Geiz und Habgier: Mehr für mich, weniger für die anderen
»Es ist gut, gierig zu sein!«, predigte der Börsenhändler Ivan Boesky 1986 vor Absolventen der kalifornischen University of California, Berkeley. Und legte nach: »Ich denke, dass Gier gesund ist. Du kannst gierig und trotzdem im Reinen mit dir selbst sein.« Sein Publikum honorierte die provokante Rede damals mit Applaus und Gelächter. Einst als Laster verschrien, deutete Boesky die Habsucht kurzerhand zu einer erstrebenswerten Tugend um. Der Ausspruch lancierte zum Slogan für ein kompromissloses Wirtschaftssystem, das die Anhäufung von Besitztümern um ihrer selbst willen zum Ziel erklärte.
Mit Oliver Stones Wirtschaftsthriller »Wall Street« aus dem Jahr 1987 ging Boesky gar in die Filmgeschichte ein – in Gestalt des ruchlosen Finanzinvestors Gordon Gekko. Das Schicksal meinte es nicht gut mit dem berühmten Spekulanten: Nur ein Jahr später fand er sich auf der Anklagebank wieder. Mit verbotenen Insidergeschäften solle Boesky Millionengewinne eingefahren haben, befand das Gericht und verurteilte ihn zu dreieinhalb Jahren Haft.
Für gemeinhin sehen wir die Gier als Schandfleck der menschlichen Seele an – ebenso wie ihren ungeliebten Bruder, den Geiz. Das Wort leitet sich vermutlich von der althochdeutschen Wurzel »ghei-« ab: Die steht für »begehren, verlangen«. Nicht nur etymologisch sind die beiden Begriffe eng verwandt. Mehr für mich, weniger für den Rest der Welt – das geht meist Hand in Hand. Ein »Mangel im Geben und ein Übermaß im Nehmen« sei der Geiz, so Aristoteles in seiner »Nikomachischen Ethik«.
Die christliche Glaubenslehre fasst Geiz und Habgier als »avaritia« zusammen – eine der sieben Todsünden. Im Mittelalter herrschten noch recht klare Vorstellungen, was den Habsüchtigen nach ihrem Ableben blühte: In der Hölle, so hieß es, würden sie in siedend heißes Öl geworfen.
Gierig? Ich doch nicht!
Sich in der Kassenschlange vordrängeln, stets das größte Stück von der Torte für sich beanspruchen, Freunden in Not nicht aushelfen wollen: Raffkes und Pfennigfuchser sind unbeliebte Zeitgenossen. Kaum verwunderlich also, dass viele Menschen diesen charakterlichen Makel entschieden von sich weisen. In einer Studie des Salzburger Theologen Anton Bucher bekannten gerade mal sechs Prozent der Befragten, »täglich/wöchentlich« Geiz oder Habgier zu erleben. Unter den Senioren behaupteten gar 60 Prozent, derartige Regungen überhaupt nie zu spüren. Sind die Phänomene also nur kuriose Ausnahmeerscheinungen?
Mitnichten, meinen Vertreter der evolutionären Psychologie. Ihnen zufolge sind Gier und Geiz wichtige Verhaltensprogramme, die in der Urzeit zur Selbsterhaltung beigetragen haben: In einer Umwelt mit knappen Ressourcen überleben diejenigen, die rechtzeitig ausreichend Nahrung sammeln, horten und notfalls gegen Rivalen verteidigen. Doch auch in der heutigen Zeit sind Gier und Geiz unsere ständigen Begleiter.
»Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse«Adam Smith
Die Marktwirtschaft fußt schließlich auf der Idee, dass Menschen stets ihr eigenes Einkommen maximieren wollen. Die klassische Ökonomie ging noch davon aus, dass dieser egoistische Trieb wie von selbst zu mehr Wachstum führe und somit letztlich dem Wohl aller diene. »Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse«, schrieb etwa der britische Philosoph Adam Smith (1723–1790). Doch der Plan geht nicht immer auf: Ein Wirtschaftssystem, das die menschliche Gier zu seiner Grundbedingung macht, bringt hässliche Konsequenzen mit sich. Habgier ist der Motor hinter zahlreichen Korruptionsskandalen, verschleppten Insolvenzen und Fällen von Steuerbetrug. Viele halten Gier auch für eine der Ursachen hinter der US-Immobilienblase ab 2007, die sich in den folgenden Jahren zu einer globalen Finanzkrise ausweitete.
Umso erstaunlicher, dass die empirische Psychologie Habgier und Geiz eher stiefmütterlich behandelt. Erst in den vergangenen Jahren erschienen viel versprechende Pionierstudien, die das Wesen der Habgier zu ergründen versuchten. Patrick Mussel von der Freien Universität Berlin untersuchte mit seinen Kollegen etwa, wie die Gier unser ökonomisches Handeln beeinflusst. Dafür maß er die überdauernde Neigung zur Habgier mit Hilfe eines eigens entwickelten Fragebogens. Dann konfrontierte er seine Versuchspersonen mit einer Reihe von wirtschaftlichen Planspielen. Wie sich zeigte, gingen die besonders gierigen Teilnehmer oft höhere Risiken ein und reagierten emotionaler auf Gewinne und Verluste als ihre Mitspieler.
