Teilchenphysik: 7 verblüffende Zusammenhänge zu 70 Jahren CERN
Was sind schon 70 Jahre für einen Ort, an dem es zum Tagesgeschäft gehört, 14 Milliarden Jahre zurückzuschauen? Im Herzen Europas werden heute Bedingungen nachgestellt, wie sie Sekundenbruchteile nach der Geburt des Universums geherrscht haben. Ein Blick auf die Anfänge des CERN offenbart eine überraschende Geschichte, dank der sich heute bei Genf der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt befindet.
Der Large Hadron Collider (LHC) ist die komplizierteste und größte je gebaute Maschine. Im Sommer 2012 verkündete das CERN: Dort haben wir das Higgs-Boson gefunden, den letzten Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik! Dieser Triumph bezeugte den Erfolg der 1954 gegründeten Forschungseinrichtung.
Seit sieben Jahrzehnten ergründet das CERN die mysteriösen Wechselwirkungen der kleinsten Teilchen und setzt auch sonst neue Maßstäbe: von Pionierarbeit in der Computerwissenschaft bis zu einer Forschungskultur, die alle Menschen nachhaltig beeindruckt, die einmal dort gearbeitet haben. Wir fragen, was diesen Ort so besonders macht. Und wir zeigen, welchen Herausforderungen sich das Projekt in Zukunft stellen muss.
- 1. Die Anfänge: Aus Ruinen zur Weltspitze
- 2. Die Populärkultur: Ruhmreich und gefürchtet
- 3. Der Higgs-Triumph: Zu groß für einen eigenen Nobelpreis
- 4. Das Geheimnis: Individuelle Stärke in exzellenter Gemeinschaft
- 5. Die Datenpioniere: Durchblick im Informationsdickicht
- 6. Der Status quo: Das Standardmodell obsiegt – und genügt trotzdem nicht
- 7. Die Zukunft: So offen wie vor 70 Jahren
1. Die Anfänge: Aus Ruinen zur Weltspitze
Ende der 1940er Jahre hatten in Europa die Verfolgungen durch das Naziregime und die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs auch die Wissenschaft zerrüttet. Nun lockten die USA als erste Atommacht die verbliebenen europäischen Physiker mit groß angelegten Forschungsprogrammen und neuen Teilchenbeschleunigern. Dem konnten die europäischen Staaten nur gemeinsam etwas entgegensetzen: Eine internationale Einrichtung sollte intellektuelle und finanzielle Ressourcen in Europa bündeln. Diese Idee trug der französische Physiker und Nobelpreisträger Louis de Broglie auf einer Konferenz im Jahr 1949 erstmals offiziell vor. Weitere einflussreiche Kernforscher des alten Kontinents wie der Däne Niels Bohr, ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, warben intensiv für solch ein Projekt.
Hartnäckige diplomatische Bemühungen fruchteten bald: 1953 unterzeichneten Vertreter von zwölf europäischen Staaten die Gründungsurkunde einer gemeinsamen Organisation. Darunter Deutschland: Es konnte sich damit erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder als Partner eines internationalen Großprojekts beweisen. Ausdrücklich sollten die Tätigkeiten dort rein wissenschaftlichen Grundlagencharakter haben und keinen militärischen Zwecken dienen, zudem sollten die Ergebnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Passenderweise fiel die Standortwahl auf die neutrale Schweiz. Am 29. September 1954 schließlich ratifizierten die Staaten den entsprechenden Vertrag. Dieses Datum ist der offizielle Geburtstag des CERN.
»Das CERN ist zu einem Mekka der Kern- und Teilchenphysik geworden«Klaus Blaum, Kernphysiker
Das CERN schaffte es seitdem nicht nur, Spitzenforschung in Europa zu halten. Es erarbeitete sich bald einen weltweit herausragenden Status. »Das CERN ist zu einem Mekka der Kern- und Teilchenphysik geworden, an dem man einmal im Leben gearbeitet und geforscht haben sollte«, sagt Klaus Blaum vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg.
Drei Jahre nach dem Start des CERN ging 1957 dessen erster Teilchenbeschleuniger in Betrieb, ein so genanntes Synchrozyklotron. Es war im weltweiten Vergleich zwar nicht das leistungsfähigste Gerät seiner Art – je eines in den USA und in der Sowjetunion konnten Teilchen mit noch mehr Wucht auf ein Ziel schleudern, um dort neuartige Phänomene hervorzurufen und zu untersuchen –, aber übertrumpfte bereits alles, was einzelne Länder in Europa bisher gebaut hatten. Mit dem Synchrozyklotron wiesen die Teams am CERN den seltenen Zerfall eines Teilchens nach und untermauerten so entsprechende Theorien. Bald darauf feierte die Organisation dann einen ersten Weltrekord: Das 1959 in Betrieb genommene Proton Synchrotron war der stärkste Teilchenbeschleuniger überhaupt. Das blieb es aber nur einige Monate lang. Dann zogen die USA wieder vorbei.
Immer detaillierter fügte sich ein Bild der überraschend bunten Teilchenwelt zusammen. Die Jagd nach neuen Puzzlestücken brauchte zunehmend höhere Energien, bei denen sich neue Vorgänge offenbarten. Für seinen nächsten Beschleuniger, das Super Proton Synchrotron (SPS), hob das CERN einen sieben Kilometer langen, ringförmigen Tunnel aus. Eine neuerliche globale Bestmarke brachte das allerdings nicht, denn als das SPS 1976 fertig war, stieß das US-amerikanische Fermilab nahe Chicago bereits zu höheren Energien vor.
