Teilchenphysik: Eine neue Ära am CERN
Die große Tat ist schon vollbracht. Am 4. Juli 2012 verkündete das Europäische Kernforschungszentrum CERN, Sitz des größten und mächtigsten Teilchenbeschleunigers der Welt, des Large Hadron Collider (LHC), man habe ein Teilchen gefunden, das dem Higgs-Boson verblüffend ähnelt. Durch das Higgs kommt die Masse in die Welt. Je nachdem, wie stark die anderen Teilchen mit ihm in Wechselwirkung treten, sind sie schwerer oder leichter. Es ist das letzte fehlende Stück im Puzzle des Standardmodells der Elementarteilchen. Deshalb wird das Higgs-Teilchen – vorzugsweise von Journalisten, von Physikern eigentlich nie – auch als Gottesteilchen bezeichnet.
Doch wenn nun der Gottesbeweis in der Teilchenwelt schon geschafft ist, was soll man dann überhaupt noch erforschen? Warum hat man seit Anfang 2013 zwei Jahre am LHC gewerkelt, geschraubt, abgedichtet und gelötet, wenn man Gott schon gefunden zu haben glaubt? Was soll nun noch kommen? Was ist noch größer?
Beate Heinemann, stellvertretende Sprecherin bei ATLAS, einem der vier großen Detektoren auf dem 27 Kilometer langen Beschleunigerring, ist nicht sehr gottesfürchtig. Für sie beginnt jetzt erst die spannendste Phase der Forschung am CERN. "Wir haben die Antimaterie zu Beginn des letzten Jahrhunderts entdeckt. Vielleicht entdecken wir jetzt supersymmetrische Materie", sagte Heinemann bei einer Veranstaltung zum Neustart des LHC im Februar 2015 in San Jose, Kalifornien. Schon dieses Jahr könne es so weit sein. "Für den Sommer wird es vielleicht zu knapp, aber für den Spätsommer reicht es womöglich, wenn wir richtig viel Glück haben."
Die Suche nach Physik jenseits des Standardmodells, allem voran nach experimentellen Hinweisen auf die Existenz der Supersymmetrie, ist also das neue Ziel, das sich die Forscher am CERN gesetzt haben. Mit Hilfe der Supersymmetrie, die jedem Elementarteilchen im Standardmodell einen Partner verspricht, käme man den Antworten auf bisher ungeklärte Fragen näher: Aus was besteht die Dunkle Materie, die 85 Prozent der Masse des Universums ausmachen soll und die noch nie jemand gefunden hat? Was erklärt den großen Überschuss von Materie gegenüber der Antimaterie? Und warum ist das Higgs viel leichter, als es das Standardmodell vorhersagt?
Noch nie erreichte Energiebereiche
Um in jene Energiebereiche vorzustoßen, in denen möglicherweise eine neue Physik mit den entsprechenden Antworten wartet, hat der LHC eine Rundumerneuerung über sich ergehen lassen müssen. Die Protonen, die ab Ende März 2015 wieder in Paketen durch die evakuierten Röhren schießen sollen, werden künftig auf eine Energie von 6,5 Teraelektronvolt (TeV) beschleunigt. Beim Zusammenprall zweier Protonen aus den in den beiden Röhren gegenläufig kreisenden Paketen entsteht so eine Schwerpunktenergie von 13 TeV. Bislang lag der Rekord bei 8 TeV.
Nachdem sie aus Wasserstoff erzeugt wurden, durchlaufen die Protonen vier Vorbeschleuniger, bevor man sie in die Röhren des LHC eingespeist. Dort sorgen Hohlraumresonatoren mit extrem hochfrequent wechselnden elektrischen Feldern für den Schub. Die Protonenpakete, auch Bunches genannt, erreichen schließlich nahezu Lichtgeschwindigkeit. Ein Bunch ist über mehrere Zentimeter gestreckt, es enthält mehr als 100 Milliarden Protonen und ist dünner als ein menschliches Haar. Die auf 1,9 Kelvin gekühlten supraleitenden Dipolmagnete halten die Protonen im Ultrahochvakuum der Röhren auf ihrer Bahn, ihre Magnetfelder lenken sie um die Kurven. An vier Stellen des Rings befinden sich die großen Detektoranlagen: CMS, ATLAS, ALICE und LHCb. Dort kollidieren die Bunches, in den dabei entstehenden Trümmern suchen die Detektoren mit Hilfe ausgeklügelter Auswertungsalgorithmen nach Hinweisen auf interessante Physik.
