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Therapie im Gefängnis: »Betrügern geht es nicht nur ums Geld«

Die Kriminalpsychologin Helga Ihm arbeitete mit Betrügern im Strafvollzug – und musste aufpassen, ihnen nicht selbst auf den Leim zu gehen, wie sie im Interview erzählt: »Ich habe die manipulativen Strategien am eigenen Leib erfahren.«
Hände in Handschellen halten Geld

Mit gut einer Million Betrugsfällen befassen sich deutsche Staatsanwälte jedes Jahr. Auf die Täter warten bis zu zehn Jahre Gefängnis oder hohe Geldstrafen. Doch wie steht es um die psychologischen Hintergründe der Taten? Kriminalpsychologin Helga Ihm kennt diese aus Forschung und Praxis: In ihrer Doktorarbeit hat sie die Persönlichkeit von Betrügern erforscht und im Strafvollzug therapeutisch mit ihnen gearbeitet. Sie ist davon überzeugt: Der Drang nach dem schnellen Geld ist längst nicht das einzige Tatmotiv.

Helga Ihm | Die forensische Psychologin promovierte 2011 über Persönlichkeitsmerkmale von Betrugstätern. Sie arbeitete therapeutisch mit Betrugsdelinquenten und hat daneben langjährige Erfahrung mit Gewalt- und Sexualstraftätern. Seit 2007 ist sie Polizeipsychologin mit dem Schwerpunkt kriminalpolizeiliche Einsatz- und Ermittlungsunterstützung.

»Spektrum.de«: Frau Dr. Ihm, Sie arbeiteten im Gefängnis therapeutisch mit Betrügern. Wurden Sie dabei auch selbst Ziel von Manipulationen?

Helga Ihm: Viele wegen Betrug verurteilte Täter sind auf der Suche nach neuen Menschen, die sie einnehmen können. Das wurde mir schnell bewusst, nachdem ich meine Arbeit im Vollzug gerade begonnen hatte. Als neue Psychologin war ich da ein attraktives Ziel. Wenn ich nach den Gesprächen nach Hause fuhr, gingen mir dann oft Zweifel über meine eigene Arbeit und Weltsicht durch den Kopf. Plötzlich war ich diejenige, die sich über Ethik und Moral Gedanken machte: Dabei sollte das doch eigentlich mein Gegenüber tun! Immer wieder schafften sie es, mir einen Denkauftrag mit nach Hause zu geben: Kann es denn richtig sein, dass Menschen wie sie eingesperrt sind? Ich hatte diese manipulativen Strategien also schon bald am eigenen Leib erfahren. Das weckte mein Interesse an den Mechanismen hinter dem Betrug.

Die psychologischen Seiten dieser Tat haben Sie in Ihrer Doktorarbeit untersucht und dafür Betrüger im Vollzug interviewt. Wie war das?

Vor der Studie sollten meine Interviewpartner unterschreiben, dass sie freiwillig teilnahmen und sich keinerlei Vorteile erhofften. Die Praxis ist eine andere. Ich bin immer wieder auf Verhaltensweisen gestoßen, die mich stutzig machten. Die Probanden waren oft ausgesucht höflich, hielten mir die Tür auf und schmeichelten mir. Dann erkundigten sie sich plötzlich beiläufig, ob sie vielleicht Sonderausgang bekommen könnten. Das ging natürlich nicht. Als Nächstes fragten sie: Vielleicht wäre ja zumindest ein privates Telefonat außer der Reihe möglich? Sie baten also zuerst um einen großen Gefallen, von dem sie wussten, ich würde ihn ablehnen. Damit erhoffen sie sich auf die darauf folgende Frage ein Ja. So etwas machen allerdings längst nicht nur Betrugstäter.

»Betrüger arbeiten mit Emotionen. Sie spüren die Bedürftigkeiten ihrer Opfer schnell auf«

Ist die Arbeit mit Betrügern riskant?

Im Vollzug ist es schon vorgekommen, dass Kollegen beispielsweise in einen Versicherungsbetrug eingebunden wurden und dann alles verloren haben: Geld, Arbeitsplatz, Pension. Im Nachhinein ist es natürlich leicht zu sagen: Wie doof kann man sein? Aber es liegt nicht unbedingt nur am Opfer, sondern auch an der kriminellen Energie der Täter. Betrüger arbeiten mit Emotionen. Sie spüren die Bedürftigkeiten ihrer Opfer schnell auf. Dann schränken sie deren Erkenntnisvermögen manipulativ ein. So bringen sie ihre Opfer dazu, Dinge zu tun, die diese bei Vorliegen aller Informationen anders oder gar nicht tun würden.

Wie läuft so etwas konkret ab?

Betrug ist nicht gleich Betrug. Bei meiner Arbeit schaue ich mir schon genau an: Wie kommt der Täter zu seinen Opfern? Wie bahnt er die Tat an? Welchen Irrtum erzeugt er? Die Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich. Ein klassischer Heiratsschwindler geht anders vor als jemand, der Love-Scams übers Internet einfädelt.