Dank zweier Geniestreiche gelang mit dem SPS dennoch ein revolutionärer Fund. Der CERN-Forscher Carlo Rubbia schmiedete gewagte Pläne zu einem Umbau des SPS: Nach seiner Vorstellung sollte nicht wie bisher ein einzelner Strahl aus beschleunigten Teilchen auf ein ruhendes, so genanntes Target schießen, sondern zwei gegenläufige Strahlen müssten kollidieren. Das würde weitaus mehr Energie freisetzen. Sein CERN-Kollege Simon van der Meer hatte ein Prinzip erdacht, nach dem sich die dafür nötigen Teilchenstrahlen bündeln ließen.
Schließlich derart aufgerüstet ließ sich mit dem SPS gezielt nach den so genannten W- und Z-Bosonen suchen. Bis dahin hatte noch niemand diese Teilchen nachgewiesen, die eine Grundkraft übertragen (die so genannte schwache Kernkraft, die für radioaktiven Zerfall verantwortlich ist). Die entsprechende Theorie stammte aus den 1960er Jahren. Rubbias kühne Strategie ging auf: 1983 zeigten sich die W- und Z-Bosonen am CERN.
Felicitas Pauss von der ETH Zürich war Zeugin, als das schließlich gelang: »Das erste Z-Ereignis, das am 30. April 1983 mit dem UA1-Experiment aufgezeichnet wurde, werde ich nie vergessen.« Die Physikerin beobachtete den Vorgang auf einem interaktiven Analysegerät namens Megatek, mit dem sich die Teilchen und ihre Bahnen darstellen lassen, die aus einer Kollision hervorgegangen sind. »Kurz nachdem dieses Ereignis in den Daten entdeckt worden war, konnte ich es auf dem Megatek detailliert untersuchen. Es waren sehr emotionale Momente für mich, diese Entdeckung so hautnah mitzuerleben.« Bereits im Jahr darauf folgte ein Nobelpreis für Rubbia und van der Meer.
In ihrem 70. Jahr zählt die Forschungseinrichtung 24 Mitgliedsstaaten (erst am 30. August 2024 trat Estland bei). Diese dürfen jeweils zwei Delegierte in das oberste Entscheidungsgremium entsenden, den Rat des CERN. Das Privileg, bei wegweisenden Entscheidungen der europäischen Teilchenphysik mitzureden, bringt eine Pflicht mit sich: Jedes Mitglied leistet einen Beitrag zu den laufenden Kosten, der sich am Bruttosozialprodukt des Landes orientiert. Deutschland trägt etwa ein Fünftel des jährlichen CERN-Budgets von umgerechnet mehr als einer Milliarde Euro.
»Das Wunderbare am CERN ist, dass junge Leute aus der ganzen Welt dort zusammenkommen«Beate Heinemann, Teilchenphysikerin
Zudem kooperiert die Organisation eng mit zahlreichen nicht europäischen Staaten und beherbergt inzwischen mehr als 10 000 Menschen aus rund 100 Ländern. »Das Wunderbare am CERN ist die Internationalität und dass sehr viele, insbesondere junge Leute aus der ganzen Welt dort zusammenkommen«, sagt Beate Heinemann, Direktorin für den Bereich Teilchenphysik am Forschungszentrum DESY in Hamburg. Die versammelte Exzellenz beeindruckt auch Klaus Blaum. Er forscht seit mehr als 20 Jahren am CERN und untersucht dort etwa die Eigenschaften von kurzlebigen radioaktiven Atomen: »Jede Person gehört in ihrem Bereich zu den weltbesten, was man bei seiner täglichen Arbeit vor Ort immer wieder bestätigt bekommt.«
Experimente am CERN haben nichts mehr mit dem zu tun, was wir von Labortischen aus dem Physik- oder Chemieunterricht kennen. Sie sind das hochkomplizierte Produkt riesiger, internationaler Kollaborationen und jahrelanger Planung – und füllen ganze Hallen.
Der größte Beschleuniger des heutigen CERN, der LHC, erstreckt sich ringförmig in einem 27 Kilometer langen Tunnel zwischen der Gemeinde Meyrin in der Schweiz, wo sich die meisten CERN-Gebäude befinden, und der französischen Gemeinde Cessy, wo der CMS-Detektor untergebracht ist. CMS ist eines der vier wichtigsten Experimente entlang des LHC-Rings. Die drei weiteren namens ALICE, ATLAS und LHCb liegen an anderen Stellen entlang des Rings – hinzu kommen etliche weitere, kleinere.
Jedes der großen LHC-Experimente steht in einer gigantischen unterirdischen Kaverne. ATLAS ist ein 46 Meter langer, je 25 Meter hoher und breiter sowie 7000 Tonnen schwerer Detektor. Die drei anderen sind geringfügig kleiner, aber nicht weniger komplex. Felicitas Pauss war seit den 1980er Jahren Teil des LHC-Programms, unter anderem in leitender Position am CMS-Experiment. Dessen Zusammenbau bleibt ihr als »sehr beeindruckendes Ereignis« in Erinnerung. Pauss war dabei, als am 28. Februar 2007 der etwa 2000 Tonnen schwere Magnet des CMS von der Erdoberfläche in die Experimentierhalle herabgelassen wurde: »Als ich sah, wie der Magnet langsam in dem großen Schacht verschwand, hatte ich den Eindruck eines spektakulären Sonnenuntergangs. Und dann, etwa zehn Stunden später, kam der Moment der großen Freude und Erleichterung für alle Anwesenden, als der Magnet sanft und sicher in der Experimentierhalle aufsetzte. Die Sonne schien wieder!«
Seit dem Start des LHC im Jahr 2008 flitzen dort in zwei parallelen Röhren elektrisch geladene Atomkerne umher, von einzelnen Protonen, das sind die Kerne der leichten Wasserstoffatome, bis hin zu sehr massereichen Bleikernen. Sie werden durch Elektromagnete immer stärker beschleunigt und an einzelnen Stellen (nämlich dort, wo sich die großen Experimente befinden) gezielt aufeinandergeschossen. Hier wandelt sich die Bewegungsenergie der Atomkerne um – und setzt auf kleinstem Raum Energiemengen frei, die Bedingungen wie kurz nach dem Urknall entsprechen. Auf einen Schlag entstehen zahlreiche andere, teilweise unbekannte Teilchen. Sie hinterlassen charakteristische Spuren in den hausgroßen Detektoren rund um den Kollisionspunkt.
