Thüringen: Den Nazis näher als der SPD
Der »Vorwärts« schäumte vor Wut. Ein »Putschist«, ein »Irrsinniger« sitze seit gestern in der Thüringer Landesregierung, ein Verleumder, ein Eidbrüchiger. Von »Rowdys der allerübelsten Sorte« schrieb die SPD-Zeitung. Und nicht zuletzt: von einer Kampfansage an die Deutsche Republik.
Es war 1930. Der Kampf war nicht angesagt, er war längst in vollem Gang. Nur noch drei weitere Jahre würde die Weimarer Republik standhalten gegen Hitler und seine NSDAP. Warum die gemäßigten Kräfte diesen Kampf auf ganzer Linie verloren, das offenbaren auch die Ereignisse, die der »Vorwärts« hier so aufgeregt kommentierte: Einen Tag vor Erscheinen des Artikels, am 23. Januar 1930, war mit Wilhelm Frick erstmals ein NSDAP-Politiker in ein Ministeramt in Deutschland gewählt worden. In der Thüringer Landesregierung hatte soeben eine Art Generalprobe für die »Machtergreifung« 1933 begonnen.
Noch aber gilt der Zorn der »Vorwärts«-Redaktion weniger dem neuen Innenminister als den Abgeordneten der gemäßigt-bürgerlichen Parteien. Hatten diese doch den Nazi Frick ins Amt gewählt – und sich dazu bereitwillig verbogen: Dass Frick einmal den früheren Reichskanzler, Außenminister und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann als vom Ausland bezahlten Agenten verunglimpft hatte? Nurmehr eine »Entgleisung«, nicht der Rede wert, finden auf einmal die Thüringer Abgeordneten von Stresemanns eigener Partei, der Deutschen Volkspartei (DVP). Dass Frick ein verurteilter Putschist war, der 15 Monate Festungshaft als Strafe für seine Beteiligung am Hitlerputsch von 1923 erhalten hatte? Vergeben und vergessen. Es schien ihn jedenfalls nicht für den Posten des Staatsministers für Inneres zu disqualifizieren.
Dabei war die NSDAP im Januar 1930 noch weit von ihrer künftigen Stärke entfernt, im Berliner Reichstag dümpelte sie als Kleinstfraktion dahin. Der große deutschlandweite Durchbruch sollte erst noch kommen.
In Thüringen aber, dem Land, das die Nazis als ihren »Mustergau« bezeichneten, krönten sie ihren Erfolg bei der zurückliegenden Landtagswahl mit der ersten Regierungsbeteiligung. Wer will, kann darin auch einen Musterfall für den gescheiterten Umgang mit rechten Extremisten sehen.
Die Krise dämmert herauf
Bei ihrem Erfolg habe den Nazis sicher auch der Zufall unter die Arme gegriffen, schreibt Steffen Raßloff, Thüringer Landeshistoriker und Autor von »Geschichte Thüringens« sowie einer 2015 erschienenen Monografie über Thüringen zur Zeit des Nationalsozialismus. Zum Wahltermin Ende 1929 hatte Deutschland bereits die ersten Folgen des internationalen Börsencrashs und der damit einsetzenden Weltwirtschaftskrise zu spüren bekommen. Die aufkommende Sorge vor dem Zusammenbruch konnte die NSDAP offenkundig in Wählerpotenzial ummünzen. Das erkläre zum Teil ihr Emporschnellen bei den Landtagswahlen im Dezember 1929, die Wilhelm Frick den Ministerposten bescherte, meint Raßloff: Die Partei verdreifachte ihr Ergebnis von zuvor 3,5 Prozent auf nun 11,3 Prozent.
