Tiefe Hirnstimulation: Abschied von der Depression
Kurz bevor er in den Operationssaal gerollt wurde, umarmte Tyler Hajjar seine Mutter noch einmal. »Ist ja nur eine Hirnoperation«, scherzte er. Der Kalender zeigte den 4. Februar 2019. Der 28-Jährige war von weit her an die Emory University in Atlanta gereist, um sich dort Elektroden unter die Schädeldecke pflanzen zu lassen. Eine elektrische Stimulation tief im Gehirn – so die Hoffnung – sollte die schwere, zeitweise lebensbedrohliche Depression lindern, die Hajjar seit zehn Jahren quälte. »Manchmal lag ich den ganzen Tag nur im Bett«, erinnert er sich, »aber ehrlich gesagt war das besser als die Ideen, die mir sonst durch den Kopf gingen.«
Hajjar hatte keine Angst vor der Operation, lediglich davor, dass sie vielleicht nichts bringen würde. Mehr als 20 Medikamente und andere Behandlungsmethoden hatten bei ihm schon versagt, darunter die transkranielle Magnetstimulation (TMS), die Elektrokrampftherapie und Ketamin-Infusionen. Hajjar ist kein Einzelfall. Je nach Studie werden 15 bis 30 Prozent aller Depressionen chronisch, weil die üblichen Therapien nicht oder nicht ausreichend anschlagen.
Seit den ersten Versuchen zu Beginn der Jahrtausendwende hat die tiefe Hirnstimulation in den USA bereits Dutzenden Menschen mit behandlungsresistenten Depressionen dauerhaft geholfen. Ein Silberstreif am Horizont. Allerdings ist die Methode bei Depressionen nach wie vor nicht zugelassen, sondern befindet sich im experimentellen Stadium.
»Ich beschäftige mich seit mehr als 30 Jahren mit Depressionen – das hier liefert uns den bisher besten Anhaltspunkt für ein grundlegendes Verständnis dafür, was Depressionen sind und wie man das Gehirn reparieren könnte«Helen Mayberg, Neurologin
Hajjar ist einer von zehn Studienteilnehmern, die im Rahmen der Operation eine Apparatur erhielten, die über die Elektroden nicht nur Strom ins Gehirn schickt, sondern umgekehrt auch dessen neuronale Aktivität auslesen kann. Die Auswertung der Daten trug zu einer im September 2023 veröffentlichten Entdeckung bei: Ein spezielles neuronales Aktivitätsmuster scheint anzuzeigen, ob die Behandlung anschlägt und ob es der Person dauerhaft besser geht – ein Biomarker der Gesundung sozusagen!
»Ich beschäftige mich seit mehr als 30 Jahren mit Depressionen – das hier liefert uns den bisher besten Anhaltspunkt für ein grundlegendes Verständnis dafür, was Depressionen sind und wie man das Gehirn reparieren könnte«, sagt Helen Mayberg, Neurologin an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai und Koautorin der Studie. So soll der Gesundungsmarker den behandelnden Ärzten etwa Auskunft darüber geben, ob sie die Stimulation anpassen müssen, wenn sich beispielsweise die Symptome verschlimmern. »Das würde die Therapie besser skalierbar und effektiver machen und offen gesagt vielleicht auch helfen, Schaden zu vermeiden«, sagt Michael Okun. Er war nicht an der Studie beteiligt, beschäftigt sich als Neurologe an der University of Florida aber ebenfalls mit der tiefen Hirnstimulation.
Kann man das Gehirn von außen auslesen?
Auf das im Hirninneren messbare Signal könnten nun bald andere Gesundungsmarker für Depressionen folgen. Die Arbeitsgruppe beobachtete etwa, dass sich die Mimik der Behandelten parallel zum neuronalen Marker veränderte. Vielleicht wandeln sich auch die Stimme oder Hirnwellen, die man per EEG erfassen kann. »Es gibt viele – invasive und nichtinvasive – Möglichkeiten, mit denen wir das Gehirn auslesen können«, sagt Christopher Rozell, Neuroingenieur am Georgia Institute of Technology: »Die Entdeckung öffnet der Suche nach weiteren Signalen Tür und Tor.«
Die Elektroden werden bei den depressiven Patienten im zingulären Kortex platziert, und zwar im Brodmann-Areal 25 in der Area subcallosa. In diesem Bereich, etwas oberhalb und hinter den Augen gelegen, kreuzen sich vier große Nervenfaserbahnen. Sie verknüpfen Hirnregionen, deren Funktionen bei Depressionen oft sämtlich gestört sind – neben der emotionalen Regulation zum Beispiel Schlaf, Appetit, Motivation und Gedächtnis.