Was macht dann überhaupt einen Betrug zum Betrug?

Anders als etwa ein Raub setzt ein Betrug eine freiwillige Vermögensverfügung des Opfers voraus – also ohne Anwendung körperlicher Gewalt. Doch Menschen geben ihr Geld natürlich nicht einfach so her. Sie wollen dafür etwas haben. Deshalb nutzen Betrugstäter verschiedene Überzeugungstechniken. Beispielsweise bauen sie eine Legende auf. So stellen sie eine Informationsasymmetrie her. Der Täter hält dabei eine ganz wesentliche Tatsache zurück – nämlich dass seine Geschichte nur ein Köder ist. Er hat also einen entscheidenden Vorsprung.

Wie nutzt er diesen Vorsprung?

Wir als Psychologinnen und Psychologen lernen ja, Menschen nach ihrem Verhalten und Erleben einzuschätzen. Betrüger machen das auch nicht anders. Sie sind nur manchmal viel schneller, geschickter und treffsicherer als wir. Wenn ich im Vollzug in die Sprechstunde kam, hatte mein Gegenüber manchmal schon ein fertiges Profil von mir im Kopf. Da hatte ich noch nicht einmal ›Guten Tag‹ gesagt.

Braucht es dafür bestimmte Fähigkeiten?

Betrüger müssen egozentrisch und skrupellos handeln. Gleichzeitig müssen sie jedoch soziale Fertigkeiten, Einfühlungsvermögen und psychologisches Geschick mitbringen. Für länger andauernde Taten benötigen sie außerdem eine gewisse Ausdauer und Gewissenhaftigkeit.

Moment mal, Betrug und Gewissenhaftigkeit: Wie passt das denn zusammen?

Man denkt bei dem Begriff automatisch an Anstand und Gesetzestreue. Ich meine aber eher Ausdauer und Sorgfalt. Erinnern Sie sich an Gert Postel, der sich als Oberarzt ausgab, ohne je ein Medizinstudium abgeschlossen zu haben. Da reicht es nicht aus, im Vorstellungsgespräch die Zusage zu bekommen. Es ist entscheidend, diesen Eindruck über eine lange Zeit hinweg aufrechtzuerhalten. Es braucht eine hohe Toleranz für Stress und Chaos sowie eine gute Verhaltens- und Situationskontrolle.

»Nach meiner Erfahrung mit Betrügern ist die finanzielle Motivation der Tat nicht immer die entscheidende«

Aus welchen sozialen Schichten kommen Ihre Klienten?

Im Regelvollzug (Art des Strafvollzugs speziell für Mehrfachtäter, Anm. d. Red.) trifft man nur selten auf Menschen aus der oberen Gehaltsklasse. Bei Ersttätern kann das anders sein – denken Sie etwa an Uli Hoeneß, der wegen Steuerhinterziehung einsaß. Normalerweise habe ich aber mit Menschen mit normalem bis niedrigem Einkommen zu tun. Jede Schicht hat ihren eigenen Betrug, weil auch Kontext und Gelegenheit bestimmen, wie ein Delikt durchgeführt wird. Hat ein Täter bloß ein geringes Einkommen zur Verfügung, wird er schwerlich im Bereich der Wirtschaftskriminalität betrügen können. Wenn ein Betrüger keinen strategischen Vorteil hat – etwa eine Macht- oder Vertrauensposition –, dann muss er sich etwas einfallen lassen, um das zu ändern.

Was könnte das beispielsweise sein?

Einige entscheiden sich für Täuschungsmanöver im Sinn einer »sozialen Mimikry«. Das bedeutet: Ich tue so, als ob, und wecke den Eindruck von Vertrauenswürdigkeit und finanzieller Potenz. Solche Delikte sind aber eher selten. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik werden die meisten Taten im Bereich des Waren- und Kreditbetrugs sowie des Sozialleistungsbetrugs ermittelt.

Was treibt die Täter an?

Vor Gericht ist natürlich der zugefügte finanzielle Schaden entscheidend für die Verurteilung. Doch wenn man genauer hinschaut, spielen noch ganz andere Bedürftigkeiten eine Rolle, zum Beispiel eine narzisstische Aufwertung. Nach meiner Erfahrung mit Betrügern ist die finanzielle Motivation der Tat nicht immer die entscheidende. Am deutlichsten sieht man das im Bereich Heiratsschwindelei oder Hochstapelei.

So wie im Skandal um den falschen Oberarzt Gert Postel?

In diesem Fall kann man sicher sagen: Klar, er hat das Gehalt der Klinik bezogen und sich damit bereichert. Mir scheinen da aber andere Motive handlungsleitender: narzisstische Bedürfnisse, die Lust am heimlichen Strippenziehen, der Wunsch nach Überlegenheit und Triumph. Ich habe Betrugstäter kennen gelernt, die ihre Taten aus Rache begangen haben oder als eine Art Selbsttherapie gegen depressive Zustände. Es geht also längst nicht nur um materielle Bereicherung. Das macht es ja auch so spannend, sich mit Betrugstaten und den Tätern zu beschäftigen.