Das Spiel mit dem Feuer
In einer 2015 veröffentlichten Studie konnten Mussel und sein Team sogar Effekte auf neuronaler Ebene nachweisen. Dafür erfassten sie mit EEG-Elektroden die elektrische Aktivität des Gehirns direkt an der Kopfhaut der Probanden. Diese sollten derweil um Spielgeld zocken, wobei sich ihre Mühen auch im echten Leben auszahlten: Wer am Ende der Studie den höchsten virtuellen Kontostand verzeichnete, durfte ein Preisgeld von 100 Euro kassieren. Für das Experiment sollten die Teilnehmer am PC einen digitalen Luftballon schrittweise aufblasen. Mit jedem Puster verdoppelte sich der Wert des Ballons – aber ebenso das Risiko, dass dieser platzte und der ganze Gewinn verloren wäre. Die Teilnehmer konnten ihr Pusten jederzeit einstellen und den Gewinn ihrem virtuellen Konto gutschreiben lassen, ein Szenario also, wie es sich in abgewandelter Form auch an der Börse abspielt.
Die besonders gierigen Spieler strapazierten ihren Luftballon im Schnitt mehr. Sie riskierten also lieber, alles Geld zu verlieren, als sich mit einem mäßigen Gewinn zufriedenzugeben. Zudem wirkte sich die Neigung zur Gier auf das EEG-Signal aus: Typischerweise zeigen Menschen nach einem enttäuschenden Erlebnis hier etwa 300 Millisekunden nach dem Ereignis einen leichten negativen Ausschlag. Diese »rückmeldungsbezogene Negativität« wird oft als Lerneffekt gedeutet, durch den wir ähnliche Fehler in Zukunft vermeiden könnten.
Ebendiese Negativität war bei den gierigen Teilnehmern spürbar schwächer. Platzte ein überdehnter Ballon, reagierten sie darauf also mit einem geringeren Ausschlag als die übrigen Spieler. Das Resümee von Mussel und Kollegen: Die gierigen Teilnehmer hätten Probleme damit, aus ihren Fehlern zu lernen, sie seien folglich gegen eigene Erfahrungen vergleichsweise immun. Derart brenzlige Manöver könnten auf ähnliche Weise auch an der Börse für Finanzblasen sorgen. Wenn diese platzen, steht jedoch weit mehr auf dem Spiel als eine 100-Euro-Prämie.
Lernen Gierige schlechter aus Erfahrungen?
Gier kann demnach zu riskanten Zockereien führen – die dann wiederum handfesten Schaden mit sich bringen. Problematisch ist allerdings die Deutung, einige wenige besonders gierige Menschen wären deswegen für die Miseren der Finanzwelt verantwortlich. Diese Rhetorik ist historisch vorbelastet: Die Nationalsozialisten nährten das Klischeebild vom geizigen und habsüchtigen »Geldjuden«. Propagandaminister Joseph Goebbels kontrastierte beispielsweise ein »national-schaffendes« mit einem »international-raffenden« Kapital, wobei er mit letzterem die angeblich jüdisch dominierte Börse meinte. Insofern stehen die noch heute gern geäußerten Klagen über die »raffgierigen Banker« in einer unseligen Tradition. Hinzu kommt: Die schädlichen Folgen der Marktwirtschaft sind keineswegs das alleinige Ergebnis persönlicher Charakterschwächen, sondern haben oftmals strukturelle Ursachen.
Für die psychologische Forschung sind deswegen gerade solche Vorhaben spannend, die Gier nicht allein als Persönlichkeitsvariable untersuchen, sondern ihren Blick auch auf die Umstände richten, die gieriges Verhalten provozieren können. Sprich: In welchen Situationen neigen wir zu Geiz und Eigennutz, in welchen sind wir großherzig zum Teilen bereit?
Serie »Die sieben Todsünden«
Stolz, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Trägheit – das sind in der christlichen Glaubenslehre die sieben Todsünden. Dabei ist der Begriff »Todsünde« im Grunde irreführend, denn gemeint sind eigentlich sieben Laster, die Menschen erst zu Sündern werden lassen. Auf »Spektrum.de« stellen wir alle sieben Todsünden unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten vor.
Teil 1: Dürfen wir stolz sein?
Teil 2: Bloß nicht ausrasten!
Teil 3: Die Kirschen in Nachbars Garten
Teil 4: Wann Lust zur Last wird
Teil 5: Alles muss rein!
Teil 6: Morgen mach ich's bestimmt!
