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Clean Eating: Gesunde Vollwertkost oder Weg in die Essstörung?

Der Ernährungstrend »Clean Eating« ist gesund, solange die Ernährungsweise nicht restriktiv betrieben wird. Einiges daran ist dennoch pseudowissenschaftlich.
Ernährungstipps mit Fragezeichen

Der Mann ist richtig wütend. Darum hat er seinen Blog und sein kürzlich auf Deutsch erschienenes Buch auch »The Angry Chef« genannt. Der Brite Anthony Warner ist Koch mit einem Universitätsabschluss in Biochemie, und was ihn so in Rage bringt, sind die vielen selbst ernannten Ernährungsexperten, die er gerne als »Quacksalber« bezeichnet. In Buch und Blog versucht er mit Verve und evidenzbasierten Argumenten die zahlreichen pseudowissenschaftlichen Statements, die vor allem durch das Internet Verbreitung finden, zu entlarven.

Eines seiner großen Feindbilder ist das so genannte »Clean Eating«. Dieser Ernährungstrend wurde von einem kanadischen Fitnessmodel namens Tosca Reno im Jahr 2006 zuerst in Buchform geboren, zahlreiche Bücher folgten und eine Website, über die auch Produkte vermarktet werden. Vormals stark übergewichtig, erfand sie für sich eine Ernährung, die sie nach eigenen Angaben schlank machte – von der Erfolgsgeschichte zeugen auch Vorher-nachher-Fotos. Dabei sollen die Lebensmittel frisch und naturbelassen sein und schonend zubereitet werden. Obst und Gemüse sollten zu jeder Mahlzeit dazugehören. Verpönt ist dagegen alles, was mehr als fünf Zutaten oder deren Rezeptur Unaussprechliches enthält. Zucker wird als Droge bezeichnet, und auch Weißmehl und raffinierte Fette sind tabu.

Für besonders wichtig hält Reno das Frühstück, zudem soll zwischen den kleinen Mahlzeiten wenig Zeit vergehen. Bis zu sechs Mahlzeiten hält sie für gesund, dies tariere den Insulinspiegel auf einem niedrigen Niveau aus. Auch grüne Smoothies dürfen auf dem täglichen Speiseplan nicht fehlen. Letztlich empfiehlt die Kanadierin, zwei bis drei Liter Wasser am Tag zu trinken und auf Alkohol möglichst zu verzichten. Das Netz ist voll mit Rezeptvorschlägen, Fotos und Erfahrungsberichten. Und längst soll »Clean Eating« nicht mehr nur beim Abnehmen oder Gewichthalten helfen. Auch bei unreiner Haut, Kopfschmerzen, Blähbauch, Konzentrationsschwäche oder Antriebslosigkeit ist diese Diät laut der zumeist jungen und urbanen Clean-Eating-Gemeinde indiziert. Doch was ist da dran?

»Hier wurde Altbekanntes neu verpackt. So kommt etwa das altbewährte Frischkornmüsli als ›Overnight Oats‹ daher, das mit Superfoods ergänzt wird«Julia Fischer

Nun klingen diese Ratschläge erst mal nicht unsinnig. Und es stimmt, dass sie den zehn Regeln für eine gesunde Ernährung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und auch der Vollwertkost ähneln. Julia Fischer vom Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung (UGB) meint in einem Artikel für die Zeitschrift ugbforum: »Hier wurde Altbekanntes neu verpackt. So kommt etwa das altbewährte Frischkornmüsli als ›Overnight Oats‹ daher, das mit Superfoods ergänzt wird.« Bislang ist diese Ernährungsweise, die auch keine Diät mehr ist, sondern ein Lifestyle-Konzept mit Power-Yoga und Achtsamkeit, zwar noch nicht in Studien untersucht worden. Allerdings gibt es tatsächlich Beweise für den Nutzen einiger dieser Ratschläge.