»Betrüger machen oft die Erfahrung: Wenn sie ein anderer sind, bekommen sie viel eher Anerkennung und sozialen Kontakt«

Können Sie ein Beispiel nennen?

Einer meiner Probanden verkaufte immer wieder den Flügel von Sisi, der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Dabei besaß er ihn nie. Der Mann litt unter einer körperlichen Beeinträchtigung, die er geschickt als Mitleidsbonus einsetzte, um Vertrauen zu wecken. Er spann die Legende, dass er wirklich derjenige sei, der das Klavier besäße und verkaufen könne. Diese Selbstdarstellung gegenüber seinen potenziellen Kunden brachte ihm ein Hochgefühl und verlieh ihm Bedeutsamkeit. Doch der Triumph hielt natürlich nie lange an. Irgendwann ging die Kurve wieder nach unten. Eine depressive Verstimmung wartete auf ihn, und die Tat begann von Neuem.

Weil er die Erfolge, die er als Hochstapler hatte, nie wirklich für sich selbst verbuchen konnte?

Genau. Betrüger machen oft die Erfahrung: Wenn sie ein anderer sind, bekommen sie viel eher Anerkennung und sozialen Kontakt. Sie denken, sie müssten etwas Besonderes bieten, um wahrgenommen zu werden. Das Problem dabei ist natürlich: Sie sind gar nicht der, der sie vorgeben zu sein. Im Vollzug kann es dann passieren, dass sie sich die Frage stellen: Wenn ich nicht der bin, für den mich alle hielten: Wer bin ich denn dann?

Ist das ihre Motivation dafür, die therapeutischen Angebote in Anspruch zu nehmen?

Die Täter kommen nicht zum Gespräch, weil sie keine Betrüger mehr sein wollen. Sie kommen eher, weil sie die negativen Gefühle nicht mehr aushalten. Andere erhoffen sich auch bestimmte Vorteile. Ein Täter denkt selten: »Wenn ich damit nicht aufhöre, sitze ich in fünf Jahren wieder hier«, sondern eher: »Ich komme nicht wieder, weil ich mich das nächste Mal bestimmt nicht mehr erwischen lasse.« Aber die Motivation ist erst einmal zweitrangig. Wichtig ist, dass sie überhaupt ins persönliche Gespräch kommen. Dort lässt sich dann eine Veränderungsmotivation aufbauen.

Gibt es für die Täterarbeit mit Betrügern ausgearbeitete Leitlinien?

Betrug ist keine Diagnose. Meines Wissens gibt es bis heute keine therapeutischen Angebote, die speziell auf Betrugstäter zugeschnitten sind. Das liegt einerseits daran, dass der Schaden bloß ein finanzieller ist, anders als etwa bei Gewalt- oder Sexualtaten. Der andere Grund ist: Ihnen eilt der Ruf voraus, ohnehin nur täuschen zu wollen. Tatsächlich könnten sie die Inhalte der Therapie nutzen, um sozial einnehmender zu werden oder die therapeutische Sprache zu erlernen. Das kommt oft auch vor Gericht gut an. Die Täterarbeit kann also durchaus nach hinten losgehen.

»Ich schaue weniger darauf, warum er die Tat durchgeführt hat, sondern eher, wozu«

Wie verhindern Sie das?

Die meisten Menschen, die Betrugstaten begehen, sind nicht einfach nur gewissenlos und dissozial. Sie haben eine innere Bedürftigkeit, die unter Umständen auch anders kompensierbar ist. Ich gebe ihnen dieselbe Chance wie anderen Tätern, die zu mir kommen. Dafür gestehe ich ihnen ihre Eingangsmotivation zu: Sie erhoffen sich, dass es ihnen durch die Gespräche in irgendeiner Form besser geht. Ich schaue weniger darauf, warum der Täter den Betrug begangen hat, sondern eher, wozu. Was wollte er damit denn erreichen? Es geht darum, eine goldene Brücke zu bauen und den Betroffenen erkennen zu lassen: Mir geht es durch die Taten langfristig nicht wirklich besser.

Hinter dem Betrug steckt demnach in Wirklichkeit Selbstbetrug?

Genau. Denn immerhin sitzt er für seine Taten ja im Gefängnis. Er sitzt also einem Irrtum auf, wenn er sein Handeln weiter aufrechterhält. Wenn er die Jahre zusammenzählt, die er im Vollzug verbracht hat, wird er sich fragen: War es das wirklich wert? In den Gesprächen schauen wir gemeinsam, wie mögliche Alternativen zur Delinquenz aussehen könnten. Das klingt jetzt natürlich sehr einfach. In Wirklichkeit braucht diese Entwicklung enorm viel Zeit.

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