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Teilchenphysik: Neutrinos sind schlechter zu deuten als gedacht

Modelle, die zur Auswertung von Experimenten mit Neutrinos dienen, sind überraschend lückenhaft. Das zeigte sich nun bei einer Überprüfung der Berechnungen mit Hilfe von Elektronen.
Symbolbild: Neutrinos als blaue Lichtreflexe vor schwarzem Hintergrund

Unter den bekannten Elementarteilchen sind Neutrinos am schwierigsten zu beobachten, denn die allermeisten von ihnen durchdringen jedwede Materie spurlos. Extrem selten trifft ein Exemplar auf einen Atomkern und erzeugt bei dem Zusammenstoß andere Teilchen. Aus diesen lassen sich dann indirekt Rückschlüsse auf die ursprünglichen Eigenschaften des unsichtbaren Neutrinos ziehen. Nun deutet allerdings eine Untersuchung darauf hin, dass das nicht so gut funktioniert wie gedacht.

Neutrinos gelten als Schlüsselobjekte dafür, Schwächen im so genannten Standardmodell der Teilchenphysik aufzuspüren. Denn gemäß diesem dürften Neutrinos theoretisch gar keine Masse haben. Allerdings ist genau das laut zahlreichen Experimenten aus den letzten Jahrzehnten der Fall: Die drei bekannten Arten von Neutrinos wandeln sich ineinander um, und derlei quantenmechanische »Oszillationen« sind nur Masse tragenden Teilchen möglich. Genauere Vermessungen der Neutrinooszillation könnten Hinweise auf lang gesuchte Erweiterungen des Standardmodells geben. Deswegen sollen mehrere laufende und geplante Experimente präzisere Daten dazu liefern, wie schnell sich ein Neutrino eines Typs in das eines anderen umwandelt.

Eine bewährte Strategie dafür ist es, an einem Ort Neutrinos in großer Zahl zu erzeugen, das geschieht etwa als Nebenprodukt der Reaktionen in Kernkraftwerken, und an anderen Stellen auf der Erde einige davon in Detektoren einzufangen. Diese enthalten typischerweise große Mengen hochreiner Stoffe, bei denen der gelegentliche Aufprall eines Neutrinos auf einen Atomkern einen charakteristischen Lichtblitz oder ähnliche Signale auslöst. Solch ein Labor kann man beispielsweise in der Nähe eines Atomkraftwerks bauen und dort messen, wie viele Neutrinos einer Art hindurchlaufen. In gleicher Richtung stellt man dann mit einem zweiten, weit entfernten Instrument fest, wie viele noch übrig sind. Der Rest muss sich auf der Reise dorthin in eine andere Sorte umgewandelt haben.

Wie gut die aktuellen Modelle funktionieren, lässt sich nur schwer überprüfen

Wie stark ein Neutrino zwischen verschiedenen Zuständen oszilliert, hängt von der zurückgelegten Entfernung sowie von seiner Energie ab. Erstere lässt sich leicht messen, Letztere hingegen nur indirekt bestimmen. Dazu braucht man Modelle über die Wechselwirkung mit einem Atomkern, die Art der Teilchen, die dabei entstehen und die Richtungen, in die sie fliegen. Das ausgeklügelte Formelwerk hilft, die Signale in den Detektoren zu interpretieren und auf die Energie des auslösenden Neutrinos zu schließen.

Neutrinos entstehen etwa während der Kernzerfälle in einem Atomkraftwerk auf fundamental zufällige Weise

Doch es ist praktisch schwer überprüfbar, wie gut die Modelle für ein bestimmtes Experiment überhaupt funktionieren. Schließlich lassen sich nicht einfach Neutrinostrahlen mit bekannter Energie erzeugen, um daran die Apparaturen zu kalibrieren und zu schauen, wie treffend die Vorhersagen der Computerprogramme für genau diese Energie sind. Vielmehr entstehen Neutrinos etwa während der Kernzerfälle in einem Atomkraftwerk auf fundamental zufällige Weise. Hieraus geht ein breites Spektrum an Energien hervor. Unter den speziellen Bedingungen jedes Versuchsaufbaus müssen die zahlreichen unbestimmten theoretischen Parameter angepasst werden, bis die Ergebnisse in sich schlüssig erscheinen. Dort lauern viele Fehlerquellen, die für Unsicherheiten bei der Interpretation der Daten sorgen.

