Humanitäre Krisen: Ist Europa eher offen für Geflüchtete aus der Ukraine?
Die Menschen in Europa sind Geflüchteten gegenüber zurzeit ebenso aufgeschlossen wie noch vor sieben Jahren – trotz vieler humanitärer Krisen in der Zwischenzeit. So lautet das Ergebnis einer umfangreichen Studie im Fachblatt »Nature«. Allerdings scheinen die Europäerinnen und Europäer gegenüber bestimmten Gruppen positiver eingestellt zu sein als gegenüber anderen. Und zwar oft solchen Gruppen, die ihrer eigenen Mentalität und Einstellung am nächsten kommen, ergab die Studie.
Den Anlass für die Forschungsarbeit lieferte der Zustrom von Geflüchteten, den der russische Angriffskrieg in der Ukraine ausgelöst hat. Die Wissenschaftler hatten schon zuvor im Jahr 2016, als vor allem Menschen vor dem Krieg in Syrien und den erbärmlichen Bedingungen in den Flüchtlingslagern flohen, die Einstellung der Europäer gegenüber Asylsuchenden analysiert. 2022 wollten sie nun wissen, ob die Geflüchteten aus der Ukraine, die dem Großteil der Bevölkerung in den Asylländern kulturell näherstehen, »die Ansichten der europäischen Öffentlichkeit darüber, wen sie aufnehmen wollen, verändert hat«, sagt Dominik Hangartner, Koautor der »Nature«-Studie und Politikwissenschaftler an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich.
Die Forscher befragten im Jahr 2016 ungefähr 18 000 Menschen in 15 Ländern – und im Jahr 2022 etwa 15 000 Menschen in denselben 15 Ländern, darunter Deutschland, Österreich, die Schweiz, Ungarn, Polen und Großbritannien. Die Wissenschaftler legten den Teilnehmenden Paare von zufällig erstellten Flüchtlingsprofilen vor, die sich in Merkmalen wie Alter, Religion, Geschlecht, Sprachkenntnissen, Beruf, Herkunftsland und Migrationsgrund unterschieden. Die Probanden sollten anschließend bewerten, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie jedem der Geflüchteten den Aufenthalt im eigenen Land gewähren würden. Zuletzt sollten sie eine Person pro Paar auszuwählen, die bleiben dürfe.
Weiblich, christlich, jung
In beiden Umfragejahren zogen die Teilnehmer jüngere Geflüchtete älteren vor, zudem würden sie eher Frauen als Männer aufnehmen und eher Christen als Agnostiker oder Muslime. Am wenigsten würde man Menschen mit folgender Biografie akzeptieren: Muslime, die aus wirtschaftlichen Gründen migrieren und die Sprache des Aufnahmelandes nicht beherrschen. »Es liegt eine inhärente Voreingenommenheit in der Art und Weise vor, wie Menschen, die nicht an andersartige Personen gewöhnt sind, solche Gruppen wahrnehmen«, sagt Michelle Pace, die an der Universität Roskilde in Dänemark über Zwangsmigration forscht.
Aus diesem Grund zeigten sich die Befragten bei der Aufnahme von Ukrainerinnen und Ukrainern aufgeschlossener. Doch gemäß Hangartners Studie sei für die positive Haltung weniger ausschlaggebend, dass die Ukraine ein europäisches Land ist. Vielmehr würden die Geflüchteten von dort aus Sicht der Befragten akzeptablere Eigenschaften mitbringen. Diese »befürworten eher die Aufnahme von Asylsuchenden, die jünger, weiblich und christlich sind, konsistente Asylanträge einreichen, über bessere Sprachkenntnisse und berufliche Qualifikationen verfügen und besonders schutzbedürftig sind«, fand der Politologe mit seinen Kollegen heraus.
