Tiny Forests: Grüne Inseln im Häusermeer
»So sah es hier vor zirka einem Jahr aus«, erzählt Axel Heineck und präsentiert seinem Publikum ein Foto. Darauf sind zahlreiche kleine Bäume zu sehen, die in strohbedecktem Boden wurzeln. Aus ihnen ist mittlerweile ein dichter »Wald« geworden; mit 300 Quadratmetern ist dieses Stück Wildnis nur ein bisschen größer als ein Tennisplatz und im Walter-Möller-Park in Hamburg-Altona gelegen.
Bäume und Sträucher auf kleinen Arealen im städtischen Raum anzupflanzen ist ursprünglich eine Idee des japanischen Botanikers Akira Miyawaki gewesen. Der inzwischen verstorbene Wissenschaftler hatte sie bereits in den 1980er Jahren ausgearbeitet; der indische Ingenieur Shubhendu Sharma ließ sich davon inspirieren und entwickelte sie weiter. Das niederländische Institut für Naturpädagogik (IVN) war von dem Konzept so angetan, dass es im Jahr 2015 den ersten »Tiny Forest« (deutsch: winziger Wald) in der holländischen Stadt Zaandam initiierte. Schulkinder und viele andere freiwillige Helfer machten dabei mit, das Gehölz anzupflanzen; später ließ sich das IVN den Begriff »Tiny Forest« markenrechtlich schützen. Demnach müssen Anpflanzungen, um so bezeichnet werden zu können, bestimmte Kriterien erfüllen.
Tiny Forests gelten in den meisten deutschen Bundesländern nicht als Wälder, da sie hierfür zu klein sind. Hier zu Lande spricht man lieber von Mini-, Mikro- oder Kleinwäldern oder auch von Klimawäldchen. Unabhängig davon, wie sie heißen, werden sie europaweit immer beliebter. Neben Hamburg haben unter anderem Berlin, Erfurt und Mannheim solche Anlagen geschaffen, weltweit soll es bereits mehr als 3000 geben.
Laut dem gemeinnützigen Verein »Citizen Forests«, der die Miniwälder mit Unterstützung von freiwilligen Helferinnen und Helfern anpflanzt und für den Axel Heineck ehrenamtlich tätig ist, bringen Tiny Forests im städtischen Umfeld viele Vorteile. Sie würden dort etwa die Biodiversität fördern und an heißen Tagen für Abkühlung sorgen, heißt es seitens des Vereins.
Neue Naturverbundenheit
Der in Eberswalde ansässige Verein »MIYA forest« hat sich die Förderung der Miyawaki-Methode auf die Fahnen geschrieben. Er legt Miniwälder an und erforscht gemeinsam mit der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, welche sozialen und ökologischen Möglichkeiten das bietet. Caspar Möller, der die Forschung und das Projektmanagement des Vereins verantwortet, deutet beispielsweise an, dass die Minigehölze für den Klimawandel und die notwendige Anpassung daran sensibilisieren.
Unterstützt von Freiwilligen, hat der Verein schon diverse Miniwälder geschaffen – unter anderem für städtische Gemeinden, Schulen und Unternehmen. »Mit unseren partizipativen Pflanzaktionen versuchen wir, der breiten Gesellschaft eine neue Verbindung zur Natur zu ermöglichen. Das soll einen gesellschaftlichen Wandel ins Rollen bringen, den es unserer Ansicht nach für wirklich erfolgreichen Klimaschutz braucht«, teilt Möller mit.
Viele Arten auf kleinem Raum
In Hamburg haben nach Angaben von »Citizen Forests« mehr als 70 Freiwillige bei der Pflanzaktion im Walter-Möller-Park und an einem zweiten Standort geholfen. Um einen Miniwald zu pflanzen, braucht es laut dem Verein zunächst einen Vorschlag für eine geeignete Fläche auf privatem oder öffentlichem Raum. Anschließend wird eine Vereinbarung mit dem Flächeneigentümer getroffen. Die Areale, auf denen die Setzlinge eingegraben wurden, habe das Bezirksamt Altona zugewiesen, wie Heineck schildert. Das Amt habe auch für eine Vorbereitung der Flächen gesorgt. Nach dem Bepflanzen haben die Helfer den Boden gemäß der Miyawaki-Methode mit Stroh gemulcht, um der Verdunstung entgegenzuwirken und so die Qualität des Untergrunds zu verbessern.
Mittlerweile wachsen dort unter anderem kleine Roterlen und Stieleichen. Vor dem Miniwald krabbelt eine Biene über eine Margeritenblüte, in der Nähe keckert eine Elster. »Insgesamt haben wir hier 25 lokal angepasste Pflanzenarten angesiedelt«, sagt Heineck. All diese Gewächse seien endemisch (gebietsheimisch) und stammten von regionalen Baumschulen, wie »Citizen Forests« betont. Um die nötigen Materialien zu bezahlen – etwa die Setzlinge, aber auch Wildschutzzäune, die Menschen von einem Betreten der Wäldchen abhalten sollen –, ist der Verein auf Spenden angewiesen.