Doch Zufall und Wirtschaftskrise waren mitnichten die einzigen Gründe für den Erfolg. Ein weiterer – in Thüringen hausgemachter – Grund liegt in einer Episode, die sich fünf Jahre zuvor ereignet hatte: Als die Landtagswahl von 1924 keine eindeutige Regierungsmehrheit erbrachte, erklärten sich die Nationalsozialisten bereit, eine rechtsbürgerliche Minderheitsregierung durch Tolerierung mitzutragen. Diesen Dienst ließen sie sich anschließend teuer bezahlen. Unter anderem erwirkten sie, dass Thüringen als erstes Land im Deutschen Reich das wegen des Hitlerputsches gerade erst verhängte NSDAP-Verbot wieder aufhob.
Die Nazis, die in Gestalt des Wahlbündnisses »Vereinigte Völkische Liste« angetreten waren, verwandelten sich prompt in die NSDAP zurück. Und auch Hitler durfte, kaum aus der Festungshaft entlassen, in der er nach seinem gescheiterten Umsturzversuch wegen Hochverrats saß, in Thüringen wieder öffentlich auftreten. Folgerichtig fand der erste Reichsparteitag 1926 im thüringischen Weimar statt, wo die Partei in neuer Geschlossenheit und straff ausgerichtet auf ihren »Führer« aufmarschierte. Statt im Münchner Bierkeller hielt Hitler nun im Deutschen Nationaltheater seine Hetzreden, dem Gründungsort der von ihm so verhassten Weimarer Republik. Das verschaffte Aufmerksamkeit, das machte den damals kaum über Bayern hinaus bekannten rechtsradikalen Politiker populär und respektabel.
Ein Ministeramt belohnt fünf Jahre Vorarbeit
Als die NSDAP fünf Jahre später erneut zur Landtagswahl antrat, konnte sie auf eine breite Basis im Land bauen. Die Hoffnungen der Mitte-rechts-Parteien, durch Anbiedern an die Extremisten zu deren politischem Verschwinden beizutragen, hatten sich zerschlagen. Mit nunmehr 11,3 Prozent unter dem Gürtel ließen sich die Nazis nicht mehr mit einer Tolerierung abspeisen. Ein eigenes Ministerium musste her, andernfalls hätte Hitler die Zusammenarbeit im Land aufgekündigt und damit wohl Neuwahlen ausgelöst. »Und diese wollten die Parteien rechts der SPD unbedingt vermeiden, da sie einen noch größeren Machtverlust befürchteten«, erklärt Christian Faludi, Leiter der Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte (GEDG) in Weimar.
Denkbar wäre allerdings auch eine dritte Option gewesen. Doch Hitler wusste ebenso gut wie die Abgeordneten, dass sie nicht in Erwägung gezogen werden würde. Die bürgerlichen Parteien hätten Frick und seine Nazitruppe außen vorlassen und stattdessen mit der SPD eine Regierung bilden können.
Rein rechnerisch bestand diese Möglichkeit, folglich sei die Entscheidung zur Koalition mit der NSDAP »weder zwingend noch unvermeidbar« gewesen, urteilt Marc Bartuschka, ebenfalls von der GEDG. Mit 32 Prozent waren die Sozialdemokraten stärkste Kraft im Parlament, man hätte ihnen nach heutigen Gepflogenheiten sogar die Aufgabe zur Regierungsbildung übertragen müssen. Doch das geschah nicht.
Im Gegenteil. Im Verlauf der 1920er Jahre war die SPD in Thüringen immer stärker isoliert worden. Selbst bei den Kommunisten der KPD, die mit knapp elf Prozent nur unwesentlich schlechter dastanden als die NSDAP, kam sie nicht als Partner in Frage.
Aus der SPD war eine Unberührbare geworden
Zu Beginn des Jahrzehnts hatte das noch anders ausgesehen. Von 1921 bis 1923 hatten SPD und Kommunisten zusammengearbeitet und kurzzeitig koaliert, gipfelnd in der so genannten Einheitsfrontregierung im Herbst 1923, in der Minister von SPD und KPD ausgesprochen linke Politik in Thüringen machten. Die Bürgerlichen sahen bereits die von Moskau gesteuerte kommunistische Revolution heraufdämmern. Das war nicht ganz abwegig, Kommunisten hatten in der Tat auch bewaffnete, so genannte Proletarische Hundertschaften gegründet und vom »deutschen Oktober« nach dem Vorbild der russischen Revolution vom Oktober 1917 geträumt.