Bereits vor zwei Jahrzehnten hatte Mayberg die an einer Depression beteiligten Hirnstromkreise kartiert und festgestellt, dass sich das Brodmann-Areal 25 immer genau dann »beruhigte«, wenn ein Antidepressivum anschlug. Daher beschloss sie zu untersuchen, ob eine Elektrostimulation in diesem Hirnbereich dessen Aktivität modulieren und so hartnäckige Depressionen lindern könnte.
»Den Menschen geht es nicht einfach nur besser, sie genesen auf Dauer«Helen Mayberg, Neurologin
Wie die folgenden 20 Jahre zeigten, ist das tatsächlich möglich. In einer 2019 publizierten Studie mit 28 Personen berichteten Mayberg und ihr Team beispielsweise, dass sich bei mehr als der Hälfte der Erkrankten durch die tiefe Hirnstimulation eine deutliche Besserung einstellte. 30 Prozent genasen sogar vollständig und waren auch zwei bis acht Jahre später weiterhin gesund. »Den Menschen geht es nicht einfach nur besser, sie genesen auf Dauer«, betont Mayberg. Heute seien die Ansprechraten auf etwa 80 Prozent gestiegen, da neue Techniken es ermöglichen würden, das Brodmann-Areal 25 gezielter anzusteuern.
Mayberg hatte schon früh erkannt, dass die Behandlung (zumindest bei ihren Patienten) funktionierte, aber keiner wusste, was dabei eigentlich vor sich ging. 2013 hörte sie von Stimulatoren des Medizintechnikunternehmens Medtronic, die zugleich Daten aus dem Gehirn aufzeichnen konnten. Die Forscherin bewarb sich für zehn Geräte, damals noch Prototypen. Zudem schloss sie sich mit Christopher Rozells Team zusammen, das sich mit der Auswertung der Daten auskannte.
2015 implantierten die Neurochirurgen an der Emory University die ersten der neuen Apparaturen. In jede Hirnhälfte führten sie eine Elektrode in das Brodmann-Areal 25 ein und verbanden sie mit einem Schrittmacher. Jede Elektrode hat vier Kontakte, an denen sie das Hirngewebe direkt berührt. Vier Jahre später war Hajjar der letzte Patient, der sich im Rahmen der Studie dem Eingriff unterzog. Im Operationssaal wurde er kurz geweckt. Er berichtete, dass die Stimulation eines der Kontakte auf der linken Seite des Gehirns ein ungewohntes Gefühl emotionaler Leichtigkeit bei ihm auslöste. Hätte man ihn nicht fest verkabelt, wäre er aufgestanden, um mit seinem Vater zum Schießstand zu gehen. Das hatte ihm früher viel Spaß gemacht.
KI vergleicht Hirnaktivität vor und nach der Behandlung
Das war ein viel versprechendes Anzeichen. In den folgenden sechs Monaten sammelte das Gerät Daten von Hajjars Gehirn; es zeichnete Hirnwellen auf, die die kombinierte Aktivität von Tausenden von Neuronen widerspiegeln. Einmal pro Monat wurde der klinische Verlauf aller Studienteilnehmer erhoben, wobei man die Gespräche filmisch protokollierte: Innerhalb von ein paar Monaten fühlten sich die meisten etwas besser. Nach einem halben Jahr waren die Symptome bei neun der zehn um mindestens die Hälfte zurückgegangen, sieben erreichten sogar eine vollständige Remission. Von diesen hatten die Geräte allerdings nur bei sechs Personen verwertbare Hirndaten geliefert, davon zeigte eine einen untypischen Krankheitsverlauf.
»Das ist das allererste Mal, dass wir wirklich in der Lage sind, die Genesung im Gehirn zu messen«Christopher Rozell, Neuroingenieur
Auf der Grundlage der Daten der fünf verbleibenden gesundeten Teilnehmer entwickelten Rozell und sein Team eine KI-Software, welche die Hirnaktivität zu Beginn der Behandlung mit der zu späteren Zeitpunkten verglich, zu denen die Verbesserung bereits eingetreten war. »Wie bei einer Sinfonie, bei der es einige hohe und einige tiefe Instrumente gibt, können wir die Hirnsignale in Frequenzen verschiedener Bereiche zerlegen«, erklärt Rozell. Es fand sich eine Veränderung in ein paar wenigen Frequenzbändern, mit denen sich ein krankes Gehirn mit 90-prozentiger Genauigkeit von einem gesunden unterscheiden ließ. »Das ist das allererste Mal, dass wir wirklich in der Lage sind, die Genesung im Gehirn zu messen«, sagt Rozell.