2. Die Populärkultur: Ruhmreich und gefürchtet
Solche gigantischen Maschinen und extremen Vorgänge regen verständlicherweise immer wieder die Fantasie von Hollywood-Regisseuren und Sciencefiction-Autoren an. Im Fall des LHC haben sie sogar Ängste vor einem drohenden Weltuntergang ausgelöst.
Das zentrale Puzzleteil fehlte noch: das Higgs-Boson
Das LHC wurde in der Hoffnung errichtet, mit ihm das bis dahin letzte noch fehlende Stück des so genannten Standardmodells der Teilchenphysik zu finden. Das Standardmodell umfasst sämtliche bekannten subatomaren Teilchen und die Grundkräfte, über die sie miteinander wechselwirken. Doch seinerzeit fehlte noch das zentrale Puzzleteil: das so genannte Higgs-Boson. Dieses ist mit einem speziellen Mechanismus verknüpft, der im Modell sämtlichen anderen Teilchen ihre Masse verleihen soll.
Das Standardmodell der Teilchenphysik
Das Standardmodell enthält alle bisher bekannten Elementarteilchen. Links oben sind die sechs Quarks Up (u), Down (d), Charm (c), Strange (s), Top (t) und Bottom oder auch Beauty (b) verzeichnet. Sie können jeweils drei verschiedene Farbladungen besitzen (Rot, Grün oder Blau). Diese Ladung bestimmt, wie sie an Gluonen (g) koppeln, die selbst zwei Farbladungen tragen. Neben der durch die Gluonen vermittelten starken Kernkraft unterliegen die Quarks der schwachen Kernkraft und dem Elektromagnetismus. Ihre elektrische Ladung beträgt entweder 2/3 oder –1/3 der Elektronenladung. Die Masse der sechs Quarks variiert stark, vom leichtesten Up-Quark mit 2,2 MeV/c2 bis zum schweren Top-Quark mit über 170 GeV/c2.
Außerdem gibt es sechs verschiedene Leptonen: das Elektron (e), das Myon (μ), das Tauon oder Tau (τ) und für jedes dieser Teilchen ein dazugehöriges Neutrino (ν). Sie unterliegen alle der schwachen Wechselwirkung, und bis auf die drei Neutrinos haben sie eine negative Elektronenladung. Wie bei den Quarks schwankt auch ihre Masse: von 511 keV/c2 des leichten Elektrons bis zu mehr als 1,7 GeV/c2 des schweren Tauons. Die Masse der Neutrinos ist tatsächlich so klein, dass sie bisher noch nicht bestimmt werden konnte.
Quarks und Leptonen bilden zusammen drei Teilchenfamilien, die sich bis auf ihre Massen nicht voneinander unterscheiden. Sie wirken damit wie drei praktisch identische Kopien; diese Symmetrie lässt sich durch die Gruppentheorie beschreiben.
Neben den Gluonen befinden sich in der rechten Spalte die übrigen Teilchen, welche die drei Grundkräfte des Standardmodells übermitteln. Das W+-, das W–- und das Z-Boson sind für die schwache Kernkraft verantwortlich, die radioaktive Zerfälle bewirkt. Das Photon übermittelt die elektromagnetische Kraft. Für die vierte Grundkraft, die Gravitation, wird vermutet, dass ein Graviton existiert. Das Higgs-Boson unterscheidet sich von seinen Artgenossen. Es hängt nicht mit einer fundamentalen Kraft zusammen, sondern verleiht den Teilchen ihre Masse. Außerdem unterliegt es der schwachen Wechselwirkung.
Um das Standardmodell zu vervollständigen, kommen noch die Antiteilchen der Quarks und der Leptonen hinzu, die sich lediglich durch das Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung von den ursprünglichen Partikeln unterscheiden.
Wegen seiner entscheidenden Rolle hieß das Higgs-Boson in vielen populären Medien »Gottesteilchen«, inspiriert vom Titel des 1993 erschienenen Buchs »The God Particle« des Physik-Nobelpreisträgers Leon Lederman. Die Bezeichnung ist in der Fachcommunity verhasst – aber sie blieb hängen. Sie fiel beispielsweise in einem Dialog der Kinoverfilmung des Romans »Illuminati« von Dan Brown. Der 2009 erschienene Blockbuster spielt unter anderem am CERN: Verschwörer stehlen am LHC erzeugte Antimaterie, um damit den Vatikan zu vernichten. Der Film nimmt es mit der Physik freilich nicht so genau, was das CERN dazu veranlasste, parallel zum Kinostart bei Presseveranstaltungen und Vortragsreihen klarzustellen, was am LHC wirklich passiert. Nein, die dort entstehende Antimaterie lässt sich nicht in handliche Kanister abfüllen, und erst recht nicht hat sie die Sprengkraft einer Atombombe.
Einmal drohten Missverständnisse rund um die komplexeste Maschine der Welt sogar, die Forschung auszubremsen. Denn eine öffentlich besonders intensiv diskutierte Sorge musste das CERN ausräumen, bevor es im September 2008 unter den Feldern zwischen Meyrin und Cessy die ersten Protonen aufeinanderschießen konnte. Einige Kritiker der geplanten Experimente befürchteten, bei den anvisierten Energien könnte ein winziges Schwarzes Loch entstehen, das die Erde langsam von innen verschlingen würde. Deswegen hatte eine Gruppe um einen deutschen Wissenschaftler einen Eilantrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Inbetriebnahme eingereicht – erfolglos. Und offensichtlich unbegründet: Die Erde existiert immer noch.
