien verursacht haben, würden wir einen Anstieg sofort bemerken. Im Moment bin ich aber noch nicht alarmiert.

Was bedeutet invasiv?

Viele von uns, vor allem Kinder, tragen Streptokokken in sich, beispielsweise im Rachen. Meistens verursachen sie keine Symptome, manchmal eine Entzündung, etwa Scharlach. Wirklich gefährlich wird es erst, wenn die Bakterien ins Blut oder in die Gehirnflüssigkeit gelangen. Das kann durch einen Insektenstich oder eine oberflächliche Verletzung passieren. Wenn sich die Keime im Blut vermehren, lösen sie mitunter eine Blutvergiftung aus. Auch die Haut und das darunterliegende Gewebe können zerstört werden, dann spricht man von einer nekrotisierenden Fasziitis. Das Gewebe und die inneren Organe werden quasi weggefressen. Wenn man nichts dagegen tut, ist man binnen weniger Tage tot. A-Streptokokken sind also keine harmlosen Keime, sondern lebensgefährlich. Nicht umsonst werden sie im Englischen auch als »the flesh-eating bug« bezeichnet – auf Deutsch so viel wie: »Fleisch fressende Keime«.

Scharlach, eine typische Kinderkrankheit

Von der bakteriellen Erkrankung sind vor allem Kinder betroffen, der Altersgipfel liegt zwischen sechs und zwölf Jahren. In der Regel macht sich eine Infektion mit Streptococcus pyogenes durch Halsschmerzen, Fieber, Schüttelfrost und Unwohlsein bemerkbar. Manche Betroffene haben auch Bauchschmerzen und müssen erbrechen. Gaumen und Rachen sind oft rot, die Mandeln entzündet, die Lymphknoten geschwollen. Typisch für eine Scharlacherkrankung ist auch eine »Himbeerzunge«: Sie ist erst weiß belegt, dann himbeerfarben. Auf der Haut bildet sich ab dem zweiten Tag oft ein Ausschlag, der sich später abschuppt. Normalerweise verläuft eine Infektion mild, trotzdem sollte sie möglichst rasch mit Antibiotika behandelt werden, schreibt das Robert Koch-Institut. In der Regel wird dafür Penizillin eingesetzt. Eine konsequente antibiotische Therapie verkürzt die Zeit, in der ein Kind ansteckend ist, und reduziert außerdem das Risiko für Folgeerkrankungen. Im Gegensatz zu vielen anderen Kinderkrankheiten ist man nach einer überstandenen Scharlach-Erkrankung nicht immun. Man kann also mehrmals im Leben an Scharlach erkranken. Einen Impfstoff gibt es bislang dagegen nicht.

Sind daran auch die Kinder in Großbritannien gestorben?

Das weiß ich nicht. Vermutlich haben sie einen septischen Schock bekommen. Die Bakterien produzieren Gifte, so genannte Superantigene. Sie docken an eine bestimmte Art von Immunzellen, T-Zellen, an und lösen quasi einen Überalarm des Immunsystems aus. Der Körper schüttet dann jede Menge Entzündungsbotenstoffe aus, der Blutdruck fällt stark ab, die Organe versagen. Man stirbt.

Haben in Deutschland die invasiven Gruppe-A-Streptokokken-Fälle in den letzten Jahren zugenommen?

Nein, im Gegenteil: Während der Corona-Pandemie sind sie zurückgegangen, ähnlich wie andere Atemwegserkrankungen, die durch Bakterien wie Pneumokokken, Meningokokken oder Haemophilus influenzae ausgelöst werden. In den Jahren 2017 bis 2019 wurden uns jährlich zwischen 250 und 300 invasive A-Streptokokken-Fällen gemeldet. Im Jahr 2020 waren es 202, und 2021, mitten in der Pandemie, nur noch 116. Die Fallzahlen haben sich also um zwei Drittel reduziert. Jetzt, wo alles wieder in Richtung »normal« geht, sind sie auf 202 angestiegen (Stand 14.12.2022, Anm. d. Red.). Und das Jahr ist noch nicht zu Ende. Ich sage: Das geht zurück auf das Level, auf dem es vorher war. Nächstes Jahr sind wir wahrscheinlich wieder bei rund 300 Fällen.

Und sind das dann wirklich alle Fälle? Schließlich gibt es keine Meldepflicht.

Wir gehen davon aus, dass wir ungefähr die Hälfte der invasiven A-Streptokokken-Erkrankungen mitbekommen. Ein fester Stamm von Diagnostiklaboren schickt uns regelmäßig alle invasiven Streptokokken. In Deutschland werden es also etwa 600 Fälle pro Jahr sein, vielleicht auch mehr.

Wie sieht es im Vergleich dazu in Großbritannien aus?

Statt wie üblich etwa 200 haben sie dort dieses Jahr schon mehr als 800 Fälle. Das ist eine gefährliche Situation, deshalb sind die Behörden alarmiert. Bei uns sehe ich aber noch keine Anzeichen dafür, dass es mehr Scharlach und iGAS-Erkrankungen gibt.

Was ist also in Großbritannien anders als bei uns?

Ich weiß es nicht. Die Scharlach-Fälle gehen mal hoch, mal runter, das hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Witterung und den Lebensumständen.

Also auch von Schulschließungen, Maskentragen und Abstandhalten. Gab es wegen solcher Maßnahmen während der Pandemie weniger Streptokokken-Erkrankungen?

