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Teilchenphysik: "Die Physik marschiert weiter"

Am 4.Juli 2012 hat das CERN die bislang überzeugendsten Hinweise auf die Existenz eines neuen Elementarteilchens präsentiert. Sehr viel deutet darauf hin, dass es sich dabei tatsächlich um das lang gesuchte Higgs-Boson handelt. Eine Erfolgsgeschichte der Wissenschaft? Nicht unbedingt. Physik-Nobelpreisträger Martinus Veltman geißelt das Vorgehen seiner Genfer Kollegen im Spektrum.de-Interview sogar als "richtig doof".
Protonenkollision CERN

Herr Professor Veltman, Sie haben 2004 ein Buch über das Standardmodell der Teilchenphysik verfasst. Wenn Sie das Buch heute noch einmal schreiben müssten, was würde sich ändern?

Martinus Veltman: Wenn ich das Buch noch einmal schreiben würde, dann änderte sich daran nicht wirklich viel. Die Wissenschaft ist zeitlos, und ich habe schon damals über Leute geschrieben, die lange tot sind – Planck zum Beispiel. Etwa 80 bis 90 Prozent des Buchs gelten heute noch genauso wie vor ein paar Jahren. Aber ich würde einige Sachen ergänzen, die in den letzten Jahren passiert sind – zuvorderst natürlich die Suche nach dem Higgs-Boson.

Heute hat das CERN eine große Pressekonferenz abgehalten, um die neuesten LHC-Daten zu präsentieren. Wie sehen Sie diese Veranstaltung?

Martinus Veltman | ist niederländischer Physiker und wurde 1999 zusammen mit seinem früheren Studenten Gerardus 't Hooft mit dem Nobelpreis "für ihre entscheidenden, die Quantenstruktur betreffenden Beiträge zur Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung in der Physik" ausgezeichnet.

Was das CERN macht, ist meiner Meinung nach richtig doof. Es ist doch im Grunde genau das Gleiche wie mit den überlichtschnellen Neutrinos. Aus der Affäre sollten sie eigentlich gelernt haben. Wichtige Ergebnisse zu verkünden, ist Sache der Kollaborationen, ich verstehe nicht, warum das CERN extra Pressekonferenzen macht.

Das Higgs-Boson ist aber doch eine wichtige Entdeckung.

Zu den Aufgaben der Organisation gehört es, Wissenschaftlern die Gelegenheit zu ihren Experimenten zu geben und sie dabei zu unterstützen. Die CERN-Mitarbeiter selbst machen ja keine Versuche, sondern die Forscher, die von den Universitäten kommen. Aber wie ich jetzt in der "Sunday Times" gelesen habe, lud das CERN Leute ein, darunter Peter Higgs, um diese Pressekonferenz abzuhalten. Natürlich würden sie dann verkünden, dass sie jetzt das Higgs-Boson gefunden haben.

Im Grunde sind solche Veranstaltungen einfach Egotrips. In Wirklichkeit ist das alles nicht wichtig. Ich könnte mir nicht vorstellen, bei der Forschung auf so etwas zu achten – ich suche doch meine Themen nicht danach aus, ob ich damit in die Zeitung komme. Es ist überhaupt nicht wichtig, wer da wofür Öffentlichkeit bekommt. Die Physik schreitet voran und wird über all das hinweggehen.

Sollten sich also junge Wissenschaftler lieber zurückhalten und nicht versuchen, durch öffentliche Aufmerksamkeit in der Konkurrenz um Forschungsgelder und Posten besser dazustehen?

