Sucht: Clean werden um jeden Preis?
Seit mehr als einem halben Jahr ist Benjamin Keller* clean. Im September 2017 fuhr er in ein spezielles Behandlungszentrum nach Spanien und schluckte ein paar Kapseln, in deren Innerem sich ein braunes Pulver befand. Das Pulver wurde aus der Wurzelrinde des Strauchs Tabernanthe iboga hergestellt, die das Halluzinogen Ibogain enthält. Seitdem ist Kellers Verlangen nach Kokain verpufft. Der 45-Jährige lebt in der Nähe von Hamburg und arbeitet als Manager. Vor der Spanienreise hat er regelmäßig Kokain konsumiert, manchmal bis zu zehn Gramm am Tag – eine enorme Menge. Schon mehrfach hat er versucht, damit aufzuhören, jedes Mal ist er rückfällig geworden. Bis jetzt.
Ibogain hat nicht nur Keller geholfen. In Internetforen schildern Menschen, wie sie ihre Süchte nach Nikotin, Heroin oder Medikamenten mit Hilfe der Substanz überwunden haben. Sie gehen dabei allerdings ein Risiko ein: Mindestens 27 Menschen sind weltweit bereits gestorben, nachdem sie das Halluzinogen eingenommen haben. Viele Suchtmediziner sind daher skeptisch. Es gibt jedoch auch Forscher, die an die Entzugsdroge glauben – darunter die Neurowissenschaftlerin Deborah Mash. Sie gibt gerade ihre Professur an der University of Miami auf, um für die Zulassung von Ibogain zu kämpfen.
Seinen Ursprung hat der Iboga-Strauch im zentralafrikanischen Staat Gabun. Dort bauen Anhänger der Bwiti-Religion die Pflanze an und benutzen sie in spirituellen Zeremonien. In den 1930er Jahren vertreibt eine französische Pharmafirma Ibogain unter dem Handelsnamen Lamberéne als Mittel gegen Depressionen. Nach und nach gewinnt es auch einen Ruf als Aufputschmittel, bis das Internationale Olympische Komitee es schließlich bei Wettkämpfen verbietet.
Ende der 1960er Jahre wird der damals 19-jährige Howard Lotsof auf die Iboga-Pflanze aufmerksam. Er ist heroinabhängig und ständig auf der Suche nach dem nächsten High. Das halluzinogene Pulver hat ihm ein Bekannter gegeben. Nach einem fast anderthalb Tage dauernden Rauschzustand fühlt er sich erstaunlich frei: Er sehnt sich plötzlich nicht mehr nach Drogen und verspürt die Angst nicht mehr, die ihn zuvor ständig begleitet hat. Sein verbleibendes Leben widmet er Ibogain, dessen Wirkung er auch an zahlreichen anderen Suchtkranken erprobt. Die Ergebnisse veröffentlicht Lotsof in Fachzeitschriften, ohne je einen akademischen Titel besessen zu haben. Mitte der 1980er Jahre meldet er sein erstes Patent an und versucht, Pharmafirmen für die suchtunterbrechende Substanz zu begeistern. Ohne Erfolg.
Rechtliche Grauzone
Bis heute lassen sich die Wirksamkeit von Ibogain und das Risiko, das mit der Einnahme verbunden ist, anhand wissenschaftlicher Studien nicht sicher beurteilen. Das liegt unter anderem an der komplizierten rechtlichen Lage. In Europa dürfen Ärzte nicht mit dem Wirkstoff behandeln, aber in vielen Ländern – darunter Deutschland – ist es auch kein illegales Betäubungsmittel. Es zu besitzen und zu konsumieren, ist also erlaubt. So können Privatpersonen eine Behandlung mit Ibogain anbieten, eine rechtliche Grauzone. In den USA ist das anders: Dort ist Ibogain zusammen mit weiteren bewusstseinserweiternden Drogen in den späten 1960er Jahren verboten worden.