"Der LHC ist jetzt fast eine neue Maschine"Frédérick Bordry, CERN
Nach der ersten langen Umbauphase, die im Februar 2013 begann, kreisen die Protonen-Bunches in Zukunft dichter in den Ringen als zuvor. Ihr Abstand wird sich auf 25 Nanosekunden halbieren. Höhere Spannungen an den Hohlraumresonatoren erlauben eine stärkere Beschleunigung und damit höhere Energien. Auf diese Umstände müssen die Dipolmagnete angepasst werden, damit die Protonen die Kurve kriegen. Wenn alles passt, werden so eine Milliarde Kollisionen pro Sekunde stattfinden, was die Wahrscheinlichkeit für interessante Funde deutlich erhöht.
Schon früher wollte man auf die bei der Planung des LHC anvisierte Kollisionsenergie kommen. Doch bei einem Test im September 2008 gab es einen schweren Zwischenfall. Ein Kurzschluss sorgte dafür, dass ein Behälter mit flüssigem Helium, das zur Kühlung der supraleitenden Magnete eingesetzt wird, an Druck verlor und die Temperatur stieg. Dadurch kam eine Kettenreaktion in Gang. Die nicht ausreichend gekühlten Magnete verloren ihre Supraleitfähigkeit. Die hohen Ströme in den Magneten trafen nun plötzlich auf elektrischen Widerstand und erwärmten sie weiter. Das Phänomen ist als "Quenching" bekannt. Dadurch verdampften etwa zwei Tonnen Helium explosionsartig und zerstörten dabei insgesamt 53 Magnete.
Langzeitpause nach Zwischenfall
Dieser Zwischenfall trat nur wenige Tage nach dem ersten erfolgreichen Umlauf eines Protonenstrahls um den Ring auf und sorgte für eine längere Unterbrechung für Reparaturen. Schließlich kam es erst am 23. November 2009 zur ersten Teilchenkollision am LHC. Als Ursache für das Quenching machten Experten eine schlecht verlötete elektrische Verbindung zwischen zwei Dipolmagneten aus. Und das hatte Konsequenzen. Wie sich herausstellte, konnte man ohne eine allgemeine Überprüfung aller 10 170 Verbindungen zwischen den 1232 Haupt-Dipolmagneten einen erneuten Zwischenfall nicht ausschließen. Jörg Wenninger vom LHC-Operationsteam erklärt den Schock: "Uns wurde klar: Um je auf die Designenergie zu kommen, müsste man alles aufreißen." Man beschloss den Ring bis zur ersten geplanten Langzeitpause nur mit etwa halber Energie zu fahren. Zunächst peilte man Kollisionen mit 7 TeV an, zum Schluss wagte man sich auf 8 TeV vor.
Während der zweijährigen Unterbrechung nahmen Wenninger und sein Team die nötige Überprüfung der mehr als 10 000 Verbindungen vor. Speziell fürs Löten ausgebildete Elektriker wurden an Dipolmagneten in einer oberirdischen Halle geschult, um sich an die beengten Verhältnisse des LHC zu gewöhnen. Häufig mussten sie dort im Liegen arbeiten. Magnet für Magnet gingen Teams die 27 Kilometer des Rings ab, versahen die Verbindungen mit einem Barcode-Aufkleber, damit keine übersehen würde, und eine nachfolgende Crew überprüfte die Qualität der Lötstellen. Gegebenenfalls wurde nachgebessert. Der Prozess dauerte eineinhalb Jahre und war der Hauptgrund für die Dauer der jetzigen Unterbrechung.
Währenddessen wurden auch 19 Magnete komplett ausgetauscht und die seit 2005 in Gebrauch befindliche Elektronik erneuert. "Bei einem zehn Jahre alten Computer bekommt man heute keinen Service mehr", sagt Wenninger. "Wir müssen daher unsere Systeme aktuell halten." Außerdem überprüften Wenninger und seine Kollegen das Kühl- und Vakuumsystem des LHC auf Lecks.