Ich persönlich habe nichts dagegen, dass junge Wissenschaftler versuchen, mit Pressekonferenzen und dergleichen Aufmerksamkeit für ihre Forschung zu erzeugen. Wissenschaft braucht Geld, aber die Menschen, die Wissenschaft finanzieren, wissen ja sehr genau, warum sie das tun. Forschung ist wichtig für die Gesellschaft. Und wir sollten uns nicht dafür schämen, dass wir für unsere Forschungen Geld benötigen und bekommen. Aber schauen Sie sich doch die Neutrinogeschichte an: Hat es den beteiligten Forschern etwas gebracht, auf diese Weise an die Öffentlichkeit zu gehen? Nein, im Gegenteil: Der Leiter der Kollaboration hat sich zurückziehen müssen. Und Nachwuchswissenschaftler müssen verstehen, dass Publicity zwei Seiten hat. Einerseits ist sie sehr positiv, aber wenn so etwas passiert wie bei den Neutrinos, hilft ihnen das auch nicht.

Wenn am LHC nun tatsächlich das Higgs-Boson entdeckt wurde: Wie geht es dann weiter?

Wenn es wirklich das Higgs-Boson ist, dann wird man anschließend seine Eigenschaften erforschen. Die Masse haben die Kollegen damit ja schon festgenagelt, das ist eine wichtige Sache. Anschließend müssen sie nach und nach alle möglichen Zerfallsprozesse des Teilchens untersuchen, um zu sehen, ob es sich gemäß den Vorhersagen verhält. Wie lange das dauert, weiß man nicht – sie fangen ja nicht bei null an, sondern sammeln seit geraumer Zeit ebenso Daten über andere Zerfallsreaktionen.

Aber das wirkliche Problem liegt ohnehin an anderer Stelle. Das Higgs-Boson ist ein dankbarer Untersuchungsgegenstand: Man sagt es voraus, macht ein großes Experiment, und am Ende findet man das Higgs. Aber die großen, wichtigen Fragen funktionieren nicht so einfach – etwa die Eigenschaften des Standardmodells, die drei Teilchengenerationen: Warum gibt es diese? Warum ist das so? Wir haben kein Experiment, das diese Fragen beantworten könnte. Ähnliches gilt für die Massen der Teilchen. Die Neutrinos sind sehr leicht, während Top-Quarks millionenfach schwerer sind. Wir wissen nicht, warum das so ist, und wir haben keine Versuche, die uns diese Frage beantworten können.

"Was das CERN macht, ist meiner Meinung nach richtig doof"

Was ist mit Ideen wie der String-Theorie?

Die String-Theorie ist ziemlich tot. Sie hat bis heute nichts dazu beigetragen, diese Fragen zu klären.

Und die Supersymmetrie?

Die Supersymmetrie hat ebenfalls nicht geliefert, was sie versprach. Es hieß vor einer Weile, wenn wir den Messbereich erweitern, finden wir Indizien für die Supersymmetrie. Aber das ist dann nicht passiert. Wir haben bis heute nichts, was auch nur annähernd danach aussieht.

Im Grunde zeigt sich dieses Muster bisher bei allen Beschleunigern. Sie wurden damit begründet, dass wir mit den dann möglichen neuen Messbereichen dieses oder jenes finden. Aber das geschah nie. Wenn sie jetzt das Higgs entdecken, ist der LHC meines Wissens die erste Maschine überhaupt, die tatsächlich das geliefert hat, wofür sie gebaut wurde. Eines muss man immerhin zugeben: Die Superstring-Theoretiker waren bisher stets sehr gut darin, ihre Theorien so zu modifizieren, dass sie die jeweiligen Probleme umschiffen. Möglicherweise schaffen sie es ja noch und belegen die Supersymmetrie. Aber vielleicht werden wir uns irgendwann auch damit abfinden müssen, dass wir gewisse Dinge experimentell nicht herausfinden können. Andererseits wird die Physik auch in Zukunft Schritt für Schritt ins Unbekannte vorstoßen. Und vielleicht bekommen wir dann doch noch unsere Antworten.

Herr Professor Veltman, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Lesen Sie mehr zum Thema in unserer aktuellen Meldung zur heutigen Bekanntgabe "Das schwerste Boson, das wir je gefunden haben" und unserem Hintergrundartikel "Das Gespenst von Genf wird greifbar".

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