Zu Beginn der ukrainischen Flüchtlingsströme im Jahr 2022 stellten viele Kritiker fest, dass europäische Entscheider mit ihrer Asylpolitik ukrainische Geflüchtete besser zu behandeln schienen als Menschen, die vor anderen humanitären Krisen flohen wie in Syrien oder Afghanistan. Boris Johnson, der damalige britische Premierminister, zum Beispiel sagte, sein Land werde sich gegenüber den ukrainischen Geflüchteten »sehr, sehr großzügig« verhalten. Gleichzeitig befürwortete er das heftig kritisierte Vorhaben, andere Asylsuchende in Großbritannien nach Ruanda abzuschieben – ein Plan, der momentan per Gerichtsbeschluss auf Eis liegt. Der damalige bulgarische Premierminister Kiril Petkow blies in dasselbe Horn wie Johnson: »Das sind nicht die Flüchtlinge, an die wir gewöhnt sind (...) Diese Menschen sind Europäer.«
Für wen gilt die Massenzustrom-Richtlinie?
Im März 2022 genehmigte die Europäische Union erstmals den »vorübergehenden Schutz« für ukrainische Flüchtlinge, sie nutzte also die so genannte Massenzustrom-Richtlinie. Geflüchtete aus der Ukraine konnten sich daraufhin ohne amtliche Asylgewährung in der EU aufhalten, dort arbeiten und zur Schule zu gehen. Kritiker zeigten sich jedoch verwundert, warum Menschen, die aus Ländern in Afrika oder dem Nahen Osten flohen, nicht dieselben Rechte zugestanden wurden.
In ihrer Umfrage konnten Hangartner und seine Kollegen aber keine erheblichen Unterschiede erkennen, wenn es um die generelle Akzeptanz von Asylsuchenden geht. »Die Zahl der nicht ukrainischen Asylsuchenden, welche die von uns befragten Personen aufnehmen würden, ist in allen untersuchten Ländern im Vergleich zu 2016 entweder gleich geblieben oder gestiegen«, sagt Hangartner laut einer Pressemitteilung der ETH Zürich. Zwar seien die Europäerinnen und Europäer eher offen für die Aufnahme von christlichen Geflüchteten, dennoch sei die Unterstützung für muslimische Asylsuchende nicht gesunken, teils sei sie sogar leicht gestiegen.
Hangartner sagt, seine Daten würden Politiker über die öffentliche Wahrnehmung von Geflüchteten informieren. Sie zeigten, dass die meisten Menschen nicht den extrem negativen Ansichten anhängen, die viele Asylgegner vertreten. »Diejenigen, die man in der politischen Arena hört, sind manchmal die lautesten Stimmen und nicht unbedingt repräsentativ für die Wählerschaft«, so der Politologe.
Kritik an Hangartners Studie
Daniel Thym, Experte für Migrations- und Asylrecht an der Universität Konstanz, ist jedoch nicht überzeugt davon, dass die Studie für die Gestaltung der Asylpolitik nützlich sein kann. Seines Erachtens gibt es einen Unterschied zwischen der individuellen Wahrnehmung von Geflüchteten und der Haltung einzelner Länder zur Zahl der Migranten. Zweiteres sei für politische Entscheidungen nämlich relevanter.
Auch Michelle Pace kritisiert die Studie. Es sei problematisch, wenn in Forschungsarbeiten »über Asylbewerber und Geflüchtete gesprochen wird, aber nicht mit ihnen«. Ihres Erachtens würde so eine immense Datenlücke noch größer werden; zum Beispiel würde die in der Studie registrierte positive Haltung gegenüber Geflüchteten nicht den Erfahrungen solcher Menschen entsprechen, die nach Dänemark geflohen seien und mit denen sich Pace für ihre Forschungen ausgetauscht habe.
Hangartner erwidert, dass er und seine Kollegen mit mehreren europäischen Flüchtlingsorganisationen zusammengearbeitet hätten. Doch die Erfahrungen von Geflüchteten und Asylsuchenden einzubeziehen, hätte den Rahmen der Studie gesprengt. »Ich glaube, dass es besser ist, sich über die genannten Differenzen im Klaren zu sein, als sie völlig zu ignorieren«, sagt Hangartner. »Und genau an dieser Stelle hoffe ich, setzt weitere Forschung an.«
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