Lecks sind auch die größte Sorge von Wolfram Zeuner, Technischer Koordinator am CMS-Detektor. Der CMS-Detektor ist, ausgehend von der Stelle, an der sich die Röhren treffen und die Protonen-Kollisionen stattfinden, nach außen in mehreren Schichten aufgebaut, um die verschiedenen Bruchstücke möglichst sicher nachzuweisen. Während der Pause haben Zeuner und sein Team den inneren Teil des Detektors isoliert, um die Elektronik vor Eis und Kondensation aus der Wasserkühlung zu schützen. Der Grund für die verbesserte Kühlung: Durch die neuen höheren Strahlenergien und die größere Zahl an Kollisionen werden die Detektoren stärkeren Belastungen ausgesetzt. "Siliziumdetektoren haben kein ewiges Leben", sagt Zeuner. Doch ein gutes Kühlsystem kann Wärme abführen und das Leben der Detektoren verlängern.
Verbesserte Sicherheitssysteme
Genauso ungern wie Lecks sieht Zeuner auch Stromausfälle und -schwankungen: "Die sind sehr lästig, das mag so eine komplizierte Elektronik nicht." Besonders zwischen Ende Mai und Anfang Juli komme es in der Gegend um Genf häufig zu starken Gewittern. Wenn der Blitz einschlägt, schwanken die Stromnetze. Jeder kennt das gelegentliche Flackern der Lampen während eines Unwetters. Für die Steuerelektronik am LHC kann solch ein Flackern mit großen Schäden enden. Deshalb sorgen am CMS leistungsstarke Batterien als Puffer für einen "geordneten Rückzug", falls die Stromversorgung einbricht. Diese Sicherheitssysteme wurden im Rahmen der Umbauphase von Zeuner und seinem Team verbessert.
Das sind nur einige Beispiele für die Umbaumaßnahmen, die während der letzten zwei Jahre am CERN stattgefunden haben. "Der LHC ist jetzt fast eine neue Maschine", sagt Frédérick Bordry, Direktor für Beschleuniger und Technologie am CERN, gegenüber dem "Guardian". "Wir treten jetzt in eine andere Ära ein", bestätigt auch Wolfram Zeuner. "Der Druck, eine große Entdeckung machen zu müssen, ist mit dem Fund des Higgs abgefallen. Das größte und wichtigste Ziel ist jetzt die Untersuchung der Supersymmetrie-Hypothese."
Als mögliche supersymmetrische Teilchen, die man am neuen LHC finden könnte, gelten WIMPs. Diese Klasse von hypothetischen Elementarteilchen wurde ersonnen, um eine Lösung für das Problem der Dunklen Materie zu bieten. Wie ihr Name bereits besagt – WIMP steht für "weakly interacting massive particle" –, treten diese Teilchen kaum mit gewöhnlicher Materie in Wechselwirkung, besitzen aber Masse. Ein WIMP könnte als leichtestes supersymmetrisches Teilchen im Energiefenster liegen, das der LHC nach seinem Upgrade erreichen kann. Würde man leichte WIMPs entdecken, ließen sich quasi zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Man könnte den Nachweis für einen Vertreter der Supersymmetrie und einen Kandidaten für die Teilchen der Dunklen Materie liefern.
Außerdem kann der LHC mit seiner größeren Kollisionsrate die Ergebnisse zum Higgs bestätigen und genügend Daten für eine genauere Charakterisierung des Teilchens und seiner Eigenschaften liefern. Was die Frage des immensen Überschusses an Materie gegenüber der Antimaterie angeht – die nach der Theorie zu gleichen Teilen nach dem Urknall entstanden sein müssten –, könnte der LHCb-Detektor interessante Ergebnisse liefern. Dort konzentriert man sich auf den Nachweis und die Untersuchung des Beauty-Quarks und seines Antimaterie-Partners, des Anti-Beauty-Quarks. Diese Teilchen eignen sich besonders gut für einen Abgleich der Eigenschaften von Materie und Antimaterie. Um kleine Unterschiede zwischen den Materietypen festzustellen, müssen große Mengen sehr präziser Daten aus den Protonen-Kollisionen vorliegen. Mit seiner neuen Leistungsfähigkeit kann der Teilchenbeschleuniger diese Daten liefern, hoffen die Forscher. Am 23. März wollen sie den neuen LHC an den Start bringen.
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