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Klimawandel: Tauender Permafrost in den Alpen lässt Berghütten bröckeln

Steigende Temperaturen in den Bergen lassen den Permafrost tauen. Schutzhütten und andere Infrastrukturen werden dadurch instabil. Sind die hohen Gipfel bald nicht mehr zugänglich?
Die italienische Schutzhütte Rifugio Casati
Das Rifugio Gianni Casati ist eine Berghütte der Sektion Mailand des Club Alpino Italiano. Die Berghütte liegt am Langenfernerjoch auf dem Hauptkamm der Ortler-Alpen auf einer Höhe von 3269 Metern.

Seit fast einem Jahrhundert besuchen Bergsteiger das Rifugio Casati, ein vierstöckiges Gebäude in den italienischen Alpen in 3269 Metern Höhe. Im Jahr 2016 bemerkte Renato Alberti, der das Refugium schon 35 Jahre lang beaufsichtigt, einen vertikalen Riss in einer der Außenwände. Alberti, heute 67 Jahre alt, füllte damals die Lücke mit Bauschaum. Doch schon wenige Tage später war der Riss erneut offen. Hier geht etwas Ungewöhnliches vor, dachte er. War der Berg instabil geworden?

Seine Vermutung stieß bei anderen Ortskundigen auf Skepsis. »Damals hatten wir noch eine viel simplere Vorstellung vom Klimawandel«, sagt Riccardo Giacomelli. Zusammen mit einem Geologen stieg der auf hoch gelegene Gebäude spezialisierte Architekt damals zum Rifugio Casati auf, um die von Alberti entdeckten Risse zu untersuchen. Giacomelli ist Präsident der Kommission für Schutzhütten und alpine Bauten des italienische Alpenvereins. Dem Verein gehören das Rifugio Casati und 721 weitere Hütten und Unterstände – kleinere, unbewachte Gebäude, die für Bergsteiger auf zahlreichen Gipfeln in Italien wichtige Zwischenstationen darstellen. »Wir wussten, dass die Temperaturen steigen würden und dass es weniger schneien würde«, sagt Giacomelli. »Doch die Vorstellung, dass sich daraus Probleme für die Gebäude ergeben könnten, erschien uns verrückt.«

Im Lauf der nächsten Sommer breiteten sich die Risse in den Wänden des Rifugio Casati aus, Fliesen im Inneren begannen zu brechen, Türen schlossen nicht mehr richtig, und eine Ecke der Terrasse sank um mehr als einen Meter. Geologische Untersuchungen bestätigten Albertis Hypothese: Das Rifugio Casati befindet sich auf Permafrostboden, der durch die Erwärmung auftaut. Die Bodenmorphologie verschiebt sich, was das Fundament des Gebäudes zunehmend in Mitleidenschaft zieht und offenbar den südlichen Teil des Gebäudes zum Sinken bringt. Auch Felsstürze treten am Berghang immer häufiger auf und nähern sich dem Gebäude stetig. Die Behörden wollen es daher in den nächsten Jahren abreißen, vielleicht schon ab 2024, und in einer stabileren Lage neu errichten. Im Sommer 2023 soll die Hütte dennoch wieder geöffnet werden.

An vielen Stellen bröckelt es

Die Situation des Rifugio Casati ist eines von vielen Anzeichen dafür, dass der Hochgebirgsinfrastruktur in den Alpen schwierige Zeiten bevorstehen. Auftauender Permafrost hat in den letzten Jahren Dutzende von Hütten, Zugangswegen und Seilbahnmasten gefährdet und Millionen für die Reparatur von Schäden und Präventivmaßnahmen verschlungen. Deshalb bezweifeln einige Fachleute die Nachhaltigkeit bestimmter Außenposten in den Hochgebirgen und dortiger Aktivitäten.