Ja, ganz klar. Israelische Forschende haben dazu eine Studie durchgeführt. Sie haben sich angeschaut, wie viele Kinder vor und während der Corona-Pandemie Pneumokokken im Nasen-Rachen-Raum trugen und wie viele daran tatsächlich erkrankt sind. Das Ergebnis ist interessant: Während der Pandemie hatten nicht weniger Kinder Pneumokokken, sie wurden aber seltener krank. Was erheblich reduziert wurde, ist die Übertragung von Viren. Vor allem bei drei Exemplaren fanden die Forschergruppe eine Korrelation zwischen den Maßnahmen und einem Rückgang der Infektionen: dem Humanen Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV), dem damit verwandten Humanen Metapneumovirus und Influenzaviren. Als die Maßnahmen beendet wurden, haben sich diese Viren wieder verbreitet – und auch die Pneumokokken-Erkrankungen kamen zurück.

Weshalb begünstigen die viralen Atemwegsinfektionen die bakteriellen Erkrankungen?

Eine Virusinfektion schwächt das Immunsystem der Kinder und macht die Schleimhäute durchlässiger für Bakterien. Sie erkranken deshalb auch eher an Pneumokokken. So erklärt sich auch die WHO die ungewöhnlich hohen Fallzahlen in manchen europäischen Ländern. Während der Pandemie haben Masken und andere Maßnahmen die respiratorischen Viren hingegen effektiv abgehalten. Sie konnten die Schleimhäute nicht infizieren. So blieb die natürliche Barriere intakt, und die Bakterien – die auch währenddessen da waren – konnten sich nicht vermehren und ausbreiten.

Spielte es dabei eine Rolle, wie streng die Maßnahmen waren? Das war ja von Land zu Land verschieden.

Eher nicht. Gemeinsam mit 26 anderen Referenzzentren und Laboren weltweit haben wir zu dieser Fragestellung eine Studie durchgeführt. Darin haben wir untersucht, wie restriktiv die Maßnahmen im jeweiligen Land waren und wie stark die bakteriellen Atemwegserkrankungen dort zurückgegangen sind. Signifikante Unterschiede haben wir nicht gefunden: Sobald es in einem Land Maßnahmen gab, wurden auch die bakteriellen Atemwegserkrankungen weniger.

Wären wir aus heutiger Sicht ohne Maßnahmen besser gefahren, weil wir jetzt keine »Nachwirkungen« hätten?

Nein, die Maßnahmen waren richtig. Sonst wären noch viel mehr Menschen an Covid-19 gestorben. Aber natürlich ist dadurch einiges aus dem Gleichgewicht geraten. Etliche Ärztinnen und Ärzte, mit denen ich in regelmäßigem Austausch stehe, haben diese Entwicklung schon letztes Jahr vorhergesagt. Es gibt praktisch anderthalb Geburtsjahrgänge, die noch keine RSV-Infektion hatten. Die Kinder waren mindestens ein Jahr lang nicht zusammen, seltener oder gar nicht krank und haben deswegen keinen natürlichen Immunschutz aufgebaut. Jetzt treffen sie wieder aufeinander und müssen gewissermaßen die ganzen Viren und Bakterien nachholen. In den Kinderarztpraxen und -kliniken gibt es derzeit extrem viele Fälle von Viruserkrankungen und bakteriellen Infektionen. Und bei uns im Referenzlabor ist die Hölle los mit Pneumokokken.

Erkranken die Kinder dann auch schwerer als sonst?

Wo es mehr Fälle gibt, gibt es auch mehr Komplikationen. Daher denke ich: Die Fälle sind nicht schlimmer, sondern nur zahlreicher. Doch es wirkt natürlich bedrohlich, wenn statt zwei plötzlich 20 Kinder auf der Intensivstation liegen. Die Situation in England ist aber wahrscheinlich auch diesem »Nachholeffekt« geschuldet. Allerdings wissen wir schon lange, dass virale Infektionswellen oft den bakteriellen vorausgehen – etwa von der Spanischen Grippe. Die zweite Welle ging mit einer bakteriellen Infektion einher und war viel schlimmer und tödlicher als die erste. Es könnte also sein, dass wir nun bezüglich der bakteriellen Infektionen eine ähnliche Entwicklung sehen: Die Viren, die sich wieder in Hülle und Fülle verbreiten, schwächen die Schleimhäute, und die Bakterien können dadurch leichter Infektionen verursachen. Geschieht beides gleichzeitig, hat man eine Superinfektion.

»Wo es mehr Fälle gibt, gibt es auch mehr Komplikationen«Mark van der Linden, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Streptokokken

Haben also Kinder, die sich jetzt mit Sars-CoV-2 oder RSV infiziert haben, ein höheres Risiko für Scharlach oder eine iGAS-Erkrankung?

Um darüber etwas aussagen zu können, müsste man eine Studie durchführen. Ich persönlich glaube eher nicht. Es gibt jetzt eben mehr Kinder als sonst, die noch nicht mit Viren wie RSV in Kontakt waren und sich infizieren können – aber ein erhöhtes Risiko für eine Superinfektion sehe ich bislang nicht.

In Großbritannien gab es bereits im Winter 2017/18 eine erhöhte Zahl von invasiven A-Streptokokken-Erkrankungen. Damals wurde ein neuer Stamm entdeckt, der neunmal mehr Toxin produziert als andere. Ist jetzt wieder ein neuer Stamm im Spiel?

Nicht, dass ich wüsste. Hätten die Kollegen einen bestimmten Stamm gefunden, hätten sie schon hier angerufen und gefragt: Seht ihr das auch? Die Verteilung, die wir bei den A-Streptokokken momentan sehen, ist tatsächlich etwas verschoben. Die Verhältnisse vom einen zum anderen Typ haben sich ein bisschen verändert – warum, wissen wir nicht. Diese Veränderungen sind aber nicht dramatisch, bei so niedrigen Fallzahlen lässt sich ohnehin wenig aussagen. Da kommt es schnell mal zu Verzerrungen. Auf jeden Fall sehen wir bislang keinen Stamm, den es noch nie gab.

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