News: Sturzflug in die Tiefe
Wenn man keinen realen Wanderfalken (Falco peregrinus) bei seinen todesverachtenden Kunststücken beobachten kann, ist die zweitbeste Möglichkeit, einfach einen zu erfinden, der sie auf Bestellung ausführt. Im Journal of Experimental Biology beschreibt Vance Tucker von der Duke University in Durham, North Carolina, eine mathematische Simulation – er nennt sie den "idealen Falken". Sie sagt zwar wenig darüber aus, wie sich echte Falken in der Wildnis bewegen, gibt jedoch wenigstens Anhaltspunkte darüber, was möglich ist und was nicht.
Tuckers ideale Falken wiegen zwischen 0,5 und 2 Kilogramm – das liegt innerhalb der Bandbreite echter Falken – und "verhalten sich", wie es man es bei den echten Falken beobachtet hat. Sie folgen Bahnen mit konstantem Gleitwinkel, der zwischen 15 Grad zur Horizontalen bis fast zur Vertikalen hin liegt. Ein 2 kg schwerer idealer Falke könnte im Prinzip eine Geschwindigkeit von 174 Metern pro Sekunde in einem senkrechten Sturzflug erreichen. Zum Vergleich: Nur wenige Fahrzeuge auf Rädern können schneller als 100 Meter pro Sekunde fahren, und auch nur wenige Luftfahrzeuge mit Propellerantrieb vermögen dies in geradem Flug. Der 2-kg-Falke würde 23 Sekunden benötigen, um 95 Prozent seiner Spitzengeschwindigkeit zu erreichen, und dabei 1078 Meter an Höhe verlieren.
Um sich aus seinem Sturzflug heraus zu bewegen, würde ein idealer Falke seine Flügel wölben, den Angriffswinkel ändern und eine Verzögerung von 1,5 g erreichen. Das ist bei weitem mehr, als die meisten Menschen je erleben, sogar wenn sie in stürmischen Geländefahrten herumgeschleudert werden. Zum Vergleich: Die negative Beschleunigung von einem g fühlt sich an, als würde man, von Gurten gehalten, in einem Auto sitzen, das senkrecht an der hinteren Stoßstange hängend herabbaumelt.
Es gibt keinen Grund, warum echte Falken diese Manöver nicht vollführen könnten, aber es gibt sehr wohl gute Gründe, warum es uns schwerlich gelingt, sie in Aktion zu sehen und warum die Falken derartige Kunststücke nur selten ausführen. Zum einen benötigen die Tiere einen sehr langen Anlauf, um Höchstgeschwindigkeiten zu erreichen (mehr als ein Kilometer Höhe), so daß der Vogel am Anfang des Sturzfluges für das bloße menschliche Auge wie ein Pünktchen aussehen würde. Umgekehrt ist es genauso. Sogar nach den Standards von Greifvögeln gemessen, bräuchte ein Falke eine unglaubliche Sehschärfe, um in einer Höhe von 1 km über dem Opfer einen kleinen Vogel, der sich vor einem ähnlich gefärbten Hintergrund bewegt, sehen und anvisieren zu können.
Doch wenn wir annehmen, daß Falken wirklich ein so gutes Sehvermögen besitzen, würden die Vögel sich so schnell ihrer Beute nähern, daß diese den Angreifer gar nicht kommen sehen würde. Die Propellerspitzen eines Flugzeuges im Leerlauf bewegen sich mit 100 Metern pro Sekunde, und beim Betrachten sind sie nur ein verschwommener Fleck. Andererseits könnte der Zusammenstoß zwischen Raubvogel und Opfer bei solch hohen Geschwindigkeiten den Falken verletzen – und sollte das Opfer etwas merken, könnte es den schnelleren Vogel leicht ausmanövrieren.
Die größte Gefahr für den hinabstürzenden Falken wäre jedoch der rasend schnell auf ihn zukommende Boden. Bei der Jagd auf einen tief fliegenden Vogel müßte der Falke den Sturzflug abbrechen, bevor er sein Opfer berührt (einfach, um nicht auf den Boden aufzuschlagen), wodurch die Spannung und das Schauspiel etwas gestört würden. Echte Falken sind offenbar zu Hochleistungs-Sturzflügen durchaus fähig, doch sie haben kaum – wenn überhaupt – die Gelegenheit, sie auszuüben. Die Greifvögel beschränken sich bei ihren Künstflügen auf gesetztere Geschwindigkeiten, die den Restriktionen der realen Jagdsituation Tribut zollen.
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