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Teilchenphysik: Protonen sind deutlich komplexer als gedacht

Lange sah man Protonen Zusammenschluss einzelner Quarks und Gluonen an. Doch die Realität ist viel komplizierter – wegen eines Quantenphänomens.
Eine Kugel mit Geschwurbel drum herum
Die Quarks und Gluonen innerhalb eines Protons sind miteinander verschränkt – das macht ihre Beschreibung viel schwieriger.

Forschende haben einen tiefen Blick ins Innerste unserer Welt gewagt: über Moleküle und einzelne Atome bis hin zu den einzelnen Bausteinen des Atomkerns, die Protonen und Neutronen. »Jahrzehntelang haben wir das Proton als eine Ansammlung von Quarks und Gluonen betrachtet und uns auf das Verständnis der einzelnen Teilcheneigenschaften konzentriert «, sagte der Physiker Zhoudunming Tu vom Brookhaven National Laboratory. Doch sein Team hat nun in einer bei »Reports on Progress in Physics« erschienenen Arbeit gezeigt, dass diese Auffassung falsch ist. Denn die Grundbausteine des Protons, die Quarks und Gluonen, sind durch ein Quantenphänomen untrennbar miteinander verbunden und lassen sich nicht als einzelne Einheiten beschreiben.

Die Quantenwelt ist alles andere als intuitiv. Teilchen können sich an mehreren Orten gleichzeitig befinden, benehmen sich mal wie eine Welle, mal wie ein punktförmiges Objekt – und gewisse Größen sind mit grundlegenden Unschärfen behaftet, die selbst ein perfektes Labor nicht auflösen kann. Ein besonders seltsames Quantenphänomen ist das der Verschränkung: Mehrere Teilchen können sogar über weite Distanzen hinweg miteinander verbunden sein, um ein Quantenobjekt zu bilden, das sich durch eine einzige Wellenfunktion beschreiben lässt. Zwei verschränkte Teilchen verhalten sich daher völlig anders als zwei voneinander unabhängige Teilchen.

Das war auch den theoretischen Physikern um Tu bewusst. Sie wollten herausfinden, ob die Teilchen innerhalb eines Protons verschränkt sein könnten – was unser bisheriges Verständnis des Protons völlig verändern würde. Dieses verschränkte Proton-Bild würde sich insbesondere bei Kollisionen in Teilchenbeschleunigern bemerkbar machen. Allerdings ist es ziemlich schwer, die theoretisch beobachtbaren Konsequenzen einer solchen Verschränkung aus den mathematischen Modellen abzuleiten: Die Gleichungen sind so komplex, dass Fachleute stets auf Vereinfachungen angewiesen sind, die nicht immer ein verlässliches Ergebnis liefern.

Die Entropie als Lösung

Doch die Forscher fanden eine Möglichkeit, um ihre Hypothese zu testen. »Die Entropie ›kümmert‹ sich nicht um die Komplexität aller Zwischenschritte. Wir können diesen Ansatz nutzen, um andere komplexe kernphysikalische Phänomene zu erforschen, ohne uns um die vielen Details zu kümmern«, erklärt Tu. Die Entropie ist eine Größe, die sich auch als »Maß für Unwissenheit« (und manchmal auch als »Unordnung«) deuten lässt. Wenn beispielsweise zwei Teilchen in einem Beschleuniger zusammenknallen, entstehen dabei teilweise so große Energien, dass viele neue Partikel entstehen. Wenn diese geordnet entlang einer oder zweier Flugbahnen detektiert werden, dann ist die Entropie klein. Denn in diesem Fall liefert ihre Flugrichtung Hinweise auf die Vorgänge, die sich während der Kollision abgespielt haben. Wenn die detektierten Partikel hingegen breit gefächert sind, gibt es viele mögliche Szenarien, die abgelaufen sein könnten – die Unwissenheit und damit die Entropie sind entsprechend groß.

Die Quanteninformationstheorie ermöglicht es Physikern, Größen wie die Entropie auf Quantenebene zu untersuchen. Und wie Dmitri Kharzeev vom Brookhaven Lab im Jahr 2017 in einer theoretischen Arbeit gezeigt hat, hängt die Entropie von entstehenden Teilchen in Beschleunigern davon ab, wie stark die ursprünglichen Partikel – etwa die Quarks und Gluonen innerhalb eines Protons – miteinander verschränkt sind. Je stärker die Verschränkung, desto größer die Entropie, rechnete Kharzeev aus.

In den folgenden Jahren werteten Kharzeev, Tu und ihre Kollegen Messdaten, die in Teilchenbeschleunigern gesammelt wurden, aus, um auf die Verschränkung innerhalb eines Protons zu schließen. Zunächst nahmen sich die Forscher die Ergebnisse vom Large Hadron Collider am europäischen Kernforschungszentrum CERN vor, wo Protonen gegeneinandergeschmettert werden. Die Fachleute nutzten aber auch ältere Messungen vom Hadron-Electron Ring Accelerator, der bis 2007 in Hamburg in Betrieb war und in dem Elektronen mit Protonen kollidierten.

»Verschränkung findet nicht nur zwischen zwei Teilchen statt, sondern zwischen allen Teilchen«Dmitri Kharzeev, Physiker

Und tatsächlich passten die Daten hervorragend zu den Vorhersagen für den Fall, dass Quarks und Gluonen innerhalb von Protonen verschränkt sind. Das bedeutet, dass Protonen offenbar viel komplexer aufgebaut sind als bisher angenommen. Zudem sind die Quarks und Gluonen höchstwahrscheinlich nicht bloß paarweise miteinander verbunden. »Verschränkung findet nicht nur zwischen zwei Teilchen statt, sondern zwischen allen Teilchen (im Proton)«, sagt Kharzeev.

Das ist der Grund, weshalb die Forschenden künftig untersuchen möchten, ob die Quarks und Gluonen auch über einzelne Protonen hinaus – also im gesamten Atomkern – miteinander verschränkt sind. »Die Erforschung von Verschränkung im gesamten Kern wird uns definitiv mehr über das Quantenverhalten an sich verraten«, sagte Tu. Er hofft, auf diese Weise grundlegende Fragen der Kernphysik beantworten zu können. Und wer weiß, vielleicht erweist sich auch unsere bisherige Vorstellung des Atomkerns als falsch.

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  • Quellen
Tu, Z. et al.: QCD evolution of entanglement entropy. Reports on Progress in Physics 87, 2024

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