Tabus in der Psychologie: Was Fachleute nicht zu sagen wagen
In der Psychologie gibt es Theorien und Befunde, die zahlreiche Fachleute nicht öffentlich vertreten würden, obwohl sie sie für zutreffend halten. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die in der Fachzeitschrift »Perspectives on Psychological Science« erschienen ist. »Die meisten Befragten glaubten, dass manche empirischen Befunde so tabuisiert sind, dass ihre Erwähnung unangenehme Folgen habe«, berichtet die 13-köpfige Forschungsgruppe um Cory Clark und Philip Tetlock von der University of Pennsylvania.
Für eine Pilotstudie hatte das Team zunächst rund 40 forschende Psychologinnen und Psychologen in den USA nach Tabuthemen gefragt. Die zehn am häufigsten genannten Thesen (siehe Grafik unten) legten sie in einer anonymen Online-Umfrage etwa 4600 Psychologieprofessorinnen und -professoren von 133 US-Universitäten vor. 470 von ihnen, gut zehn Prozent, beteiligten sich daran; sie entsprachen in Alter, Geschlecht, Position und politischer Einstellung in etwa der Grundgesamtheit. Zu jeder der zehn Aussagen beantworteten sie folgende Fragen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist die These wahr oder falsch? Würden Sie zögern, die These auf einer Konferenz zu äußern? Und sollten Forschende daran gehindert werden, die These empirisch zu prüfen?
Zu den größten Tabus zählen demnach Vorteile von sexualisierter Gewalt in der Evolution und soziale Einflüsse als Ursache von Trans-Identität: Rund jeder zweite Befragte wollte eine solche Position nicht öffentlich vertreten. Wenig Selbstzensur und viel Zustimmung gab es dagegen für die Aussage, dass sich psychische Merkmale der Geschlechter evolutionsbedingt unterscheiden.
Zu keiner der zehn Thesen existierte ein Konsens – manche wurden sogar von den einen für 100 Prozent als wahr, von den anderen für 100 Prozent als unwahr beurteilt. Auch zur Frage nach Selbstzensur antworteten die Befragten sehr unterschiedlich: Ein Teil hatte nach eigenen Angaben wenig Hemmung, andere scheuten sich, ihre Ansichten zu äußern. Und: Je stärker die Befragten eine These für wahr hielten, desto eher berichteten sie, ihre Meinung für sich behalten zu wollen. Angst vor sozialer Ausgrenzung, Beschimpfungen und Attacken in den sozialen Medien waren die häufigsten Gründe für Selbstzensur. Auch ein sicherer Job änderte nichts an der Sorge um den guten Ruf. Angst vor Entlassung äußerten allerdings nur wenige – darunter aber ebenso Professoren auf Lebenszeit wie auf befristeten Stellen.
Eine knappe Mehrheit forderte, Forschungsfragen vollständig frei untersuchen zu können. Wie viele sich dagegen aussprachen, hing jedoch vom konkreten Thema ab. Am ehesten wollten die Befragten die Forschung zur Erblichkeit von IQ-Unterschieden beschränken, aber selbst dafür stimmte nicht einmal jeder Vierte. Ähnlich wenige fanden es richtig, Forschende wegen kritischer Thesen von Veranstaltungen auszuladen. Und noch seltener votierten sie dafür, diese Personen sozial auszugrenzen, sie in den sozialen Medien zu stigmatisieren oder sie gar zu entlassen. Eine große Mehrheit lehnte es außerdem ab, wissenschaftliche Studien aus moralischen Gründen zurückzuziehen oder gar nicht erst zu veröffentlichen.
Genau dazu haben sich jedoch bereits einzelne Fachzeitschriften bekannt, wie die Autorinnen und Autoren berichten. Die Redaktionen wollen demnach einen Beitrag ablehnen oder zurückziehen, wenn seine möglichen Folgen schwerer wiegen als die Einschränkung der Forschungsfreiheit. So könnten Befunde – etwa aus der IQ-Forschung – dazu missbraucht werden, Gruppen zu stigmatisieren. Auf der anderen Seite steht allerdings das hohe Gut der Forschungsfreiheit, wie die Gruppe betont. Wissenschaft hat die Aufgabe, die Realität wahrheitsgemäß zu beschreiben, und dafür braucht sie die Freiheit, auch umstrittene Hypothesen zu äußern, zu untersuchen und öffentlich für richtig zu befinden.
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