Nichtsdestoweniger haben sich am verführerisch apokalyptischen Szenario »Teilchenbeschleuniger erzeugt ein zerstörerisches Schwarzes Loch« verschiedene Katastrophenfilme bedient. Sogar eine deutsche Fernsehproduktion hat sich davon (aber zu sonst nicht viel) inspirieren lassen und zaubert am CERN ein Schwarzes Loch hervor.
Die Zahl an filmischen Zerstörungsorgien ist kein Indikator für die Bedeutung der tatsächlichen Bedrohung, sonst wären wir längst von Riesenechsen platt getrampelt worden. Trotz B-Movies und Klagen besorgter Bürger war nie ernsthaft zu erwarten, dass das LHC zur Weltuntergangsmaschine wird. Schon allein deswegen nicht, weil das Universum unseren Planeten seit 4,5 Milliarden Jahren mit kosmischer Strahlung bombardiert, die mitunter weitaus energiereicher ist als alles, was aus dem LHC hervorgehen kann.
3. Der Higgs-Triumph: Zu groß für einen eigenen Nobelpreis
Statt die Welt zu vernichten, ließ das LHC sie jubeln: Im Sommer 2012 tauchte endlich das lange gesuchte Higgs-Boson auf. Fraglos zählt die Entdeckung zu den größten Triumphen des CERN, und allen, die sie miterlebten, bleibt sie deutlich im Gedächtnis. Beate Heinemann, ehemalige stellvertretende Leiterin des ATLAS-Experiments am LHC, erinnert sich an einen »Heureka-Moment im November 2011«, als sie das erste Mal das Higgs-Boson erahnen konnte. »Das heißt, ich sah einen internen Graph, der mir stark suggerierte, dass wir es gefunden haben.« Nach vielen Prüfungen galt die Beobachtung dann als sicher, »so dass im Juli 2012 dann die Entdeckung offiziell kommuniziert werden konnte«.
Andreas Hoecker kam nach einem Forschungsaufenthalt in den USA im Jahr 2005 zurück ans CERN. »Ich habe mich dann beim ATLAS-Experiment engagiert, das sich damals noch im Bau befand.« Heute ist er Sprecher der ATLAS-Kollaboration. Für Hoecker war die Entdeckung des Higgs-Bosons »die größte Erfahrung meines beruflichen Lebens«. Danach »trugen alle hier für Tage ein stilles Lächeln auf den Lippen. Etwas wirklich Großes war geschehen.«
Den Nobelpreis erhielten die Theoretiker, die das Higgs-Boson vorhergesagt hatten – nicht diejenigen, die es entdeckt hatten
Als im Jahr 2013 der Nobelpreis für den Fund des Higgs-Bosons vergeben wurde, erhielten ihn die beiden Theoretiker, die es ein halbes Jahrhundert zuvor vorhergesagt hatten – nicht diejenigen, die für die Entdeckung von 2012 am CERN verantwortlich waren. Denn das schwedische Komitee benennt für den Physik-Nobelpreis maximal drei Einzelpersonen, keine Organisationen. Und am LHC war die Teamarbeit so komplex geworden, dass sich der Erfolg nicht mehr auf einen Namen reduzieren ließ. In der öffentlichen Diskussion hätten damals einige gern das CERN insgesamt ausgezeichnet gesehen. Für die meisten Fachleute aber war es vor allem ein Beleg für den Erfolg der dezentralen, gemeinschaftlichen Arbeit, wie sie schon in der Gründung des CERN angelegt war. Übrigens: Anders als der Nobelpreis für Physik wird derjenige für den Frieden durchaus an Organisationen verliehen. Hier hätte das CERN also in Zukunft noch Chancen.
4. Das Geheimnis: Individuelle Stärke in exzellenter Gemeinschaft
Das CERN gilt als Musterbeispiel für gelungene Verständigung, Kollektivierung des Wissens und Abkehr von Eitelkeiten in der Forschung. »Am CERN sind alle gleich«, berichtet etwa Blaum. »Man kann sich zu jeder Person im Restaurant an den Tisch setzen, einfach das Gespräch suchen und sich fachlich austauschen.« Die Cafeteria ist inzwischen »legendär«, sagt Peter Braun-Munzinger, Kernphysiker am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt. »Man trifft Wissenschaftler aus aller Welt, und Forschung und neue Technologien sind zentrale Themen.« Hier erfolgten der ein oder andere Gedankenaustausch und viele Geistesblitze, die später in wichtige Projekte mündeten. Babette Döbrich vom Max-Planck-Institut für Physik in München leitet ein Analyseteam eines NA62 genannten Experiments am CERN. Sie traf oft »zufällig auf Kollegen aus aller Welt im Flur oder in der Cafeteria, die gerade am CERN zu Besuch waren«, erzählt sie. »Die Unterhaltungen, die sich daraus ergeben haben, waren mehr als einmal Anstoß für neue gemeinsame Forschungsarbeiten.«
Für alle CERN-Vertrauten zeichnet die Organisation mehr aus als einzelne schlagzeilenträchtige Leistungen. Blaum stellt »neben den herausragenden wissenschaftlichen Ergebnissen die vielen kleinen und großen internationalen Kollaborationen am CERN« heraus, »die friedliche Zeichen in die Welt senden«. Auch Heinemann würdigt »die Erschaffung eines Forschungsraums, der über Grenzen hinweg viele Nationen innerhalb Europas und aus der ganzen Welt verbindet«. Das CERN steht laut Braun-Munzinger für »Völkerverständigung durch wissenschaftliche Zusammenarbeit auf höchstem Niveau«.