1995 sieht es für kurze Zeit so aus, als könnte Ibogain doch noch als Arzneimittel zugelassen werden. Die Neurowissenschaftlerin Deborah Mash bekommt nach ersten viel versprechenden Testläufen grünes Licht von der US-amerikanischen Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA), klinische Studien durchzuführen. Sie kann sie jedoch nicht finanzieren; die öffentlichen Geldgeber stufen das Risiko für die Patienten als zu hoch ein. Und Pharmaunternehmen interessieren sich nicht für Ibogain. »Es ist nicht profitabel genug«, vermutet Mash.
Das Desinteresse findet die Wissenschaftlerin fatal. Die aktuelle Drogenepidemie verlange nach neuen und innovativen Mitteln, sagt sie. Laut dem National Institute on Drug Abuse sterben jeden Tag 115 US-Amerikaner an abhängig machenden Opioiden. Dazu zählen unter anderem die illegale Droge Heroin sowie verschreibungspflichtige Schmerzmittel mit Oxycodon oder Fentanyl als Wirkstoff. Auch in Deutschland ist die Zahl der Rauschgifttoten hoch. 2017 war sie zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder leicht rückläufig: 1272 Menschen starben in dem Jahr durch den Konsum illegaler Substanzen wie Heroin, Morphin und Kokain – knapp fünf Prozent weniger als noch 2016, wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, im Mai 2018 mitteilte. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Schätzungsweise rund 180 000 weitere Todesfälle gehen jährlich auf das Konto von Alkohol und Zigaretten, mehr als eine Million Menschen sind davon abhängig.
Könnte Ibogain die Lösung für die Drogenkrise sein? Wissenschaftliche Studien deuten zumindest darauf hin, dass die Substanz eine Abhängigkeit effizient unterbrechen kann. Thomas Kingsley Brown von der University of California in San Diego und Kenneth Alper von der New York School of Medicine konnten 2018 beobachten, wie Ibogain bei 30 Probanden wirkte, die von Heroin oder Oxycodon abhängig waren. Die Wissenschaftler befragten die Patienten zu ihrem Drogen- und Alkoholkonsum sowie zu ihrer Gesundheit und zu ihren sozialen und beruflichen Verhältnissen. Dann verabreichten die Mitarbeiter verschiedener Behandlungszentren in Mexiko den Studienteilnehmern das Halluzinogen in unterschiedlich hoher Dosis: Jeder bekam bis zu 17 Milligramm synthetisch hergestelltes Ibogain pro Kilogramm Körpergewicht. Zusätzlich erhielten manche bis zu drei Gramm eines Extrakts aus der Wurzelrinde der Iboga-Pflanze. Fünfmal innerhalb des darauf folgenden Jahres interviewten die Wissenschaftler die Versuchspersonen. Dabei stellten sie fest, dass einen Monat nach der Einnahme etwa die Hälfte der Teilnehmer drogenfrei waren. Bei zwölf Patienten war die Wirkung offenbar lang anhaltend: Sie wurden selbst nach neun bis zwölf Monaten nicht mehr rückfällig.
Ähnliche Erfolge beobachtete ein Team um Geoffrey Noller von der Dunedin School of Medicine in Neuseeland. Die Forscher untersuchten 14 opioidabhängige Menschen, die in neuseeländischen Behandlungszentren das dort verschreibungspflichtige Ibogain schluckten. Die Dosis war höher als in der Studie von Brown und Alper: bis zu 55 Milligramm des Wirkstoffs pro Kilogramm Körpergewicht. Drei Viertel der Teilnehmer waren auch nach einem Jahr noch clean. Dabei verließen sich die Mediziner nicht nur auf die Selbstaussagen der Teilnehmer, sondern führten zusätzlich Drogentests durch. Forscher um Alan Davis von der Johns Hopkins School of Medicine in Baltimore befragten ebenfalls Patienten, die opioidabhängig gewesen waren und Ibogain eingenommen hatten. Ungefähr ein Drittel der knapp 90 Teilnehmer gaben dabei an, selbst nach zwei Jahren keine Opioide mehr eingenommen zu haben.
