Materialwissenschaften: Theorie für rasende Risse
Ratsch - ein Riss zieht sich durch eine zuvor gleichmäßige Oberfläche. Nicht nur Physiker hätten gern eine genaue Vorstellung davon, was dabei auf atomarer Ebene vor sich geht. Aufwändige Computersimulationen zeigen nun, dass manches doch nicht so einfach ist wie bislang vermutet.
Seit Jahrzehnten versuchen Forscher, die Ausbreitung von Rissen in Materialien zu beschreiben. Sicher ist: Wenn das passiert, dann trennen sich Atome voneinander, und es entstehen neue Oberflächen. Diese sind spiegelglatt, wenn der Riss nur langsam vorankommt, wie Experimente zeigten. Schnellere Risse lassen die Oberflächen dagegen immer unregelmäßiger werden, bis der Riss sich schließlich verzweigt. Dieses Verhalten – dynamische Bruchinstabilität genannt – lässt sich in vielen spröden Materialien beobachten, unter anderem in Metallen, Polymeren oder Halbleitern.
Seit einigen Jahren ist daher klar, dass man bei der Entstehung solcher Phänomene die Atome in die Erklärung einbeziehen muss – doch es blieb ein Rätsel, wie. Welche Physik spielt dabei im Detail eine Rolle? Wie kann man die Geschwindigkeit der Rissausbreitung berechnen? Die existierenden Modelle standen nicht im Einklang mit der Realität oder Computersimulationen und widersprachen sich bisweilen sogar.
Nun hat ein Team um Markus Buehler und Huajian Gao auf der Basis von Computerexperimenten ein Modell entwickelt, das die Ausbreitung der Risse erfolgreich beschreiben kann – und zwar in einer Vielzahl spröder Materialien. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass in der dynamischen Bruchinstabilität mehrerer Prozesse zusammenspielen, die alle zusammen vom Energiefluss und dem Spannungsfeld in der direkten Umgebung der Rissspitze gesteuert werden. Anders, als man bisher dachte, hat die Bruchinstabilität nichts mit etwaigen vorher vorhandenen Defekten in den Materialien zu tun, sondern tritt auch in absolut regelmäßigen Materialien auf.
"Wir haben entdeckt, dass sich die Ungereimtheiten in der Literatur lösen lassen, wenn man das Verhalten des Materials beim Aufbrechen der atomaren Bindungen betrachtet, anstatt nur Materialeigenschaften unter kleinen Zugbelastungen in die Rechnungen einzubeziehen, wie es bislang geschah", so Buehler. "In Spezialfällen geht unsere neue Theorie in bestehende Modelle über. Sie erlaubt aber eine einheitliche Behandlung des Instabilitätsproblems bei einer viel größeren Klasse Materialien."
Die kleinen Zugbelastungen, auf die man in den herkömmlichen Modellen setzte, führten zu einem einfachen, linearen Zusammenhang zwischen Zugspannung und Materialbeanspruchung. Der war zwar leicht zu berechnen, erwies sich aber besonders an der Spitze eines Risses als falsch. Denn hier tritt "nichtlineare Elastizität" ("Hyperelastizität") auf: Wegen der großen Spannungen auf engstem Raum spielen quantenmechanische und atomare Eigenschaften der Materialien an der Spitze des Risses plötzlich eine wichtige Rolle. Sie machen die Rechnung nicht nur nichtlinear, sondern beherrschen sogar die Ausbreitung des Risses.
In das Modell lassen sich auch ungewöhnliche Änderungen der Elastizität an der Spitze des Risses integrieren. So verändert sich zum Beispiel in bestimmten Materialien die Elastizität mit der Deformation – Gummi etwa ist weich, wenn man ihn wenig dehnt, bei starker Dehnung wird er dagegen hart. Daher wird die Deformationsenergie, die beim Reißen auftritt, je nach Deformation unterschiedlich stark geschluckt. Die neue Theorie zeigt: In solchen Materialien können sich Risse schneller als der Schall ausbreiten. Dies steht im Widerspruch zu allen gängigen Theorien, ist aber im Einklang mit den neu entwickelten Konzepten. Überschallrisse wurden kürzlich auch im Experiment entdeckt – die neue Theorie könnte als Erklärung dafür dienen.
Die Wissenschaftler vermuten, dass ihre neue Theorie auch in anderen Größenordnungen und Anwendungsbereichen eine Rolle spielen könnte. So könnten etwa Materialforscher die Rissausbreitung in Nanomaterialien untersuchen oder Architekten mit ihrer Hilfe die Rissentstehung in Gebäuden beschreiben. Auch Geophysiker könnte das Modell interessieren: Risse und ihre Ausbreitung spielen eine wichtige Rolle in der Erforschung von Erdbeben.
© Max-Planck-Gesellschaft
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