»Wenn man einen Eindruck davon bekommen möchte, was Diversität bedeutet, lohnt es sich, an einem Arbeitstag die Kantine zu besuchen«, sagt Ulrich Uwer, Teilchenphysiker an der Universität Heidelberg. »Man arbeitet mit den Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt, ohne über ihre Nationalitäten, Herkunft, Religion oder Geschlecht nachzudenken. Natürlich sprechen alle Englisch, aber das Sprachengewirr in der Kantine zur Mittagszeit kann schon manchmal ein babylonisches Ausmaß annehmen.«
»Der Geist offener und friedlicher Grundlagenforschung durchdringt alles, was hier passiert«Andreas Hoecker, Teilchenphysiker
»In meiner Karriere hatte ich das Glück, die großen Forschungszentren der Teilchenphysik auf der ganzen Welt zu besuchen«, resümiert Hoecker. »Jedes von ihnen beeindruckt mit tollen Projekten, erstklassiger Technologie, Expertise und vielen klugen Köpfen. Doch keines kommt an das CERN heran.« Das CERN sei von Grund auf international. »Es wurde mit dem Geist offener und friedlicher Grundlagenforschung gegründet, und dieser Geist durchdringt alles, was hier passiert.« Die Hierarchien sind Hoecker zufolge flach: »Was zählt, ist Kompetenz. Wir CERN-Mitarbeitenden unterstützen Forschende aus aller Welt, die hierherkommen, um ihre Ideen zu verwirklichen. Die Expertise der Menschen, die am CERN in Bereichen wie der Beschleunigerphysik, Magnet-, Vakuum- und Tieftemperaturtechnologie, Informatik, Datenanalyse bis zur theoretischen Physik arbeiten, ist außergewöhnlich und macht den Erfolg dieses einzigartigen Forschungszentrums aus.«
Im üblichen Wissenschaftsbetrieb sind Zitierungen eine entscheidende Währung: Bessere Chancen auf Karriere und Fördergelder hat, wessen Name bei Veröffentlichungen besonders oft und prominent auftaucht. Traditionell haben die dort Erstgenannten die meiste Arbeit geleistet. Publikationen des CERN hingegen listen alle Beteiligten streng alphabetisch auf. Deren Zahl geht in die Tausende. Kein Verfahren könnte gerecht ermitteln, wessen Beitrag bedeutender war, also zählen alle gleichermaßen. Beispielsweise entfallen im Paper zur Entdeckung des Higgs-Bosons am ATLAS-Detektor allein 10 der 29 Seiten auf fast 3000 Namen. Der Erstautor heißt Georges Aad.
Konkurrenz gibt es durchaus, insbesondere zwischen den einzelnen Experimenten am CERN um die geschicktesten Konzepte. Etwa hatten bei der Suche nach den W- und Z-Bosonen die beiden Teams der Detektorkomplexe UA1 und UA2 miteinander um die besten Instrumente und Strategien gewetteifert. Laut Pauss sind »die Experimente auch ein Ort, an dem junge Menschen lernen, wie man zusammenarbeitet, wo sie das Wechselspiel zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit verstehen, denn beides ist auf dem Weg zum Erfolg notwendig«. Vor allem aber seien sie »ein Ort, an dem man gemeinsam etwas wirklich Außergewöhnliches erreichen kann«.
Verschiedene Arbeitsgruppen auf der ganzen Welt haben für die Experimente am CERN einzelne Abschnitte konstruiert – für die hausgroßen Detektoren gewissermaßen einzelne Etagen und deren Innenausstattung. Sie sind jeweils darauf ausgelegt, bestimmte Teilchen und ihre Eigenschaften zu registrieren, die vom zentralen Punkt der kollidierenden Atomkerne in alle Richtungen wegfliegen: Photonen (Lichtteilchen), Elektronen und ihre schwereren Geschwister, die Myonen, Kernteilchen wie Protonen und Neutronen sowie viele weitere, exotischere Partikel.
Manche wie die Elektronen bleiben schon im Keller stecken, Neutronen schaffen es noch ins Wohnzimmer, und Myonen schießen bis durchs Dach. In jeder Sekunde findet im LHC die Schwindel erregende Zahl von etwa einer Milliarde Kollisionen statt, und bei jeder davon entstehen etliche Teilchen, die ihre Spuren im Mobiliar der Detektoren hinterlassen. Sie ermöglichen Rückschlüsse darauf, aus welcher Art von Interaktion am Kollisionspunkt sie hervorgegangen sind. Ulrich Uwer, stellvertretender Sprecher der LHCb-Kollaboration, betont die zentrale Rolle der Apparaturen bei allen großen Entdeckungen: »Ganz eng damit verbunden sind die technologischen Entwicklungen bei den Maschinen, den Detektoren und der Datenverarbeitung, die die wissenschaftlichen Ergebnisse erst ermöglicht haben.«
Pauss war beim CMS-Experiment an der Entwicklung und dem Bau des so genannten Kristallkalorimeters beteiligt. Mit solchen Instrumenten lässt sich die Energie eines Teilchens messen. »Die Herausforderung bestand darin, ein sehr leistungsfähiges elektromagnetisches Kalorimeter zu bauen, das aus etwa 76 000 Bleiwolframatkristallen und einer komplexen Ausleseelektronik besteht und viele Jahre lang unter den harschen LHC-Bedingungen ausgezeichnet funktionieren sollte«, erzählt Pauss. »Als ich 2012 das berühmte CMS-Signal des Higgs-Zerfalls in zwei Photonen sowie in vier Elektronen sah, war ich wirklich sehr glücklich. Das Kristallkalorimeter hat bei dieser Entdeckung eine entscheidende Rolle gespielt. Das war der Beweis dafür, dass sich all die erheblichen Anstrengungen zum Bau des Kristallkalorimeters sehr gelohnt haben!«
Bei der Suche nach bestimmten Teilchen und Wechselwirkungen gilt es, all diese Informationen zu sammeln und auszuwerten. Dafür arbeitet jedes der Experimente für sich und verfolgt eigene Strategien. Bei der Suche nach dem Higgs-Boson haben so etwa die Kollaborationen hinter ATLAS und CMS parallel Daten gesammelt, analysiert und im Jahr 2012 schließlich jeweils ihre Ergebnisse publiziert. In der Wissenschaft muss jede vermeintliche Entdeckung unabhängig bestätigt werden. Auf diese Weise gelingt das am CERN, obwohl alle ein und denselben Beschleunigerring nutzen. Das führte nicht nur beim Higgs-Boson zum Erfolg.