Auch wenn Ibogain nicht bei allen Probanden langfristig wirkt, sind diese Erfolge bemerkenswert. Ein ähnlich effektives Mittel gegen Substanzabhängigkeiten gibt es bislang nicht. Meist werden heroinabhängige Patienten in Substitutionstherapien ganz oder teilweise auf andere Opioide wie Methadon oder Buprenorphin umgestellt, die das zuvor konsumierte Heroin ersetzen sollen. Idealerweise führt das dazu, dass die Suchtkranken insgesamt weniger Opioide einnehmen. Ob Buprenorphin dazu geeignet ist, hat im Jahr 2011 ein Team um den Psychiatrieprofessor Roger Weiss von der Harvard Medical School untersucht. Die Wissenschaftler verabreichten 360 Probanden das Medikament über mehrere Monate hinweg und setzten es anschließend langsam ab. Nur knapp neun Prozent der Studienteilnehmer konsumierten danach wesentlich weniger Opioide.
Dafür gibt es einen Grund: Substanzen wie Methadon und Buprenorphin haben selbst ein großes Suchtpotenzial. In der Praxis nützen Substitutionstherapien trotzdem, weil Ärzte kontrollieren können, wie viel die Patienten konsumieren. Da diese außerdem die Kosten für das teure Heroin nicht mehr selbst zahlen müssen, sind sie eher davor geschützt, in Kriminalität oder Armut abzurutschen. Für Menschen, die von Kokain oder Amphetamin abhängig sind, gibt es bislang keine vergleichbare Ersatztherapie. Auch das macht Ibogain interessant.
»Ich bin sehr gut gelaunt aus dem Entzug zurückgekommen«
Benjamin Keller, ehemaliger Kokain-Abhängiger
Der Stoff hat zudem andere positive Nebeneffekte: Viele Suchtkranke berichten, dass er Entzugssymptome stark abmildert. So leiden Patienten im Heroinentzug oftmals unter Übelkeit, starkem Schwitzen, Schüttelfrost und Schlaflosigkeit sowie an Angst, Depression und einem unerträglichen Verlangen nach dem Rauschmittel. Ähnliche psychische Symptome erfahren Menschen, die von Kokain loskommen wollen.
Keller blieb das erspart. »Ich bin sehr gut gelaunt aus dem Entzug zurückgekommen«, berichtet er nach seinem Besuch in der spanischen Iboga-Praxis. Die Ergebnisse mehrerer Studien erhärten tatsächlich die Vermutung, dass Ibogain nicht nur den Entzug erträglich macht, sondern sogar eine antidepressive Wirkung hat: Das Team um Noller stellte fest, dass die Substanz bei ihren Probanden verschiedene Anzeichen einer Depression auslöschte wie Unruhe, ein Gefühl der Wertlosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Das psychische Wohlbefinden verbesserte sich sogar bei jenen, die das Halluzinogen nicht von ihrer Sucht befreien konnte.
Als sei man von Außerirdischen gekidnappt worden
Angenehm scheint der Ibogainrausch dennoch nicht zu sein. Catherine Leathem bestätigt das. Zusammen mit ihrem Mann hat sie Keller und bisher etwa 200 weitere Suchtkranke in ihrem Behandlungszentrum, das an ihr Haus angegliedert ist, mit Ibogain behandelt. Leathem ist Mitte 40 und kommt aus Irland. Vor vielen Jahren testete sie die Substanz im Selbstversuch. »Ich fühlte mich schwindelig, mir war schlecht, und mein Herz schlug wahnsinnig schnell«, erzählt sie. »Es fühlt sich fast so an, als wärest du von Außerirdischen gekidnappt worden. Du glaubst, dass du sterben musst.« Normal sei es zudem, jegliches Zeitgefühl zu verlieren. Jeder Patient sei am nächsten Morgen der Meinung, dass schon mindestens fünf Tage vergangen sind, so Leathem. Das könnte unter anderem daran liegen, dass es den meisten schwerfällt, während des Ibogaintrips zu schlafen. Und der kann zwei bis drei Tage andauern.
