Belastungen: »Stress scheint im Lauf des Lebens abzunehmen«
Stress ist für niemanden ein Fremdwort: Einschneidende Erlebnisse, wie beispielsweise der Tod des Ehepartners oder ein Jobwechsel, können viel von unserer Energie und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Das belegen zahlreiche Studien. Inzwischen verstehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch immer besser, wie kleinere, alltägliche Stressfaktoren die Stimmung und das Erleben beeinflussen. Der Entwicklungspsychologe David Almeida von der Pennsylvania State University begleitet seit 1995 eine Gruppe von mehr als 3000 Erwachsenen, um genau solche Stressoren zu untersuchen. Im Interview spricht er darüber, welche positiven Aspekte das Älterwerden in dieser Hinsicht mit sich bringt – und wie globale Krisen unser Stresslevel verändern.
Herr Almeida, seit zwei Jahrzehnten verfolgen Sie, welche Erfahrungen Menschen tagtäglich machen. Wie hat sich dadurch Ihre Perspektive als Psychologe verändert?
Bei meiner Arbeit versuche ich, einen Tag im Leben eines Menschen zu charakterisieren. Ich untersuche, wie die betreffende Person ihre Zeit nutzt, mit positiven Erlebnissen und mit Stressoren umgeht, wie es um ihre Stimmung und ihr körperliches Befinden bestellt ist. Und ich erfasse, wie sich diese Dinge von Tag zu Tag verändern. Obwohl ich Psychologe bin, ist meine Analyseeinheit also gewissermaßen ein Tag, nicht eine Person.
Je mehr ich mich in diese Arbeit vertieft habe, desto mehr habe ich erkannt, dass sich die Menschen von Tag zu Tag genauso sehr von sich selbst unterscheiden wie von anderen. Unsere Identität ist nicht nur ein Durchschnittswert dessen, was Erfahrungen mit uns machen – sie liegt auch in der Bandbreite unseres Verhaltens, in dem Ausmaß, in dem wir mit den Erfahrungen, die wir machen, auf und ab gehen.
Wie ermitteln Sie, was die Menschen im Alltag stresst?
Wir bitten die Personen am Ende eines jeden Tages, eine Reihe strukturierter Fragen zu beantworten. Ursprünglich haben wir dazu Telefongespräche geführt, jetzt verwenden wir webbasierte Methoden. Wir fragen, wie sie ihre Zeit verbracht haben, wie ihre Stimmung war, welche körperlichen Symptome sie hatten, mit wem sie interagiert haben, und stellen viele Fragen zu den Stressoren, die sie an diesem Tag erlebt haben. Bei einigen Studien nehmen wir auch eine Speichelprobe, mit der wir die Menge an Stresshormonen im Körper bestimmen können. Mit dieser Methode haben wir eine große Gruppe von Menschen begleitet. Ich möchte mich dafür bedanken, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der National Study of Daily Experiences – die Teil der groß angelegten Untersuchung Midlife in the United States ist – in den vergangenen 20 Jahren ihr Leben mit mir geteilt haben!
Sie haben 2022 die Ergebnisse einer Analyse veröffentlicht, in die die Daten von 2845 Erwachsenen eingeflossen sind, die Sie 20 Jahre lang begleitet haben. Zu Beginn waren die Probanden zwischen 22 und 77 Jahre alt. Dabei haben Sie festgestellt, dass die Menschen mit zunehmendem Alter weniger gestresst zu sein scheinen. Können Sie das näher erläutern?
Ja, endlich mal eine gute Nachricht zum Thema Alltagsstress: Er scheint im Lauf des Lebens ein wenig abzunehmen. Wir haben festgestellt, dass jüngere Menschen von mehr Stressereignissen berichteten als ältere. Damit sind Erlebnisse gemeint, die als herausfordernd, beunruhigend oder störend empfunden werden. Menschen in ihren 20ern erzählten an mindestens 40 bis 45 Prozent der Tage von Stressoren. Personen in den 70ern plagten sich hingegen nur an rund 20 bis 25 Prozent der Tage mit Belastungen herum. Darüber hinaus haben wir untersucht, wie viel Stress die Versuchspersonen erleben – und wie sie auf diesen Stress reagieren. Hier zeigte sich ein ähnliches Bild: An Tagen mit Stressfaktoren hatten junge Erwachsene auch mehr Stress als Ältere. Um das 55. Lebensjahr herum scheint dieser Altersvorteil – bei dem die Reaktion auf Stress mit zunehmendem Alter immer besser wird – allmählich abzuflachen und ein Plateau zu erreichen.
Warum können ältere Menschen Stress offenbar besser bewältigen?