2024 endet die Zusammenarbeit mit Russland, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht
Doch der Ausgangsort der europäischen Idee von internationaler Wissenschaft für den Frieden wird 70 Jahre später auch zu einem Nukleationspunkt der Weltpolitik. Nach der russischen Invasion in die Ukraine – die seit 2016 als assoziiertes Mitglied besonders eng mit dem CERN verbunden ist – schloss sich der Rat des CERN der internationalen Ächtung des Aggressors an. 2022 suspendierte das CERN Russlands Beobachterstatus. Hunderte von russischen Forscherinnen und Forschern am CERN durften dort zwar weiter arbeiten, aber die auslaufenden Kooperationsvereinbarungen werden nicht verlängert. Nach dem 30. November 2024 endet die Zusammenarbeit mit Russland, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Laut der mittelfristigen Planung des CERN von 2024 bis 2028 fallen dadurch beispielsweise umgerechnet rund 40 Millionen Euro für den Ausbau des LHC sowie technologische Beiträge Russlands weg. Vor allem aber belastet die Entscheidung die Menschen, die davon betroffen sind, und ihre Forschung.
»Internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit einzuschränken, behindert den Wissensfortschritt, ein mächtiges Instrument für interkulturellen Dialog und Frieden«, klagte der Physiker Hannes Jung aus Hamburg im März 2024 in einem Kommentar im organisationseigenen Magazin »CERN Courier«. Die Diskussionen in den vergangenen zwei Jahren hätten zu einer »Atmosphäre des Misstrauens und der Furcht« beigetragen, in der junge Studierende ausgeschlossen würden, weil sie aus dem falschen Land kämen.
Nach dem russischen Überfall 2022 wurde in Deutschland das politische Mantra »Wandel durch Handel« rasch durch den Begriff Zeitenwende ersetzt. Am CERN könnte sich nun zeigen, wie die Zeiten für die Idee vom Wandel durch Wissenschaft stehen.
5. Die Datenpioniere: Durchblick im Informationsdickicht
Während das Higgs-Boson die bekannteste Entdeckung des CERN ist, ist seine prominenteste Erfindung das World Wide Web. Der CERN-Informatiker Tim Berners-Lee hat es im Jahr 1989 entwickelt, um den Austausch zwischen den Computern in den diversen Laboren zu vereinfachen. Die erste Website überhaupt, info.cern.ch, existiert als Kopie noch heute. Getreu seinem Grundsatz, alle Ergebnisse öffentlich verfügbar zu machen, stellte das CERN die dafür entwickelten Protokolle unter eine offene Lizenz und machte so das Internet, das bis dahin vor allem von Militärs und Nerds bevölkert wurde, massentauglich.
Heute ist die Herausforderung am CERN nicht mehr bloß, die vorhandenen Daten auszutauschen. Es geht vor allem darum, sie überhaupt zu bewältigen. Die gigantischen Maschinen erzeugen riesige Datenmengen, die Teams überall auf der Welt analysieren. Seit Jahrzehnten leistet das CERN Pionierarbeit und bringt weiterhin ständig neue Konzepte hervor. Moritz Scham vom DESY in Hamburg erforscht für seine Doktorarbeit Deep-Learning-Modelle, die ressourcenintensive Simulationen ersetzen sollen. Für ihn liegt die herausragende Bedeutung des CERN »nicht nur in der Physik, sondern auch in der Informatik und den Ingenieurwissenschaften«.
Das beginnt bereits bei der Frage, bei welchen der subatomaren Vorgänge es sich überhaupt lohnt, sie auszuwerten. Lediglich bei einem Bruchteil der eine Milliarde Kollisionen pro Sekunde passiert etwas Exotisches. Nur solche besonders spannenden Ereignisse aufzuzeichnen und alle übrigen zu verwerfen, spart Rechenleistung und Speicherplatz. Dafür sind so genannte Trigger zuständig. Ein Trigger ist ein »System, das in Echtzeit die interessantesten Kollisionen je nach physikalischen Prioritäten herausfiltert«, erklärt Claudia Wulz vom Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ihr Team hat den Trigger für das CMS-Experiment entwickelt. »Auch künstliche Intelligenz kommt dort heute zur Anwendung.«
Trotz solcher Vorsortierung stellte sich bereits bei der Planung des LHC schnell heraus, dass die Experimente eine noch nie da gewesene Menge an Daten hervorbringen würden. Die Rechenkapazitäten des CERN allein könnten diese Flut nicht bewältigen. Doch die zahlreichen Institute weltweit, die am LHC beteiligt sind, haben ihrerseits jeweils Zugang zu Rechenzentren. Ließe sich die Last auf all diese Supercomputer verteilen, indem man sie zu einem »Grid« koppelt?