Viele haben unter dem Einfluss von Ibogain Visionen. Die können nicht nur fantasievoll sein, sondern auch vergessene Erinnerungen hervorholen. Ein Teilnehmer der Studie von Brown und Alper berichtet zum Beispiel: »Während der Visionen empfand ich ein starkes Gefühl der Liebe zu meiner Familie und ihrer Liebe für mich. Zugleich erlitt ich eine intensive, fast stechende Qual und war überwältigt von Reue und Verlust. Ich entwickelte plötzlich Empathie für meine Familie, deren Hoffnungen für mich von meiner ewigen Suche nach Drogen zerschlagen worden waren.« Keller hätte sich solche Halluzinationen ebenfalls gewünscht, um der Ursache für seine Drogensucht auf den Grund gehen. Doch er spürte lediglich ein Sausen in den Ohren.
Sein Leben hat sich trotzdem massiv verändert. »Man fühlt sich wie neugeboren.« Er erzählt, dass er nun mit sich und der Welt zufriedener und insgesamt gelassener sei. Auf der Arbeit sei er jetzt außerdem viel fokussierter und effizienter. »Aber«, räumt er ein, »das liegt ja auch daran, dass ich jetzt keine Drogen mehr nehme.« Obwohl sich seine Lebensumstände sonst nicht verändert haben – er hat immer noch denselben Job, bewegt sich im selben Freundeskreis –, ist das Bedürfnis, Kokain zu nehmen, bisher nicht zurückgekommen.
Hohe Erfolgsquoten, verminderte Entzugssymptome und eine stimmungsaufhellende Wirkung: Ibogain klingt für manche Suchtkranke verlockend, für andere ist es der letzte Ausweg. Es gibt allerdings einen Haken: Die Einnahme der Substanz birgt ein hohes Risiko. In der neuseeländischen Studie zum Beispiel, an der 15 Betroffene teilnahmen, starb eine Probandin während der Behandlung. Die Wissenschaftlerin Mash ist davon überzeugt, dass solche Todesfälle vermeidbar sind. Obwohl Ibogain in Neuseeland legal erhältlich ist und Behandlungszentren so die Möglichkeit hätten, eng mit Medizinern zusammenzuarbeiten, habe das Personal seine Aufsichtspflicht nicht erfüllt, kommentiert sie. Zu diesem Schluss kam auch die neuseeländische Patientenschutzorganisation Health and Disability Commissioner. In einem Bericht urteilte sie, der verantwortliche Arzt habe die Patientin nicht ausreichend medizinisch beobachtet, nachdem er ihr Ibogain verabreicht hatte.
Das Schicksal der Probandin ist jedoch kein Einzelfall: In der wissenschaftlichen Literatur gibt es Berichte über insgesamt 27 Menschen, die starben, nachdem sie das Halluzinogen eingenommen hatten. Und da nicht alle Betroffenen langfristig nach der Einnahme begleitet werden, könnte die Dunkelziffer noch weitaus höher liegen. In Tierexperimenten zeigte sich, dass große Ibogainmengen nicht nur zu Herzrhythmusstörungen führen, sondern zudem irreparable Schäden im Nervensystem hinterlassen können. Vor einigen Jahren untersuchte Mash, welchen Effekt 500 bis 1000 Milligramm der Substanz auf das menschliche Herz haben. Bei sechs der knapp 40 Studienteilnehmer maß sie einen wesentlich verlangsamten Herzschlag und bei einem Patienten einen stark verminderten Blutdruck. Wissenschaftler vermuten, dass Ibogain sich unter anderem auf jenen Teil des Nervensystems auswirkt, der den Herzschlag reguliert.