Ich denke, dabei wirken drei Faktoren zusammen. Der erste hat mit den sozialen Rollen zu tun, die Menschen im Lauf ihres Lebens einnehmen. Wenn man jung ist, beginnt man womöglich eine neue Partnerschaft, bekommt Kinder, sucht sich seine erste Arbeitsstelle. Solche neuartigen Rollen sind stressig, ebenso wie die Konflikte, die entstehen können, wenn man mehrere Rollen gleichzeitig innehat. Ein zweiter Grund könnte sein, dass wir mit zunehmendem Alter erkennen, dass wir nur noch ein gewisses Maß an Lebenszeit vor uns haben und deshalb das Beste aus ihr machen wollen. Wir sind also sehr motiviert, die verbleibende Zeit zu genießen. Und drittens – und dieser Punkt interessiert mich am meisten – lernen wir auf Basis von Erfahrungen und früheren Stressoren wahrscheinlich immer besser, mit alltäglichen Belastungen umzugehen.
Erklärt das auch, warum ältere Menschen Untersuchungen zufolge im Schnitt glücklicher sind als jüngere?
Eigentlich sollte man meinen, dass Älterwerden nicht besonders glücklich macht – man denke nur daran, wie sich die körperliche Gesundheit verschlechtert und Ältere häufiger an Krankheiten leiden, während soziale Kontakte und kognitive Ressourcen allmählich schwinden. Tatsächlich stellen wir jedoch immer wieder fest, dass die Lebenszufriedenheit mit höherem Alter steigt. Das gilt allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Ab 80 oder 90 Jahren werden die Lebensumstände schwieriger und auch die Zufriedenheit nimmt wieder ab.
Wie wirken sich Dinge wie wirtschaftliche und politische Unsicherheit auf das tägliche Stresslevel aus?
Wie ein Blick auf unsere Daten zeigt, hatten Erwachsene im Jahr 2010 einen stressigeren Alltag als noch im Jahr 1995. Außerdem fühlten sie sich auch subjektiv stärker belastet. Unsere Hypothese ist, dass dies auf historische Veränderungen wie die Rezession im Jahr 2008 zurückzuführen ist sowie auf das Aufkommen von neuen Technologien, die die Art und Weise, wie wir miteinander interagieren, verändert haben. Hoffentlich können wir in künftigen Arbeiten sehen, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Menschen hatte. Es wäre zum Beispiel möglich, dass in diesem Zeitraum der Stressvorteil der Älteren verschwunden ist.
Die Rezession von 2008 scheint überraschenderweise vor allem Menschen mittleren Alters gestresst zu haben. Ich hätte eigentlich gedacht, dass jüngere Erwachsene, die gerade erst ins Berufsleben einsteigen, und ältere Erwachsene im Ruhestand am stärksten betroffen sein würden. Aber nein, es waren Erwachsene im Alter von Mitte 40 bis Mitte 60, die über ein höheres Maß an psychischer Belastung berichteten. Ich denke, das hat mit den sozialen Rollen von Erwachsenen in der Lebensmitte zu tun: Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder, aber auch um ihre Eltern.
Sollten wir versuchen, alle Stressfaktoren aus unserem Alltag zu entfernen?
Ein gewisses Maß an täglichem Stress könnte sogar gut sein. Menschen, die eigenen Aussagen zufolge keinen Stress in ihrem Leben haben, hält man meist für glücklich und zufrieden. Aber sie berichten auch über weniger positive Dinge in ihrem Leben. Zudem haben sie weniger andere Menschen um sich herum und schneiden bei kognitiven Tests schlechter ab. Für die Gesundheit und das Wohlbefinden ist nicht so sehr entscheidend, wie viele Stressfaktoren man im Leben hat, sondern eher, wie man mit diesem Stress umgeht. Es ist die emotionale Reaktion auf Belastungen, die beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursacht, Entzündungen verstärkt und zu einem früheren Tod beiträgt.
Was kann man tun, um besser mit Stress umzugehen?
Es gibt einige Dinge, die jeder für sich selbst tun kann, etwa sich gesund zu ernähren und nachts ausreichend zu schlafen. Allerdings ist unsere Stressantwort nicht nur von individuellen Verhaltensweisen abhängig. Menschen, die zum Beispiel auf Grund ihrer Ethnie oder ihrer sexuellen Orientierung einer Minderheit angehören, weisen grundsätzlich eine höhere Stressreaktivität auf. Sie haben nicht immer die Ressourcen, um den alltäglichen Stress zu bewältigen. Wenn der Körper unter Anspannung steht, möchte er Energie mobilisieren. Aufzustehen und spazieren zu gehen, ist dann der beste Weg, um die emotionale Reaktion einzudämmen. Doch natürlich können viele nicht einfach während der Arbeit aufstehen und einen Spaziergang machen. Wir müssen deshalb auch darüber reden, wie wir den Menschen Ressourcen zur Verfügung stellen können, damit sie sich selbst helfen können.
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