Inzwischen mehr als 170 Rechenzentren in 42 Ländern verarbeiten die Rohdaten des LHC
Hinter der Bezeichnung steckt die Vorstellung vom Stromnetz, in dem diverse Erzeuger und Verbraucher elektrischer Energie miteinander verbunden sind. Wenn sich die Ressource Strom so effektiv verteilen und über Steckdosen problemlos anzapfen lässt – kann das auch mit Daten über entsprechend genormte Schnittstellen funktionieren? Aus diesem Gedanken erwuchs parallel zum Bau des LHC das Worldwide LHC Computing Grid (WLCG). Inzwischen mehr als 170 Rechenzentren in 42 Ländern verarbeiten die Rohdaten des LHC und machen die Ergebnisse allen Beteiligten zugänglich. Scham nennt das Grid »das erste Big-Data-Projekt in der Forschung«.
Das CERN-eigene Rechenzentrum archiviert die Rohdaten. An einem Tag kommt leicht ein Petabyte (das entspricht einer Million Gigabyte) hinzu. Dabei setzt das CERN übrigens nicht nur auf moderne Festplatten, sondern hauptsächlich auf eine scheinbar antiquierte Technologie: Magnetbänder. Dieses besonders robuste und günstige Medium hat bei derart großen Datenmengen noch immer Vorteile. Inzwischen liegen mehr als 850 Petabyte auf Lager.
Eines Tages, so eine Vision des CERN, könnte Grid-Computing alle Rechner der Welt zu einer einzigen, ungeahnt leistungsfähigen Ressource verbinden. Ob das Grid das Internet so revolutionieren wird wie das WWW, bleibt abzuwarten. Heute nutzen es Fachleute, um von überall nahezu in Echtzeit auf die Daten des LHC zuzugreifen, sie auszuwerten und nach unbekannten Teilchen und neuen physikalischen Phänomenen zu suchen. Denn davon gibt es noch immer jede Menge.
6. Der Status quo: Das Standardmodell obsiegt – und genügt trotzdem nicht
Mit dem Bau des LHC ist das CERN eine Wette eingegangen, die es nicht verlieren konnte: Entweder, das Higgs-Boson würde sich zeigen und das Standardmodell der Teilchenphysik vervollständigen – oder dieses stünde vor ernsthaften Schwierigkeiten. Beide Fälle versprachen eine Sensation. »Der LHC hatte quasi eine Erfolgsgarantie«, sagt Moritz Scham. Aber: »Würde man diesen Maßstab anlegen, um zu entscheiden, welches Experiment sinnvoll ist oder nicht, wäre sehr viel spannende Physik nie entdeckt worden.«
Das Higgs-Boson wurde gefunden, wo es zu erwarten war, und das Standardmodell hat sich behauptet. Seine Vorhersagen halten bis heute hartnäckigen Überprüfungen stand. Dennoch ist längst klar: Es reicht nicht aus, um alle Phänomene unserer Welt zu erklären. »Die Entdeckung des Higgs ist nicht das Ende, sondern der Anfang der Erforschung des Unbekannten in unserem Universum«, sagt Pauss. »Nach unserem derzeitigen Verständnis bestehen 96 Prozent unseres Universums aus Formen von Energie und Materie, die wir nicht kennen.« Dazu kommen weitere seltsame Phänomene. Die als Neutrinos bekannten Elementarteilchen dürften beispielsweise laut Standardmodell keine Masse besitzen – doch das tun sie.
»Wir haben keine zufrieden stellende Erklärung für die offensichtliche Materie-Antimaterie-Asymmetrie im Universum, letztendlich keine Erklärung, warum wir überhaupt existieren können«, erläutert Joachim Mnich, Forschungsdirektor am CERN. »Und die fundamentale Wechselwirkung, die uns allen als Erstes begegnet, die Gravitation, passt nicht ins Standardmodell.« Hoecker fasst zusammen: »Wir nennen es Teilchenphysik, aber im Kern geht es nicht in erster Linie darum, neue Teilchen zu entdecken, sondern den großen Zusammenhang und die fundamentalen Prinzipien der Physik, die unserem Universum zu Grunde liegen, auf ihrer elementarsten Ebene zu verstehen.«
»Wir glauben, dass das Higgs-Boson der Schlüssel zu einigen der fundamentalen Fragen sein könnte«Joachim Mnich, Experte für die Entwicklung neuer Detektoren
Ulrich Uwer erläutert einen Ansatz zur Klärung offener Fragen. »Mittels Präzisionsexperimenten möchte man durch eine genaue Vermessung von Teilcheneigenschaften kleine Abweichungen zur Theorie finden, die auf neue Effekte hindeuten können.« Auf ein am LHC entdecktes Teilchen schauen laut Uwer dabei alle sehr genau: »Das wegen seiner Sonderstellung vielversprechendste Teilchen ist das Higgs-Boson. Um es genau zu vermessen, wird eine Higgs-Fabrik gebraucht, die eine sehr hohe Zahl davon produziert.« Laut Mnich gibt es rund um das Higgs-Boson »eine Reihe wichtiger Fragen«, etwa ob es mehrere seiner Art gibt oder ob es sich selbst aus mehreren Teilchen zusammensetzt. »Das Higgs-Boson ist ein besonderes Teilchen, weder Materie- noch Kraftteilchen. Wir glauben, dass es der Schlüssel zu einigen der fundamentalen Fragen sein könnte.«
Der theoretische Physiker Andreas Crivellin vom Paul Scherrer Institut in der Schweiz etwa zeigt sich »sehr zuversichtlich«, dass es weitere Higgs-Bosonen gibt. Im April 2024 hat Crivellin die Hinweise auf zusätzliche Higgs-Bosonen, die er für »immer überzeugender« hält, gemeinsam mit Kollegen in einer Veröffentlichung zusammengetragen. Solche neuen Teilchen könnten Hinweise darauf liefern, wie sich das Standardmodell erweitern lässt.