Da sah Berlin rot. Reichspräsident Friedrich Ebert von der SPD und Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) gaben vor, einem kommunistischen Aufstandsversuch begegnen zu müssen, und schickten Truppen ins Land. Auch Sachsen, wo ebenfalls eine SPD/KPD-Koalition an der Regierung war, traf eine solche »Reichsexekution« genannte Maßnahme. Unter der Macht der Bajonette traten die KPD-Minister der demokratisch gewählten Einheitsfrontregierung zurück.
Danach, so sagt es der Thüringer Landeshistoriker Steffen Raßloff, sei die SPD für die Bürgerlichen als Koalitionspartner verbrannt gewesen.
Wie angemessen das Einschreiten der Reichsregierung war, darüber sind sich die Historiker uneins. Für Bartuschka war es »mehr als fragwürdig und unverhältnismäßig«, auch wenn die KPD-Milizen »ein gewisses Gefährdungspotenzial« hatten. Aber: »Sie waren keineswegs eine kampfbereite Bürgerkriegs- und Umsturzarmee, wie auf bürgerlicher Seite gerne kolportiert.«
Für Faludi hingegen war die Maßnahme »in der Summe aller Krisen von 1923 kaum zu vermeiden, um die Republik zu schützen«. Monate zuvor hatte Frankreich im Streit um Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzt, hatten Separatisten die »Republik Rheinland« ausgerufen, war das Land durch eine Hyperinflation und eine Regierungskrise gegangen und in einen offenen Konflikt mit der bayerischen Landesregierung getreten. Hamburg hatte einen KPD-geführten Aufstand erlebt, und nur drei Tage nach der Reichsexekution gegen Thüringen unternahm Adolf Hitler in München am 8. und 9. November seinen Umsturzversuch. Mit dabei: ein gewisser Wilhelm Frick, nachmals Innenminister in Thüringen.
Der »Ordnungsbund« will für Ruhe sorgen
Die Reichsexekution hatte das politische Klima in Thüringen vergiftet, die Republikfreunde geschwächt und mit dazu beigetragen, dass das Land nach 1923 zu einem antidemokratischen Zentrum in Deutschland wurde. Wenn das bürgerliche Lager nun den politischen Gegner diskreditieren wollte, brauchte es lediglich auf die Reichswehr in den Straßen zu deuten. Für die Landtagswahlen 1924 schlossen sich alle Parteien rechts der Mitte mit Ausnahme der extremen Rechten zum »Thüringer Ordnungsbund« zusammen und präsentierten sich als Hort der Stabilität: »Das ganze Land kam auf den Hund, uns hilft nur noch der Ordnungsbund.«
Das Motto verfing, das Wahlbündnis räumte satte 48 Prozent der Stimmen ab. Ein beachtlicher Erfolg, doch es reichte nicht für eine eigenständige Regierungsbildung. Aber es gab ja noch die »Vereinigte Völkische Liste«, jenes Ersatzkonstrukt, unter dem die Angehörigen der verbotenen NSDAP zur Landtagswahl angetreten waren. Und so kam es nun zu jener folgenreichen Tolerierung, durch die die Nazis im ganzen Land Fuß fassen konnten.
Die Nazis trieben Themen voran, bei denen sie auf Übereinstimmung mit dem Ordnungsbund bauen konnten, und ließen eigene Versuchsballons steigen. Auch ihre antisemitischen Hetzkampagnen zeitigten Erfolge. Sie brachten Gesetzentwürfe in den Landtag ein, die auf den Ausschluss von Juden aus öffentlichen Ämtern und ihre Nichtzulassung als Ärzte, Notare, Vieh- und Getreidehändler zielten. Der berühmten Kunstschule Bauhaus, bislang in Weimar ansässig, drehte das Land den Geldhahn zu, was diese zur Übersiedlung in den benachbarten Freistaat Anhalt nach Dessau zwang.