Beim Permafrostboden handelt es sich um dauerhaft gefrorene Erde, die auch Eis und Gestein enthalten kann. Der Großteil davon befindet sich in arktischen Regionen, wo gut dokumentiert ist, wie sich dessen Auftauen auf Infrastrukturen wie Straßen auswirkt. Permafrost gibt es aber auch in Hochgebirgen wie den Alpen, dem Himalaja und den Anden. Dort wirkt das Eis im Boden wie ein Klebstoff, der Teile des Bergs zusammenhält – aber nur solange die Bodentemperaturen unter dem Gefrierpunkt bleiben.

In den letzten Jahrzehnten sind die Temperaturen in den Alpen erheblich angestiegen. Das Gebirge erwärmt sich um etwa 0,3 Grad Celsius pro Jahrzehnt und damit doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt. Die Höhe, ab der der Frost ganzjährig anhält, wandert immer weiter nach oben: Nach Angaben des Schweizer Wetterdienstes lag die Frostgrenze in den Alpen zwischen 1961 und 1990 im Sommer typischerweise bei knapp 3400 Metern. Im Jahr 2022 erreichte sie einen Rekordwert von erstmals etwa 5200 Metern.

Wenn es an der Erdoberfläche wärmer wird, schmilzt das Eis im Permafrostboden und der Boden taut auf. Das Erdreich sackt ab und bricht auseinander, was die Häufigkeit von Erdrutschen und Felsstürzen erhöht. »Der Klebstoff ist nicht mehr vorhanden«, sagt Antonella Senese, eine Gletscherforscherin und Klimawissenschaftlerin an der Universität Mailand in Italien. Bei hoch gelegenen Gebäuden können die Verformungen durch den auftauenden Permafrost die Fundamente destabilisieren, so dass die Gebäude kippen, rutschen oder ganz einstürzen. »Das ist so, als würde man ein Haus auf einen Felsen bauen«, sagt Senese, »und dann plötzlich feststellen, dass das Fundament auf Sand steht.«

Das Ausmaß der Bedrohung ist unklar

Noch existiert kein umfassender Überblick darüber, wie viele Gebäude wirklich gefährdet sind. Das liegt unter anderem daran, dass sich die Alpen über sieben Länder erstrecken, die jeweils ihre eigenen Organisationen zur Überwachung haben. Aber zumindest häufen sich die Berichte über Schäden. In der Schweiz ist das Fundament der Rothornhütte, eines 75 Jahre alten Steingebäudes oberhalb des berühmten Bergorts Zermatt, in Schieflage geraten. Bautrupps werden diesen Sommer hinaufsteigen, um sie auf einer stabileren Felsplatte neu zu errichten. Und als die Behörden in Österreich beschlossen, die Seethalerhütte abzureißen und neu aufzubauen, stießen sie auf ein 40 Meter breites Sinkloch unter der Berghütte. Dieses hätte leicht zu einer Katastrophe führen können, glücklicherweise ist nichts passiert. Ähnlich viel Glück verhinderte, dass es im Sommer 2022 Opfer gab, als der Boden unter dem Bivacco Fourche (auch Bivacco Corrada Alberico-Borgna genannt) nahe der französisch-italienischen Grenze einbrach. Die Biwakschachtel in der Mont-Blanc-Gruppe stürzte in eine Schlucht, war zu diesem Zeitpunkt aber leer.

Der Großteil der Berghütten – also bewirtschaftete Unterkünfte, die von kleinen Schutzhütten für eine Hand voll Menschen bis hin zu großen Häusern mit fast 200 Betten reichen – sind noch nicht gefährdet. Eine Studie aus dem Jahr 2019 über die französischen Alpen legt nahe, dass dort der Permafrostrückgang an Nordhängen lediglich Gebäude in einer Höhe von etwa 2700 bis 2900 Metern und an Südhängen zwischen 3000 bis 3600 Metern betrifft. Noch seien Schäden an der Infrastruktur selten, die durch abtauenden Permafrost verursacht werden, sagt Giacomelli. Doch mit weiter steigenden Temperaturen nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass in diesen und noch höheren Lagen Permafrost in der Nähe von Gebäuden auftaut.