Die neuronale Signatur war bei allen Teilnehmern dieselbe, aber sie zeigte sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten: bei einem beispielsweise nach acht Wochen, bei einem anderen erst nach 20. Wenn ein Arzt das Signal sieht, weiß er, dass er die Stimulation unabhängig vom aktuell beobachtbaren Geisteszustand seines Patienten beibehalten kann, erklärt Patricio Riva-Posse, der leitende Psychiater der Studie: »Es liefert also einen objektiven Biomarker, der über meinen Eindruck als Psychiater hinausgeht und mir sagen kann: ›Oh ja, diesem Patienten geht es langsam besser.‹« Und es gibt den Behandelten Zuversicht, auf dem richtigen Weg zu sein.
Die Teilnehmerin mit verwertbaren Hirndaten, aber atypischem Verlauf hatte sich zunächst besser gefühlt. Es ging ihr vier Monate lang gut, dann erlitt sie einen Rückfall. Die Wissenschaftler suchten nun auch in ihren Daten nachträglich nach dem Genesungsmarker: Tatsächlich war er zu Beginn der Behandlung vorhanden gewesen, verschwand jedoch einen Monat vor dem Rückfall – ein Warnzeichen! »Hätten wir es gewusst, hätten wir die Stimulation einen Monat früher verstärkt. Dann wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen«, sagt Mayberg.
Mimik verändert sich
Mit Hilfe einer KI-Software fanden die Fachleute zudem im Filmmaterial Veränderungen in der Mimik der Behandelten, die mit dem Auftreten des neuronalen Gesundungssignals übereinstimmten. Das ergibt laut Rozell zwar noch keinen klinisch brauchbaren Marker. Die Studiengruppe war zu klein, als dass man ein typisches Muster von Gesichtsausdrücken hätte definieren können. Dennoch deutet das Ergebnis auf die Möglichkeit universellerer biologischer Indikatoren für eine Genesung hin. »Wir werden Modelle entwickeln, die nicht nur für meine kleine Kohorte glücklicher Patienten gelten, sondern für alle«, verspricht Mayberg.
Auch Hirnscans könnten bald mehr objektive Hinweise auf das Befinden geben. Strukturelle Scans vor der Operation hatten gezeigt, dass der Grad der Schädigung bestimmter Nervenfaserbahnen mit dem Schweregrad der Depression korrelierte. Bei den in der Studie verwendeten Implantaten waren solche Messungen nicht möglich. Doch die neueste Stimulationstechnologie ist mit den bildgebenden Methoden kompatibel. Ein Team an der Icahn School of Medicine hat nun die neuen Apparaturen bei weiteren zehn Erkrankten implantiert und wird nicht nur per Elektroden nach dem Gesundungsmarker, sondern auch durch Scans nach Anzeichen für einen reparierten Kreislauf im Gehirn suchen.
»Ich hatte das Gefühl, wieder in die Welt zurückzukehren«Tyler Hajjar, Patient
Für die Zulassung der tiefen Hirnstimulation bei Depressionen sind große kontrollierte klinische Studien erforderlich. Eine frühere Untersuchung wurde vorzeitig abgebrochen, weil sich kein Vorteil im Vergleich zu einer Scheinbehandlung zeigte. Aber einige Patienten, welche die Behandlung trotzdem weiterführten, verspürten später doch noch eine Besserung. Die gesammelten Ergebnisse sowie Erkenntnisse aus kleinen Studien geben nach Ansicht von Experten Grund zur Hoffnung. Deshalb plant die Pharmafirma Abbott nun nach eigener Aussage eine neue klinische Studie.
Hajjar überschritt nach sechs Monaten die Schwelle zur Gesundung. Er begann sich wieder mit Freunden zu treffen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte, und konnte vorübergehend sogar eine Arbeit annehmen. »Ich hatte das Gefühl, wieder in die Welt zurückzukehren«, erinnert er sich. Allerdings litt er immer noch an Angstzuständen, und 2021 kündigte sich erneut eine Depression an. Doch eine Anpassung der Stimulation verhinderte einen tieferen Einbruch.
Heute arbeitet Hajjar in Teilzeit. Schon mehrere Male hat er Fachleuten auf Konferenzen oder in Zoom-Meetings seine Geschichte erzählt. Er will sein früheres Interesse am technischen Zeichnen weiterverfolgen und schmiedet Pläne für die Zukunft: »Ich freue mich darauf, morgens aufzuwachen«.
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