In dieser Phase, die mit der Duldung des Ordnungsbunds begann, etablierte die NSDAP rechtsnationales und völkisches Gedankengut in der Landespolitik und bereitete den Boden für die nun folgende eigene Regierungsbeteiligung. Auf sonderlich großen Widerstand der bürgerlich-konservativen Parteien schien sie dabei nicht zu stoßen: Man stehe der Nationalsozialistischen Partei eben politisch und weltanschaulich näher als der SPD, erklärte der DVP-Fraktionsvorsitzende im Anschluss an die Wahl Fricks zum Innenminister. Das sei ja »im Übrigen kein Geheimnis«.
Als Hitlers Vertrauter Wilhelm Frick sein Ministeramt übernahm, verwirklichte er das NS-Programm noch offensichtlicher als zuvor. Der Exputschist schasste republiktreue Polizisten und ersetzte sie durch Gleichgesinnte. Sein Ermächtigungsgesetz zum Umbau der Verwaltung gab schon den Vorgeschmack auf 1933. Weil Frick nicht nur für Inneres, sondern auch für »Volksbildung« zuständig war, ließ er unter anderem das Schulgebet wieder einführen – allerdings mit faschistisch umgeschriebenen Gebetstexten gegen die »Verseuchung des deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur«. Frick ließ Kunst aus Museen entfernen, die den Nazis als entartet galten, und ließ Erich Maria Remarques Antikriegsroman »Im Westen nichts Neues« verbieten. Mit dem NS-treuen Philologen Hans Günther wurde ein erster »Rassekundler« als Professor an die Universität Jena berufen. Diesmal schickte Berlin keine Reichswehrtruppen, stattdessen kam Hitler persönlich zur Antrittsvorlesung.
Nach einem Jahr Frick erreicht die NSDAP beinahe die absolute Mehrheit
Einmal noch schien es so, als könne man der Nazigefahr ein Ende setzen: Nach rund einem Jahr, im Frühjahr 1931, wurde Frick seines Amtes enthoben. Die DVP hatte sich doch noch berappelt und dem von SPD und KPD gestellten Misstrauensantrag gegen die Regierung zugestimmt. Aber nicht aus politischem Dissens, sondern weil sie den dauernden Beleidigungen seitens ihres völkischen Partners überdrüssig war. Zum letzten Mal vor der »Machtergreifung« war die SPD in die Verantwortung gegangen, um die Nazis von der Macht fernzuhalten.
Der Schritt hatte jedoch höchstens noch Symbolwert. Längst hatten sich die Nazis in Thüringen etabliert und genügend Unterstützerinnen und Unterstützer zusammen. »Wir kommen wieder« hatte ihr neuer Frontmann, Gauleiter Fritz Sauckel, prophezeit. Und bei der Neuwahl im Jahr 1932 kehrten sie mit 42,5 Prozent der Stimmen tatsächlich kraftstrotzend zurück.
Die Parteien, die einst den Ordnungsbund bildeten, schrumpften derweil auf Zwergenmaß. Nun war es an der NSDAP, sich nach einem willigen Koalitionspartner umzutun, aber das war dann auch kein großes Problem mehr. Der Thüringer Landbund, der zuvor noch die Regierung angeführt hatte, bot sich als Juniorpartner an. Der Pöbler und Hetzer Sauckel landete auf dem Sessel des Regierungschefs – noch vor 1933. Und dank so großer Treue belohnte der »Führer« seine Thüringer Getreuen Frick und Sauckel postwendend: Frick wurde im ersten Kabinett Hitler Reichsinnenminister, Sauckel »Reichsstatthalter«. Für sie war Thüringen das Sprungbrett nach Berlin.
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