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Thermodynamik: Elektronen in Graphen gefrieren beim Erhitzen

Verdreht man zwei Lagen Graphen im »magischen Winkel«, treten allerlei seltsame Effekte auf. So auch diese - scheinbare - Verletzung der Regeln der Thermodynamik.
Graphengitter

Normalerweise taut Gefrorenes auf, wenn man es erhitzt. Doch in diesem speziellen Fall ist es genau andersherum: Die Elektronen in zwei gegeneinander verdrehten Schichten aus Graphen frieren bei Wärmezufuhr ein, berichtet ein Team um Andrea Young von der University of California in Santa Barbara. Wie die Arbeitsgruppe in »Nature« schreibt, passiert das, wenn die beiden Graphenlagen um jenen »magischen Winkel« von etwa 1,1 Grad verdreht sind, bei dem eine solche Anordnung supraleitend wird – und die Energieniveaus mit genau der richtigen Menge Elektronen besetzt sind.

Erwärmt man diese üblicherweise elektrisch leitende Anordnung über etwa zehn Kelvin, werden die beweglichen Elektronen, die man als »Fermi-Flüssigkeit« bezeichnet, plötzlich unbeweglich: Sie frieren ein. Das ist nicht nur eine Metapher. Laut der Arbeitsgruppe von Young handelt es sich um einen echten Phasenübergang. Der Effekt entspricht demnach dem Pomerantschuk-Effekt in Helium-3, das ebenfalls unter speziellen Bedingungen beim Erwärmen gefriert.

Hinter der kuriosen Eigenschaft stecken die besonderen Eigenschaften des im »magischen Winkel« verdrehten Graphens. Die Drehung erzeugt nicht nur ein hübsches Moiré-Muster, sondern auch eine außergewöhnliche elektronische Struktur mit einem sehr flachen Energieband. Dadurch haben die Elektronen nur wenig Bewegungsenergie, während sie sehr stark miteinander wechselwirken. Die stark korrelierten Elektronen sind für die speziellen Eigenschaften der verdrehten Doppelschicht verantwortlich: Je nachdem, wie dicht die Energieniveaus mit Elektronen besetzt sind, wird sie entweder supraleitend oder zum Isolator. Der Pomerantschuk-Effekt tritt zum Beispiel bei einer Elektronenbesetzung auf, die nahe an einem isolierenden Zustand liegt.

Moiré-Muster mit Graphen | Zwei übereinanderliegende Gitter erzeugen einen Moiré-Effekt – so auch zwei Lagen Graphen. Ist der Winkel zwischen ihnen genau richtig, bringen sie kuriose Effekte hervor, zum Beispiel Supraleitung.

Der Effekt selbst basiert auf einer kuriosen Umkehrung der Verhältnisse. Normalerweise hat eine Flüssigkeit eine höhere Entropie als der zugehörige Festkörper – und höhere Temperaturen begünstigen Zustände mit höherer Entropie. Deswegen schmelzen Dinge beim Erwärmen. Beim Pomerantschuk-Effekt jedoch verhalten sich die Entropien von Feststoff und Flüssigkeit genau umgekehrt. Das kann passieren, wenn ein System eine weitere Eigenschaft hat, in der die Entropie steigen kann – und dadurch die geringere Entropie des gefrorenen Zustands gegenüber der Flüssigkeit ausgleicht.

Beim »klassischen« Pomerantschuk-Effekt im Helium-3 sind das die Spins der Atome, deren Gesamtentropie im festen Helium höher ist als in der Flüssigkeit. Ein sehr ähnlicher Effekt verursacht auch das »Einfrieren« der Elektronen im verdrehten Graphen. Diese besitzen eine als Isospin bezeichnete Kombination aus Spin und einem weiteren Freiheitsgrad, deren Ausrichtung von der Wechselwirkung der Elektronen abhängt.

In der Fermi-Flüssigkeit der leitenden Elektronen ist die Ausrichtung der Isospins stark eingeschränkt: Für jeden Isospin in die eine Richtung muss es einen Isospin in die entgegengesetzte Richtung geben, so dass die Summe aller Isospins null ist. Das ist in den »gefrorenen« Elektronen im Graphen anders, berichtet das Team um Young. Dort sind die Isospins ungefähr gleich ausgerichtet, können aber machen, was sie wollen, solange sie ganz grob in die gleiche Richtung zeigen. Das heißt, die Isospins der gefrorenen Elektronen haben eine recht hohe Entropie – sie gleichen die niedrigere Entropie des Elektronengitters im Vergleich zur Flüssigkeit mehr als aus.

Eine ganze Reihe von Fragen sind dabei noch offen. Zum Beispiel ist bisher kaum etwas über die Eigenschaften der Isospins bekannt oder wie der Phasenübergang beim Gefrieren tatsächlich abläuft. Der kuriose Phasenübergang interessiert Fachleute aber keineswegs bloß um seiner selbst willen. Die seltsamen elektronischen Phänomene der verdrehten Graphenschichten, so die Hoffnung, könnten irgendwann Licht auf das nach wie vor größte Rätsel der Festkörperphysik werfen: den Mechanismus der Supraleitung.

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