»Wir haben die Brennesseln stehen lassen, um wildes Campen zu verhindern«Axel Heineck, Citizen Forests
Im Walter-Möller-Park haben Heineck und sein Team einen natürlichen Schutz vor unerwünschten Besucherinnen und Besuchern gefunden: Brennnesseln. »Sie wuchsen hier bereits vor der Pflanzaktion«, erinnert sich Heineck. »Wir haben sie um das Wäldchen herum stehen lassen, um wildes Campen zu verhindern.« Denn die Pflanzen- und Tierspezies in dem Minigehölz sollen sich möglichst ungestört entwickeln. Auch wenn die Bäume einmal eine stattliche Größe erreicht haben, sollen Menschen in aller Regel draußen bleiben. Denn Mikrowälder sind keine Parks. Um sie herum lassen sich aber Wege anlegen und Bänke aufstellen. Dort könnten dann Orte der Begegnung und Outdoor-Klassenräume entstehen, wie es dem IVN vorschwebt.
Der Miyawaki-Methode entsprechend haben die Helfer und Helferinnen von »Citizen Forests« etwa 1100 Bäume und Sträucher dicht an dicht gepflanzt. Auf diese Weise sollen die Gewächse um Sonnenlicht konkurrieren und besonders schnell sprießen. Doch nicht jede Pflanze wird überleben. »Dieses Jahr zum Beispiel haben Kaninchen an manchen Trieben unten die Rinde abgenagt«, sagt Heineck und deutet auf einen kahlen Jungbaum. Auch Menschen würden trotz der Schutzmaßnahmen manchmal in die Miniwälder eindringen, sie beschädigen oder verschmutzen.
Tatsächlich haben Unbekannte am Rand des »Klimawäldchens«, wie die Stadt Hamburg die Anpflanzung nennt, alte Brotscheiben hinterlassen. Solchen Abfall wegzuschaffen, darum kümmern sich ebenfalls Vereinsmitglieder und Freiwillige. »Zwei- bis dreimal pro Jahr veranstalten wir dafür eine Aufräumaktion«, sagt Heineck. Alles in allem halte sich der Pflegeaufwand für die Minigehölze in Grenzen. Anfangs müsse die Fläche hin und wieder gejätet und gewässert werden, mit der Zeit aber sind immer weniger Eingriffe nötig.
Tiny Forests als Klimaschützer?
Oft werden Miniwälder als wirksame Klimaschutzmaßnahme im urbanen Raum beworben. Tatsächlich jedoch hätten sie kaum Einfluss auf den CO2-Haushalt, wie Ernst-Detlef Schulze betont, Pflanzenökologe und emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie in Jena. »Die Flächen sind dafür zu klein«, sagt Schulze.
Caspar Möller vom Verein MIYA forest teilt diese Meinung. Zwar könnten Tiny Forests durch zusätzliche Maßnahmen in ihren ökologischen Funktionen unterstützt werden – etwa durch das Einbringen von Nährsubstrat in die Böden. Terra preta beispielsweise sei ein solches Substrat, das unter anderem aus Pflanzenkohle bestehe, Kohlenstoff binde und beim Humusaufbau helfe. »Eine etwa 150 Quadratmeter große Fläche kann aber nicht den CO2-Ausstoß einer Millionenstadt ausgleichen.«
»Eine etwa 150 Quadratmeter große Fläche kann nicht den CO2-Ausstoß einer Millionenstadt ausgleichen«Caspar Möller, MIYA forest
Immer wieder ist zu hören, Miniwälder hätten einen kühlenden Effekt auf ihre Umgebung und könnten so den Hitzestau in Stadtgebieten verringern. Wegen der geringen Größe dieser Gehölze bezweifelt Schulze aber, dass sich das in bedeutsamer Weise auswirkt. Besonders kritisch sieht er den Umstand, dass vor dem Anpflanzen eines Tiny Forests diverse Haftungsfragen geklärt werden müssen. Was passiert etwa, wenn ein Baum bei einem Sturm auf die Straße fällt? Möller teilt dazu mit: »Verantwortlich für die Verkehrssicherheit ist der Flächenbesitzer, hier besteht kein Unterschied zu jedem anderen Stadtbaum.« Erfahrungsgemäß spiele die Verkehrssicherheit bei Bäumen jedoch erst ab einem Alter von zirka 50 Jahren eine Rolle. Schulze hält Parkanlagen in einer Stadt für ökologisch sinnvoller als Miniwälder. »Bis auf den Schatten, den sie spenden, haben aber auch Parks so gut wie keine Klimawirkung«, sagt der Pflanzenökologe.