Tödliches Zusammenspiel
Lebensbedrohlich kann das vor allem für diejenigen Ibogainkonsumenten werden, die unter einer Herzkrankheit leiden. Bei 70 Prozent der dokumentierten Todesfälle wurde in der Tat eine entsprechende Vorerkrankung nachgewiesen, wie der Biomediziner Tibor Brunt vom niederländischen Trimbos-Institut für Sucht- und psychische Erkrankungen herausfand. Und auch die Dosis scheint eine Rolle zu spielen. Brunt kam zu dem Schluss, dass die meisten, die durch Ibogain starben, Mengen von über zwei Gramm eingenommen hatten. Diese Dosen sind in Behandlungszentren durchaus üblich. In klinischen Studien vertrugen Probanden hingegen geringere Dosen von 3 bis 800 Milligramm Ibogain gut. Gemischt mit zusätzlichen Substanzen wie Opioiden könnte der Stoff jedoch schon in kleinen Mengen toxisch wirken. Das macht gerade Drogenabhängige zu einer Risikogruppe.
Catherine Leathem behandelt aus diesen Gründen nur Patienten mit dem Halluzinogen, die eine Reihe von medizinischen Attesten vorweisen können. Weder Herz noch Leber dürfen Auffälligkeiten zeigen. In Kellers Papieren war das nicht ganz eindeutig, weshalb er noch ein EKG in einem spanischen Krankenhaus machen lassen musste. »Da waren Catherine und ihr Mann schon ganz genau, und das hat mir ein gutes Gefühl gegeben«, sagt er. Außerdem weist Leathem ihre Patienten an, während der Ibogaineinnahme nicht unter Drogeneinfluss zu stehen. Antidepressiva und länger wirkende Opioide sollen die Patienten Wochen vorher absetzen und durch kurz wirkende Substanzen austauschen. Durch diese Vorsichtsmaßnahmen sei in ihrer Praxis noch nie jemand gestorben.
»Eine Abbruchquote von 40 bis 50 Prozent im Heroinentzug ist kein Freifahrtschein für experimentelle Therapien, die zum Teil tödlich enden.«
Rüdiger Holzbach, Chefarzt für Suchtmedizin am Klinikum Arnsberg
Auch Mash hat das noch nicht erlebt. Sie ist der Meinung, dass Ibogain nur von einem zugelassenen Arzt verabreicht werden darf, der sich mit der Substanz auskennt. Die gestaffelten Mengen, die in vielen Behandlungszentren üblich sind, hält sie für gefährlich. Denn der Wirkstoff kann leicht überdosiert werden: Die Leber wandelt Ibogain in das aktive Stoffwechselprodukt Noribogain um, das der Körper eher langsam abbaut. Wichtig sei zudem, so Mash, die Patienten während der Ibogainbehandlung medizinisch zu überwachen, etwa mit einem Herzmonitor. »Ich arbeite mit einer Klinik in Mexiko zusammen, in der wir schon 1800 Menschen mit Ibogain behandelt haben – ohne einen einzigen Todesfall«, sagt sie.
Auf der Suche nach einer Alternative
Der emeritierte Neurowissenschaftler Stanley Glick ist da weniger optimistisch. Er hält es wegen der fatalen Nebenwirkungen für unwahrscheinlich, dass Ibogain jemals als Medikament zugelassen wird, wie er 2015 dem Fachblatt »Nature« mitteilte. In seiner Zeit als Forscher entwickelte er stattdessen den Wirkstoff 18-MC, dessen chemische Formel der von Ibogain ähnelt. In Tierversuchen zeigte 18-MC die gleiche suchtunterbrechende Wirkung, aber keine der Nebeneffekte.
Um 18-MC auf den Markt zu bringen, schloss sich Glick mit der Biotechnologie-Firma Savant HWP zusammen. Das Unternehmen gibt an, saftige Zuschüsse vom US-amerikanischen Forschungsinstitut für Drogenmissbrauch erhalten zu haben: knapp sieben Millionen US-Dollar, um klinische Studien durchzuführen. Erste Versuche mit wirksamen Dosen von 18-MC riefen bei Versuchspersonen keine der unerwünschten kardiologischen oder neurologischen Nebenwirkungen hervor, berichtete die Firma gegenüber »Scientific American« im Jahr 2016. Auch die bei Ibogain üblichen Halluzinationen blieben offenbar aus.