Von Elektronen auf Neutrinos schließen

Es wäre praktisch, wenn man die Grenzen der gängigen Modelle ausloten könnte, indem man dafür als Alternative zu Neutrinos vergleichbare, aber deutlich leichter kontrollierbare und reichlich verfügbare Teilchen benutzt. Den Gedanken hat eine Gruppe um die US-Teilchenphysikerinnen Afroditi Papadopoulou und Mariana Khachatryan ausgearbeitet und geschickt umgesetzt. In einer Veröffentlichung vom November 2021 berichtet das Team nun, wie es statt der kaum fassbaren Neutrinos die gut vertrauten Elektronen zur Überprüfung der Modelle heranzog. Trotz aller Unterschiede – Elektronen sind geladen und wesentlich schwerer – sind beide Teilchenarten miteinander verwandt, und Papadopoulou und Khachatryan konnten die zu erwartenden Interaktionen von Neutrino- auf Elektronenstrahlen umrechnen. Denn die eigentlichen Schwierigkeiten bei der Anwendung der Formeln stecken beim Verhalten der Bestandteile des getroffenen Atomkerns. Doch das ist in beiden Fällen mathematisch ähnlich, egal, mit welchem Mitglied der Teilchenfamilie sie beschossen wurden, abgesehen von Korrekturen für die unterschiedliche Stärke der Wechselwirkungen.

Falls das Modell für die Neutrinos also deren Ursprungsenergien richtig ermittelt, sollte es nach entsprechend sorgfältigen Umrechnungen auch für Elektronen passende Werte liefern. Die Forscherinnen nahmen sich die Daten eines Experiments vor, bei dem am Jefferson Lab im US-Bundesstaat Virginia systematisch Elektronenstrahlen verschiedener Energien auf Atomkerne geschossen und die dabei entstehenden Teilchen umfassend vermessen wurden. Hier waren Helium-, Kohlenstoff- und Eisenkerne von Interesse, die mit den Zielobjekten in verschiedenen Neutrinodetektoren vergleichbar sind. Auch die gewählten Elektronenenergien entsprechen denen typischer Neutrinoexperimente. Außerdem beschränkten die Physikerinnen ihre Analyse auf einfach zu interpretierende Ereignisse, um mögliche Fehlerquellen zu reduzieren.

Trotz des beträchtlichen Aufwands war die Bilanz ernüchternd: Die Modelle schnitten sehr schlecht dabei ab, innerhalb eines Toleranzkorridors von fünf Prozent die korrekten Energien der Elektronenstrahlen zu liefern. Das gelang insgesamt bei weniger als der Hälfte der Ereignisse, bei den Kohlenstoffkernen nur in etwa einem Drittel aller Fälle, beim Eisen kaum zu einem Viertel.

Das theoretische Verständnis von den Wechselwirkungen der Neutrinos ist offenbar selbst in den Bereichen ausbaufähig, die bislang recht gut erfasst schienen. Die genauen Ursachen der Diskrepanz gilt es nun zu ergründen, damit die Modelle zuverlässiger werden. Das sei gerade jetzt wichtig, betont das Team mit Blick auf geplante Untersuchungskampagnen mit im Bau befindlichen Großanlagen: »Nun, da wir in eine Ära der Präzisionsmessungen an Neutrinos eintreten, wird es entscheidend sein, die Modelle ebenso genau und zuverlässig zu machen.« Denn je besser die Rohdaten von zukünftigen Detektoren werden, desto wichtiger ist es, Ungenauigkeiten in den Modellen zu deren Auswertung beseitigen. Sonst verschwindet die eigentlich angestrebte Präzision unter dicken Fehlerbalken und lässt unnötig viel von den ohnehin mysteriösen Neutrinos im Dunklen.

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