Noch wenig Forschung
Fachleute der niederländischen Universität Wageningen wollten genauer wissen, ob und inwiefern sich Tiny Forests positiv auf das Klima und die Biodiversität einer Stadt auswirken. Mit Unterstützung von rund 100 Helfern ermittelten sie zwischen 2020 und 2021 die Bodentemperaturen in und außerhalb von elf verschiedenen Mikrowäldern. An besonders heißen Tagen habe es zwischen Winzwald und offener Straße einen Unterschied von beinahe 20 Grad gegeben, so das Fazit der Erhebung. Im Jahresdurchschnitt habe dieser Wert bei sieben, im Durchschnitt der Sommermonate bei zehn Grad gelegen. Auch zählte das Forschungsteam mehr als 1000 verschiedene Tier- und Pflanzenarten in den Miniwäldern und rechnete aus, dass die Gehölze seit ihrer Pflanzung bereits mehrere Millionen Liter Wasser aufgenommen haben. Das mache Tiny Forests überdies zu einer Anpassungsmaßnahme an Starkregen.
Die Miyawaki-Methode
Der japanische Botaniker Akira Miyawaki wollte auf ausgelaugten, humusarmen Böden wieder stabile Mischwälder entstehen lassen. Dabei inspirierte ihn das Konzept der »Potenziell Natürlichen Vegetation« (PNV) des deutschen Pflanzensoziologen Reinhold Tüxen. Die PNV beschreibt, wie sich die Vegetation in einem bestimmten Lebensraum über lange Zeiträume hinweg entwickeln wird, wenn die klimatischen Bedingungen konstant bleiben und keine menschlichen Eingriffe mehr erfolgen.
Miyawaki entwickelte eine Methode, die mehrere Schritte umfasst. Zunächst soll sich die Bodenqualität verbessern, indem der Humusgehalt erhöht und Mikroorganismen sowie Pilze eingebracht werden. Die anschließende Anpflanzung heimischer Arten soll dazu beitragen, einen robusten Wald mit hoher Biodiversität zu schaffen. Pro Quadratmeter werden dabei drei bis fünf Pflanzen gesetzt. Die Gewächse konkurrieren so um Licht, Nährstoffe und Wasser und beschatten den Boden, was eine Vergrasung verhindern soll. Man ordnet die Pflanzen dabei – entsprechend dem Aufbau naturnaher Wälder – so an, dass sie Vegetationsschichten oder -etagen bilden. Das soll die Biodiversität fördern und einen facettenreichen Lebensraum für Tiere schaffen. Nach einem Treffen mit Miyawaki rief der indische Ingenieur Shubhendu Sharma 2011 das gewinnorientierte Projekt »Afforestt« ins Leben. Es bietet Dienstleistungen an, die darauf abzielen, möglichst naturnahe Wälder wiederherzustellen. Sharma machte Miyawakis Methode weithin bekannt.
In Absprache mit Afforestt definiert das niederländische Institut für Naturpädagogik einen »Tiny Forest« als dichtes, schnell wachsendes heimisches Waldgebiet etwa von der Größe eines Tennisplatzes. Im öffentlichen Raum muss ein solches Gehölz mehrere Kriterien erfüllen, um als Tiny Forest zu gelten. So muss es aus mindestens 25 verschiedenen Baumarten bestehen und von Anwohnern und Schulkindern gepflanzt worden sein.
Weitere Studien haben ebenfalls belegt, dass die Miniwälder positive ökologische Wirkungen haben. Dennoch bestehe nach wie vor großer Forschungsbedarf auf dem Gebiet, wie MIYA forest betont. In Zukunft will der Verein eine Zusammenfassung bisheriger Beobachtungs- und Messdaten aus eigenen Pflanzungen veröffentlichen. Für Bürgerinnen und Bürger, die sich an den Projekten beteiligen, soll es außerdem eine Plattform geben, auf die sie ihre Erkenntnisse hochladen können.
Das Interesse an Tiny Forests wächst. Citizen Forests erhält nach eigenen Angaben wöchentlich etwa eine Anfrage für eine Pflanzaktion. Heineck zufolge wäre es – rein auf den Arbeitsaufwand für das Anpflanzen bezogen – theoretisch möglich, jeden Tag einen Miniwald anzulegen. Doch von der Idee bis zur Umsetzung können trotzdem bis zu eineinhalb Jahre vergehen. Ein Grund dafür ist der Mangel an geeigneten Flächen, zumal auf dem begrenzten Platz im urbanen Umfeld auch andere Umweltgruppen ihre Ideen verwirklichen möchten.
Als Konkurrenz zu anderen Klimaanpassungsmaßnahmen in der Stadt sieht Möller die Tiny Forests nicht. Sein Verein zum Beispiel setze noch weitere Projekte wie Blühwiesen um. »Wir freuen uns, wenn unsere Arbeiten zu einem vielfältigen Mosaik an Klimaanpassungen beitragen«, betont Möller. Axel Heineck verweist noch auf einen weiteren positiven Effekt der Pflanzaktionen: »Man fühlt sich danach einfach besser, weil man etwas für die Biodiversität und die Umwelt getan hat.«
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