Der italienische Alpenverein hat nach eigenen Angaben damit begonnen, die Bedingungen auf der Margheritahütte zu überwachen. Diese Schutzhütte im Monte-Rosa-Massiv der Walliser Alpen liegt auf 4556 Metern über dem Meeresspiegel und ist somit das höchste Gebäude Europas. Alpenvereine in mehreren Ländern haben Untersuchungen in Auftrag gegeben, um das Problem zu quantifizieren. Der italienische Verein hat seine Ortsgruppen gebeten, die hoch gelegenen Hütten zu überwachen, der Schweizer Alpenverein wird demnächst eine umfassende Untersuchung seiner Hütten veröffentlichen. Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass 56 Gebäude in der Schweiz auf oder in der Nähe von permafrostreichen Böden liegen.

Sollten wir manches wieder der Natur überlassen?

»Die Herausforderungen werden sicherlich zunehmen«, sagt Ulrich Delang, Bereichsleiter der Abteilung Hütten des Schweizer Alpen-Clubs. Er und seine Kollegen seien ein wenig beunruhigt über die zunehmenden Veränderungen des Permafrosts und die Menge an Forschung, die noch nötig ist, um die Folgen abzuschätzen. »Wir würden gerne wissen, ob eine bestimmte Hütte auch noch in 30 Jahren existieren wird«, sagt er. »Oder sollten wir einige Standorte wieder der Natur überlassen?«

Einige Experten tendieren zu Letzterem. »Die Situation ist ernst«, sagt Luca Gibello, Architekt und Präsident von Cantieri d'Alta Quota, einem italienischen Verein, der sich für Berg- und Schutzhütten einsetzt. Als Hobby-Bergsteiger hat er 79 der 82 Alpengipfel jenseits der 4000 Meter bestiegen. »Es geht nicht nur darum, die Gebäude zu verbessern oder zu verstärken«, sagt Gibello. »Das Problem ist, dass uns Prognosemodelle fehlen, um zu verstehen, was in 5, 10 oder 15 Jahren passieren wird.« Er erinnert daran, dass die Architekten der Goûter-Hütte, die 2013 als höchstes Gebäude Frankreichs eröffnet wurde, deren Stabilität nur für einige Jahrzehnte garantierten. Was danach geschieht, lässt sich nicht vorhersagen.

»Das Problem ist, dass uns Prognosemodelle fehlen, um zu verstehen, was in 5, 10 oder 15 Jahren passieren wird«Luca Gibello, Präsident von Cantieri d'Alta Quota

Renato Alberti glaubt, dass es schwieriger und unsicherer wird, die Berge zu erleben, wenn die Hütten nicht ersetzt werden – und in einigen Fällen sogar unmöglich. »Hüttenwirte sind Bergwächter«, sagt er. »Sie überwachen die Veränderungen, kümmern sich um die Wanderwege und bieten Schutz.« Schließlich war er es, der erkannte, dass mit dem Rifugio Casati etwas nicht stimmte. Der Gedanke, Hütten schließen zu müssen und damit den Zugang zu den Bergen einzuschränken, trifft Alberti auch persönlich: Während einer Hochgebirgsexpedition in seiner Jugend rettete er eine in Not geratene Frau – später heirateten sie.

Gibello fragt sich, ob der »Geist«, in dem die Hütten geschaffen wurden – sei es für Soldaten, Forscher oder Bergsteiger –, nun am Ende ist. »Das Zeitalter der totalen Erreichbarkeit, in dem jeder überall hingehen kann …, vielleicht müssen wir damit abschließen«, sagt er. »Anstatt sie wieder aufzubauen, sollten wir möglicherweise darüber nachdenken, ob bestimmte Hütten so plötzlich, wie sie in die Welt gekommen sind, auch wieder verschwinden müssen.«

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