Es ist allerdings still geworden um 18-MC. Schon 2015 kündigt Savant HWP an, in Kürze weitere klinische Tests durchführen zu wollen. Diese sollten die Wirksamkeit und Verträglichkeit zunächst bei Rauchern und dann auch bei Opioid- und Kokainabhängigen bestätigen. Angemeldet wurden sie bisher jedoch nicht; auf eine Anfrage von »Gehirn&Geist« reagierte das Unternehmen nicht. Auf der Website der Firma heißt es, man wolle die Studien noch 2018 starten.
Doch wie schaffen es Ibogain und 18-MC überhaupt, Menschen ihr Verlangen nach Drogen vergessen zu lassen? Substanzen wie Heroin steigern im Gehirn die Aktivität des Neurotransmitters Dopamin, der vor allem im Belohnungssystem eine zentrale Rolle spielt. Die Folge: Schon bald können wir kaum unsere Finger davon lassen und brauchen im Lauf der Zeit immer mehr, weil sich das Gehirn an die veränderten Gegebenheiten anpasst. Noribogain hingegen hemmt die Ausschüttung von Dopamin über verschiedene Signalwege und sorgt so dafür, dass das Substanzverlangen nachlässt, vermuten Forscher. Noch sind allerdings viele Fragen offen – unter anderem die, wie Ibogain und 18-MC selbst dann noch wirken können, wenn sie eigentlich gar nicht mehr im Körper vorhanden sind.
Und es klaffen weitere Wissenslücken: Maarten Belgers vom Radboud University Medical Centre in den Niederlanden nahm gemeinsam mit seinen Kollegen alle Studien unter die Lupe, die sich in Tierversuchen mit Ibogain und ähnlichen Substanzen befasst haben. Dabei entdeckten die Forscher, dass die Wirkung von Ibogain bislang lediglich in Bezug auf Opioid-, Kokain- und Alkoholsucht untersucht wurde. 18-MC und Noribogain testeten Wissenschaftler zwar auch an Nagern, die nicht von Amphetaminen oder Nikotin lassen konnten, doch ob die Mittel wirklich bei allen Arten von Substanzabhängigkeiten wirkt, ist unklar. Belgers bemängelt zudem, dass die methodischen Standards bei zahlreichen Studien unzureichend seien. Oftmals ordneten Forscher ihre Versuchstiere nicht einmal per Zufall der Behandlungs- oder der Kontrollgruppe zu – eine Grundvoraussetzung für seriöses Versuchsdesign.
Ähnlich problematisch sind viele der Untersuchungen, bei denen Wissenschaftler Ibogain an Menschen testeten. Hier fehlen Kontrollgruppen meist ganz, und keine der Studien konnte bislang eine statistisch relevante Menge an Versuchspersonen vorweisen. Und auch eine Schlüsselfrage bleibt nach wie vor unbeantwortet: Gibt es überhaupt eine Ibogaindosis, die gleichzeitig wirkt und sicher ist?
