Monumentale Felskunst: Das größte Felsbild der Welt liegt am Orinoco
Wer auf dem Orinoco das Grenzgebiet zwischen Venezuela und Kolumbien bereist, kann mit Glück einen Blick in eine mythologische Geisterwelt erhaschen – eingraviert in die Felswände der Flussufer. Es ist eine Welt, die bevölkert ist mit Anakondas, Tausendfüßlern, menschenähnlichen Wesen und riesigen Nagetieren. Gut möglich, dass es dieselben Gestalten sind, die in den Mythen und Geschichten der Menschen vor Ort seit mehr als 2000 Jahren auftauchen.
Nun zeigt die erste wissenschaftliche Untersuchung dieser Kunst, unlängst in der Zeitschrift »Antiquity« veröffentlicht, dass einige dieser Ritzbilder zu den größten der Welt gehören. Dank ihrer Ausmaße sind manche sogar noch aus der Ferne gut sichtbar. Vielleicht dienten sie einst als Wegweiser und verrieten allen Reisenden auf dem alten Fernhandelsweg, wessen Territorium sie im Begriff waren zu betreten und wessen Gebiet sie verließen.
Die Ritzbilder entlang des Orinoco würden wohl mythologische Traditionen aufgreifen, die die Einwohnerinnen und Einwohner der Region bis heute pflegen, sagt der Archäologe und Anthropologe Carlos Castaño-Uribe, wissenschaftlicher Direktor der Caribbean Environmental Heritage Foundation in Kolumbien. Castaño-Uribe war an der neuen Studie nicht beteiligt, er arbeitet aber seit mehr als einem Jahrzehnt daran, das natürliche und kulturelle Erbe der indigenen Völker der Region zu bewahren. Die Glaubensvorstellungen der Menschen dort würden sich bis in die Gegenwart um den Mythos einer übernatürlichen Anakonda drehen, in der sie ihre Ahnin erkennen. »Sie betrachten es bis heute als einen der wirkmächtigsten (Archetypen) ihrer mythischen Welt und der damit verbundenen spirituellen Symbolik«, sagt Castaño-Uribe. Die Anakonda stehe in Verbindung mit Fruchtbarkeit, dem Wasser, mit Reichtum und Fülle, aber auch dem Zuzug neuer Stämme, Klans und Familien an die großen Flussadern dieser ausgedehnten Region.
Ein Ort, der zum Verweilen zwang
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Gegend wissen schon lange um die Existenz der Felskunst. Die archäologische Fachwelt habe sich jedoch bislang kaum um die Frühgeschichte des mittleren und oberen Orinocogebiets gekümmert, sagt einer der Koautoren der Studie, José R. Oliver. Der Experte für lateinamerikanische Archäologie am University College London hat mit seinen Mitautoren Philip Riris von der Bournemouth University in England und Natalia Lozada Mendieta von der Universidad de los Andes in Kolumbien diese Stätten nun aus wissenschaftlichen und konservatorischen Gründen dokumentiert. Die Gruppe untersuchte dazu eine Region rund um die Atures-Stromschnellen im mittleren Orinoco, wo der Fluss für Kanus unpassierbar wird und Reisende an Land weiterziehen müssen. »Alles, was wir über die Archäologie der Region wussten, deutete darauf hin, dass dies ein Treffpunkt war, an dem Angehörige verschiedener Kulturen zusammenkamen, aktiv Handel trieben und in einigen Fällen wahrscheinlich heirateten«, sagt Riris.
Zwischen der kolumbianischen Stadt Puerto Carreño flussabwärts und den Maipures-Stromschnellen flussaufwärts fanden die Forscher 157 Stellen mit Felskunst, darunter mehr als ein Dutzend mit Gravuren, die länger als vier Meter sind. Die größte, eine Anakonda, misst mehr als 40 Meter. Riris zufolge dürfte es sich um die größte bekannte prähistorische Felszeichnung der Welt handeln.