So führt der Verzehr von Zucker und gesüßten Getränken zu einem höheren Risiko für Übergewicht und Diabetes und wird neuerdings auch mit Herz-Kreislauf-Beschwerden in Zusammenhang gebracht. Dies liegt einerseits am hohen Kaloriengehalt von Saccharose. Laut aktueller Forschung sind die Zuckerarten Fruktose und Glukose jedoch ebenfalls schädlich für den Stoffwechsel. Glukose setzt in Zellen des oberen Dünndarms das Hormon GIP frei, kurz für glukoseinduziertes insulinotropes Peptid. »Dadurch bewirkt sie unter anderem die Entstehung einer Fettleber sowie einer Insulinresistenz«, erklärte Andreas Pfeiffer, Wissenschaftler am Deutschen Institut für Ernährungsforschung, im Mai 2018 auf dem Diabetes Kongress. Außerdem wirke GIP auf das Gehirn, wo es die Freisetzung appetitanregender Hormone steigere. Fruktose stimuliert ihrerseits die Bildung von Fett in der Leber. Durch eine Fettleber steigt nun nicht nur die Gefahr einer Entzündung des Entgiftungsorgans, sondern es wird auch der Stoffwechsel ungünstig beeinflusst – Diabetes und Herzleiden können die Folge sein.

Vollkorngetreide wohl schon gesund

Viel spricht auch für den Konsum von Vollkorngetreide anstatt Weißmehl sowie für reichlich Obst und Gemüse, weil dies die Energiedichte der Nahrung senkt. Da eine niedrige Energiedichte mehr Masse bei weniger Kalorien bedeutet, ist das gut für die schlanke Linie: Solche Nahrung sättigt schlichtweg besser. Auf die gleiche Weise könnte der Verzicht auf stark verarbeitete Fertigprodukte funktionieren. Diese strotzen nämlich oft vor Zucker und Fett, sind also wahre Kalorienbomben. Zudem werden die Sättigungsmechanismen ausgehebelt, was auf Dauer Übergewicht und Diabetes zur Folge hat.

Dass Zusatzstoffe wie Farb-, Aroma- oder Konservierungsstoffe in Lebensmitteln schädlich sind, wird von Tosca Reno und ihren Anhängern zwar kolportiert, stichhaltige Beweise für eine Verteufelung all dieser Substanzen fehlen jedoch. Richtig ist dennoch, dass einige Zusatzstoffe wie Benzoesäure bei empfindlichen Personen pseudoallergische Reaktionen auslösen können. Derzeit ist auch der Zusatzstoff Phosphat in wissenschaftlichen Kreisen in die Kritik geraten, da Phosphat, das etwa in Softdrinks steckt, in großen Mengen Herz- und Knochenkrankheiten fördert, vor allem bei Menschen mit Nierenkrankheiten. In der Vergangenheit waren auch Azofarbstoffe negativ aufgefallen und müssen seit 2010 mit einem Hinweis, dass sie Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen können, versehen werden.

Durch viele Studien ist indes belegt, dass eine abwechslungsreiche Ernährung mit viel Pflanzenkost und Vollkorn diversen Krankheiten vorbeugen kann. So hat etwa eine Metaanalyse aus dem Jahr 2016 gezeigt, dass ein Plus an Vollkornprodukten wie Naturreis oder Schwarzbrot das Risiko für ein frühzeitiges Ableben durch Herzkrankheiten oder Krebs verringert. Wer 90 Gramm mehr davon isst, senkt beispielsweise sein Risiko für einen Herztod um 25 Prozent. Laut anderen Studien treten auch bestimmte Krebsarten wie Tumoren in Magen, Dickdarm oder Bauchspeicheldrüse bei Vollkornfans seltener auf.

»Es ist gesund, täglich mehrmals Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte zu essen«Bernhard Watzl

Für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte sind die Beweise ebenfalls eindeutig: Die Fülle an Mikronährstoffen, Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen in Obst und Gemüse führen vor allem dazu, dass Pflanzenfans gegen hohen Blutdruck gefeit sind. Zudem sind Hülsenfrüchte wie Bohnen und Linsen wirksam, um sich gegen Volksleiden wie Diabetes, Herzkrankheiten oder sogar Krebs zu wappnen. »Es ist gesund, täglich mehrmals Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte zu essen«, bekräftigt Bernhard Watzl, Wissenschaftler am Max Rubner-Institut.

Dagegen ist nicht bewiesen, dass das Frühstück einen besonderen Stellenwert hat oder dass man mit vielen kleinen Mahlzeiten besser abnimmt als mit wenigen üppigen. Zwar fanden einige Arbeiten heraus, dass regelmäßige Zwischenmahlzeiten Heißhungerattacken vorbeugen. Dennoch legen aktuelle Studien nahe, dass auch das so genannte »intermittierende Fasten« oder »Intervallfasten«, bei dem oft das Frühstück gecancelt wird, Pfunde purzeln lässt. So hat eine Studie der University of Chicago zwar im Jahr 2017 gezeigt, dass weniger Menschen eine solche Diät durchhalten. Konkret gaben 38 Prozent der Intervall-Fastenden frühzeitig auf, während nur 29 Prozent der Teilnehmer das Handtuch warfen, die regelmäßig, aber kalorienreduziert aßen. Trotzdem scheint es für bestimmte Personen eben doch leichter zu sein, auf eine Mahlzeit ganz zu verzichten, als sich ständig zu zügeln. Wegen der widersprüchlichen Faktenlage gibt die DGE derzeit keine Empfehlung in Sachen Mahlzeitenfrequenz und schlanke Linie.