Um das zu beantworten, bedarf es zusätzlicher Forschung. Das sieht die Oberärztin Gabriele Koller ähnlich. Sie behandelt am Klinikum der Universität München Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen. »Bevor wir sagen können, ob Ibogain eine Zukunft in der Suchttherapie hat, brauchen wir noch mehr Daten und Erfahrungen«, sagt sie. Die Medizinerin befürwortet es, neue, Erfolg versprechende Substanzen weiter zu erforschen. Notwendig findet sie Ibogain allerdings nicht, denn ein Entzug sei auch so gut durchführbar. Ähnlich sieht das Rüdiger Holzbach, Chefarzt für Suchtmedizin am Klinikum Arnsberg: »Eine Abbruchquote von 40 bis 50 Prozent im Heroinentzug ist kein Freifahrtschein für experimentelle Therapien, die zum Teil tödlich enden.«
Ein zu einfaches Suchtmodell
In den Augen der beiden Mediziner sind Suchterkrankungen zu komplex, um sie mit der einmaligen Einnahme einer Tablette heilen zu können. »Der Traum von der Pille gegen die Sucht basiert auf einem zu einfachen Suchtmodell«, sagt Holzbach. Letztlich könne der Weg aus der Abhängigkeit sehr unterschiedlich aussehen. Je stärker die Substanz das Leben des Patienten bestimme, desto eher bedürfe es einer Psychotherapie, in der die Betroffenen lernen, ihr Denken und Handeln zu verändern. »Dazu gehören eine gewisse biografische Arbeit, aber auch ganz konkrete Veränderungen im Alltag.«
Ist Ibogain also am Ende doch kein Wundermittel? »Die Substanz gibt dir lediglich Raum, um dich zu ändern«, lautet das Fazit von Álvaro de Ferranti. Der gebürtige Brite, der inzwischen in Portugal lebt, war jahrelang von Crack und Kokain abhängig. Gleichzeitig führte er mehrere Unternehmen und ein Leben als Familienvater. Nachdem er erfolglos verschiedenste Suchttherapien ausprobiert hat, befreit Ibogain ihn zunächst von seinem Verlangen nach Drogen. Sechs Monate später erleidet er einen Rückfall. Daraufhin nimmt er die Substanz erneut, wird wieder rückfällig. Dann macht es schließlich »klick!«: »Ich begriff, dass ich etwas in meinem Leben verändern musste«, so de Ferranti. Psychotherapie hilft bei diesem Prozess. Er lässt sich ein letztes Mal mit der Droge behandeln und beginnt, an sich selbst zu arbeiten. Inzwischen ist er seit vielen Jahren clean. Auch Keller denkt über eine Therapie nach, konnte sich aber noch nicht dazu durchringen. »Ich bin im Moment einfach so happy und positiv eingestellt.«
De Ferranti möchte seine Erfahrungen mit Ibogain an andere weitergeben. Er hat in Portugal ein eigenes Behandlungszentrum eröffnet. Zusammen mit einem Arzt, Krankenschwestern und »Providern«, die im Umgang mit der Droge erfahren sind, will er dort Patienten nicht nur eine Pille gegen ihre Sucht anbieten, sondern ein komplettes Rehabilitationsprogramm. Suchtkranke sollen eine Auszeit von ihrem gewohnten Umfeld nehmen und professionell dazu angeleitet werden, ihre Abhängigkeit zu bekämpfen. Warten, bis Ibogain als Arzneimittel zugelassen ist, will er nicht.
Daran arbeiten unterdessen die Neurowissenschaftlerin Mash und der Suchtmediziner Belgers. Die 66-jährige Mash konzentriert sich mit dem von ihr gegründeten Pharmaunternehmen DemeRx voll und ganz auf die Kommerzialisierung von Noribogain. »Ich werde meine restliche Lebenszeit der Bekämpfung dieser schrecklichen Opioidepidemie widmen«, erklärt die Forscherin. Sie sei gerade in Begriff, die bislang größte Studie an 200 Patienten zu veröffentlichen. Belgers wertet derweil die Daten einer klinischen Studie aus, in deren Rahmen er gemeinsam mit Kollegen untersuchen will, ob sich die Substanz bei opioidabhängigen Patienten sicher einsetzen lässt.
Suchtmediziner Holzbach ist weniger optimistisch. »Aus meiner Sicht wird Ibogain die Suchtbehandlung nicht verändern.« Ob ein Verbot wie in den USA die bessere Option wäre, ist allerdings unklar. Brunt vom niederländischen Trimbos-Institut hofft, dass Forscher die Substanz noch nicht aufgeben. »Ich finde nicht, dass Ibogain seinen schlechten Ruf verdient. Die ersten Experimente mit dem Wirkstoff in den 1980er Jahren waren nicht besonders professionell. Nun müssen Wissenschaftler beweisen, dass sie einen besseren Job machen können.«
* Name von der Redaktion geändert.
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