Die Menschen schlugen die Darstellungen in die von Bakterienbewuchs dunkel gefärbte Granitoberfläche und machten so den helleren Felsen darunter sichtbar. Einige Bilder würden nur bei Niedrigwasser frei liegen, sagt Oliver, andere befänden sich ein kurzes Stück vom Ufer entfernt auf großen Felsblöcken inmitten der Savannenlandschaft des Flussbeckens. Auch bewohnbare Felsunterstände in Wassernähe seien mit Gravuren und teils auch mit Malereien versehen worden.
Die Anakonda als Kanu
Einige der größten Felsbilder zeigen Anakondas, die so positioniert sind, dass sie vom Fluss aus gesehen werden können. Die Schlangen seien gute Schwimmer und würden in der örtlichen Mythologie mit der Erkundung unbekannter Gebiete in Verbindung gebracht. »Sie sind das urzeitliche Wesen, das dich transportieren kann, während du reist«, sagt Riris. »Sie stehen damit metaphorisch für eine Art Kanu.«
Indigene Völker der Gegend beziehen die Felskunst noch immer in ihre Glaubensvorstellungen ein. Bei einigen ist es beispielsweise für Frauen tabu, die Bilder zu betrachten. Die Piaroa dagegen würden die Geschichte einer mythologischen Mais-Schlangenfigur namens Kuahuayamo Ato erzählen, der Herrin über alles Gemüse. Sie sei den Fluss entlanggereist, habe gesungen und Tränen vergossen, aus denen die Felskunst entstand. Für Castaño-Uribe mache die neue Studie sichtbar und dokumentiere zugleich, welche hohe kulturelle Bedeutung der Ikonografie der Schlange in weiten Teilen des präkolumbianischen Südamerikas zukomme.
Riris sieht Parallelen zwischen den Motiven der Felsbilder und denen auf rund 2000 Jahre alter Keramik. Das könnte einen Hinweis auf deren Alter geben. Die Bilder in den Felsunterständen der Region wurden sogar auf mindestens 3000 Jahre datiert, schreiben die Forscher. Wann die lokalen Ethnien damit aufhörten, neue Felskunst zu schaffen, sei ungewiss, erklärt Oliver. Als die Spanier ab 1499 nach Kolumbien kamen, scheint die Praxis bereits der Vergangenheit angehört zu haben, zumindest erwähnen es die historischen Quellen der Europäer nicht.
Ob die Menschen, die die Felskunst schufen, genau dieselben Geschichten damit verbanden wie die heutigen indigenen Völker der Region, werde sich nie sicher beantworten lassen, sagt Edithe da Silva Pereira, Archäologin am Emílio Goeldi Museum von Pará (MPEG) in Brasilien, die nicht an der aktuellen Studie beteiligt war. Man müsse sehr genau hinschauen, wenn man die Beziehung der heutigen Bewohnerinnen und Bewohner der Region zu diesen Stätten verstehen wolle, sagt sie. Es gebe einen ähnlichen Ort in Brasilien namens Pedra Preta de Paranaíta (»Schwarzer Stein in Paranaíta«). Dort sei das Schlangenmotiv ebenfalls vorhanden.
Weitere Studien könnten helfen, den Entstehungszeitraum der Felskunst enger einzugrenzen, sagt Trond Lødøen, Archäologe und Felskunstexperte am Universitätsmuseum Bergen in Norwegen, der ebenfalls nicht Teil des Teams der aktuellen Studie war. Die Felsgravuren selbst enthalten kein organisches Material und sind daher nicht mit der Radiokarbonmethode datierbar. Unter den Felsflächen könnte es aber laut Lødøen Werkzeugfragmente, Holzkohleschichten von alten Feuerstellen oder Keramikstücke geben, die sich zeitlich bestimmen lassen. »Ich glaube, die Studie liefert nur einen Vorgeschmack«, sagt er. »Es wird noch einiges nachkommen.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.