Superfood nicht immer super

Das reichliche Wassertrinken ist zwar eine häufige Diätempfehlung, wissenschaftlich ist sein Nutzen laut einer Übersichtsstudie aus dem Jahr 2015 jedoch nie bewiesen worden. Man weiß nur, dass der Konsum von Wasser statt kalorienhaltigen Getränken das Gewicht senkt oder Übergewicht vorbeugt. Doch das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich nimmt man so einige Kalorien nicht zu sich.

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Der Zusatznutzen von Superfoods wie Quinoa, Chiasamen oder Goji-Beeren ist indes fraglich. »Die Produkte sind gesund, weil sie sehr nährstoffreich sind«, meint Watzl. »Sie sind jedoch nicht nötig.« Man könne nämlich auch regionale pflanzliche Produkte wie Hirse, Leinsamen oder Blaubeeren verwenden, die den exotischen Lebensmitteln in nichts nachstünden. Die UGB-Expertin Fischer weist zudem darauf hin, dass einige dieser Superfoods negativ in Sachen Schadstoffbelastung aufgefallen sind.

»Dieser Nonsens basiert auf einer losen Interpretation von Fakten und dem Wunsch, das Streben nach Wellbeing zu einer obsessiven Ganztagsbeschäftigung zu machen«Margaret McCartney

Die Behauptung der »Clean Eater«, eine solche Ernährung führe zu mehr Leistungsfähigkeit und einem besseren Körpergefühl, ist ebenso wenig belegt. Die schottische Ärztin Margaret McCartney fand dazu in der Fachzeitschrift »British Medical Journal« scharfe Worte: »Dieser Nonsense basiert auf einer losen Interpretation von Fakten und dem Wunsch, das Streben nach Wellbeing zu einer obsessiven Ganztagsbeschäftigung zu machen.« Und auch Anthony Warner hält viele der Versprechungen für unwissenschaftlich. So wird etwa behauptet, »Clean Eating« sei gesund, weil es – etwa mittels grüner Smoothies – entgifte und einer Übersäuerung entgegenwirke. Tatsächlich gibt es keine Gifte, die den Darm verschlacken, oder Säuren, die sich bei Gesunden im Gewebe absetzen und Krankheiten wie Krebs fördern. »Gedanken von Giftigkeit, Krankheit und Angst, wenn es um Essen geht, sind schädlich. Denn Essen sollte Freude bereiten.«

Ein weiteres Problem: »Es geht um extremes Dünnsein, um Kontrolle, und wer das nicht schafft, schämt sich, er gilt als unrein«, schreibt Warner. Mit der nach außen hin propagierten Diät schaffe man das aber nicht, darum seien ganze Lebensmittelgruppen verpönt. Viele »Clean Eater« sind zudem Veganer oder Rohköstler, verbieten sich Gluten oder Milch. Problematisch findet Warner, dass mittlerweile immer häufiger so getan würde, als gehe es bei »Clean Eating« um »gesundes Essen«. Dabei können extreme Restriktionen zu Mangelernährung und Essstörungen führen. Auch McCartney hält das »Clean Eating« für eine Form der Orthorexia nervosa, also der zwanghaften Besessenheit von gesunder Ernährung.

Wie viele »Clean Eater« den Empfehlungen streng und dogmatisch folgen, ist nicht bekannt. Die lockere Variante ist auf jeden Fall gesund, wenn sie mit Genuss einhergeht. »Es ist keine extreme Ernährungsform wie zum Beispiel bei einer Low-Carb-Ernährung. Es ist eine ausgewogene Mischkost«, meint Daniel König, Ernährungswissenschaftler an der Universität Freiburg. Die UGB-Expertin Fischer kann der Ernährung ebenfalls Gutes abgewinnen. Schließlich würden von der sportlich attraktiven Kanadierin Tosca Reno vor allem junge Menschen dazu motiviert, wieder selbst zu kochen und sich mit frischen Zutaten zu beschäftigen.

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