Jenseits des Higgs-Bosons gibt es noch einen zweiten, allgemeineren Ansatz, erklärt Uwer. Er bestehe darin, »höchste Energien zu untersuchen, bei denen neue Effekte oder gar neue Teilchen direkt auftreten oder produziert werden können«. Die bisher höchsten Energien erreicht der LHC. »Mit dem derzeitigen Ausbauprogramm wird der LHC zusammen mit den Experimenten mindestens für das nächste Jahrzehnt das Flaggschiff des CERN bleiben«, sagt Pauss. Doch welche Maschine soll auf den LHC folgen, wenn er mit den geplanten Weiterentwicklungen voraussichtlich in den 2040er Jahren die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht und die offenen Fragen bis dahin nicht beantwortet sind?
7. Die Zukunft: So offen wie vor 70 Jahren
Ein möglicher Nachfolger am CERN ist der Future Circular Collider (FCC). Er würde mit bis zu 100 Kilometer Umfang den 27 Kilometer großen LHC deutlich übertreffen und in ganz neue Energiebereiche vorstoßen. »Beide Ansätze könnten mit dem FCC verfolgt werden«, sagt Uwer, »weshalb er derzeit von vielen als der ideale nächste Schritt gesehen wird.« Zunächst würden dort Elektronen mit ihren Antiteilchen zusammenstoßen. In dieser ersten Phase wäre diese FCC-ee genannte Maschine die gewünschte Higgs-Fabrik. »Die geladene Komponente dieses neuen Higgses könnte man wohl nicht am LHC, aber am FCC-ee sehen«, vermutet Crivellin. »Außerdem kann das FCC-ee die Genauigkeit vieler Präzisionsrechnungen um Größenordnungen verbessern und so indirekt neue Physik nachweisen.«
»Im zweiten Schritt könnte man den Tunnel und die Infrastruktur nutzen, um eine Hochenergie-Maschine zu bauen«, sagt Uwer. Die soll dann FCC-hh heißen, und dort würden Protonen zusammenstoßen wie heute beim LHC.
Das Problem: Anders als beim LHC ist es schwer vorherzusagen, was ein solcher Beschleuniger genau finden wird – und damit seinen Bau zu begründen. Uwer merkt an: »Natürlich wissen wir heute nicht, ob wir mit den vielen Messungen etwas völlig Neues finden – das ist aber eben die Eigenschaft von Wissenschaft!« »Teilchenphysik und die damit verbundene Erforschung von Neuland gehören zur menschlichen Kultur«, befindet Wulz, »genauso wie Astronomie, Musik, Kunst oder auch Sport.«
Dennoch läuft angesichts der zu erwartenden zweistelligen Milliardenkosten eine intensive Diskussion über den Sinn der Konstruktion und mögliche Alternativen. Der Ausgang ist noch offen. Deutschland hat im Sommer 2024 erklärt, es könne keine zusätzlichen Mittel für den FCC aufbringen. »Derzeit findet ein Strategieprozess der europäischen Teilchenphysik-Gemeinschaft statt, an dessen Ende sicherlich eine Empfehlung hinsichtlich des LHC-Nachfolgers stehen wird«, sagt Klaus Blaum. Ob das dann der FCC werde, sei abzuwarten. Allerdings betont der Forscher, für ihn stehe außer Frage, »dass in der Teilchenphysik eine Zukunftsanlage mit neuartiger Technologie wie beispielsweise auf Hochtemperatur-Supraleitern basierenden Magneten gebaut werden sollte«.
Crivellin hofft, dass »das CERN den leistungsfähigsten und besten Beschleuniger der Welt bauen wird, so dass auch in Zukunft Europa die treibende Kraft in der Teilchenphysik bleibt«. Laut Uwer gelte es auch, den »wertvollsten Schatz des Labors« zu sichern: »Die außergewöhnlich breite und in ihrer wissenschaftlichen Neugier geeinte Community« derjenigen, die am CERN arbeiten.
Entsprechend wünscht Uwer dem Labor, »dass es auch in einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen verschiedenen politischen Systemen wieder sehr viel angespannter werden, den offenen wissenschaftlichen Austausch und Diskurs bewahren kann«. Blaum würde die Welt gern »wieder in friedvollere Zeiten zurückkehren« sehen, »damit niemand von der Forschung am CERN ausgeschlossen werden muss«. Für Claudia Wulz soll das CERN »weiterhin ein Leuchtturm mit weltweiter Strahlkraft für die Menschheit und deren Zusammenarbeit bleiben«. Sie sagt: »Kein noch so reicher Staat kann Projekte von der Bedeutung, wie sie das CERN betreibt, allein durchführen.«
Ein Land versucht es: China hat verkündet, von 2027 an einen Teilchenbeschleuniger zu bauen, der ähnlich umfangreich und leistungsfähig sein soll wie der FCC. Das macht die Entscheidung nicht einfacher. Lohnt sich dann überhaupt noch ein vergleichbares Vorhaben in Europa? Oder sollte das CERN auf alternative Beschleunigerkonzepte setzen? Ist gerade Chinas Engagement ein Argument dafür, gleichzuziehen, um nicht beim technischen Knowhow zurückzufallen und führende Fachleute zu verlieren?
Solche Fragen erinnern an jene, die europäische Physiker Ende der 1940er Jahre gestellt haben. Erneut werden die Antworten darauf Europas Rolle in der Teilchenphysik für die kommenden Jahrzehnte prägen. Hoecker wünscht sich, »dass wir ebenso mutig voranschreiten, wie es die Gründungspersonen des CERN vor 70 Jahren vorgemacht haben«. Wohin der Weg auch führen mag.
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