Teil 7: Mehr für mich, weniger für die anderen
Patrick Mussel und sein Team konnten zeigen, wie eine schnelle Intervention, etwa die Lektüre eines Artikels über eine besonders gierige Person, die gierige Seite eines Menschen förmlich »herauskitzeln« kann – oder, im gegenteiligen Fall, abfedern. Ein anderer spannender Ansatz stammt vom Harvard-Psychologen David Rand. Der untersuchte mit seiner Arbeitsgruppe, welchen Einfluss Zeitdruck auf unsere Freigebigkeit hat. Die Ergebnisse veröffentlichte er 2012 in der renommierten Fachzeitschrift »Nature«. Rand bediente sich eines klassischen spieltheoretischen Problems: Die fast 700 Teilnehmer hatten die Möglichkeit, einen Teil ihrer Aufwandsentschädigung in einen kollektiven Topf zu überweisen. Dort würde das Geld dann verdoppelt und anschließend fair unter allen verteilt werden. Ein soziales Dilemma also, wie es sich auch in vielen alltäglichen Situationen wiederfindet: Machen alle mit, zahlt sich das letztlich für jeden Einzelnen aus. Aus individueller Sicht ist es dennoch profitabler, das eigene Guthaben einfach zu behalten.
Spontan sind wir spendabler
Ein Drittel der Probanden bekam die Auflage, binnen zehn Sekunden zu entscheiden, welchen Anteil ihres Salärs sie zu spenden bereit wären. Eine andere Gruppe sollte ihren Entschluss hingegen intensiv überdenken. Die übrigen verblieben als Kontrollgruppe ohne besondere Anweisung. Das Ergebnis überraschte: Unter Zeitdruck spendeten die Versuchspersonen etwa zwei Drittel ihres Geldes. Sollten sie hingegen lange über ihre Entscheidung reflektieren, wanderte im Schnitt nur gut die Hälfte des Geldes auf das Gemeinschaftskonto.
Längeres Nachdenken lockte also offenbar den Geiz aus den Probanden hervor, während sie sich spontan eher von ihrer großzügigen Seite zeigten. »Die kühle Logik des Eigennutzes ist verführerisch, doch unser erster Impuls ist es zu kooperieren«, fassen David Rand und seine Kollegen zusammen. Die Autoren erklären sich das Ergebnis damit, dass sich altruistisches Verhalten im Alltag oftmals auszahle – schließlich stehe da oft der eigene gute Ruf auf dem Spiel, Ego-Trips gelten im sozialen Miteinander meist als verpönt. Deswegen sei unsere intuitive Antwort eher prosozial. Der Gedanke an den persönlichen Vorteil verstärke sich hingegen mit dem intensiven Abwägen.
Spätestens im hohen Alter verkommt das stete Anhäufen von Gütern zu einem hohlen, sinnentleerten Akt: Was nützt all der Reichtum im Angesicht der eigenen Vergänglichkeit? Das letzte Hemd, meint ein altes Sprichwort, hat keine Taschen. Die Vermutung liegt also nahe, dass wir im Gedanken an den Tod alle Habsucht und Knauserigkeit fahren lassen. Diese Idee spiegelt sich auch in Charles Dickens' berühmter »Weihnachtsgeschichte« wider. Dort wird der verhärmte Geizkragen Ebenezer Scrooge nachts von drei Geistern besucht, die ihn mit seiner Sterblichkeit konfrontieren – und ihm so dabei helfen, zu einem milderen, freigebigeren Menschen zu werden. Doch zeigt sich dieser so genannte »Scrooge-Effekt« auch empirisch?
Der Gedanke an den Tod macht knauserig
Die österreichische Sozialpsychologin Eva Jonas untersuchte gemeinsam mit Kollegen aus den USA, wie sich der Gedanke an den eigenen Tod auf die Spendenbereitschaft ihrer Versuchspersonen auswirkte. Diese sollten zu Papier bringen, welche Gefühle die Vorstellung des eigenen Todes in ihnen auslöste. Der Job der Kontrollprobanden war ungleich profaner; sie sollten lediglich von ihren Emotionen bei Zahnschmerzen berichten. Im Anschluss ermunterte die Studienleiterin ihre Probanden, einen Teil der Aufwandsentschädigung (1,50 US-Dollar) für wohltätige Zwecke zu spenden. Das Resultat war ernüchternd: Befassten sich die Teilnehmer zuvor mit ihrem Tod, gaben sie im Schnitt weniger als 60 Cent. Diejenigen aus der Kontrollgruppe rückten hingegen mehr als das Doppelte heraus.
Das passt zu einer populären Theorie, laut der die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit in uns ein Gefühl von Angst auslöst, das wir verarbeiten, indem wir unsere eigenen kulturellen Normen hochhalten. In diesem Fall, schlussfolgert die Studienautorin, animiere der Gedanke an den Tod die Probanden wohl dazu, vermehrt Güter anzuhäufen.
Glücklicherweise konnte Eva Jonas in einer Folgestudie zeigen, wie leicht dieser Effekt abzuwandeln ist. Dazu pries sie im Vorfeld schlichtweg andere Normen als erstrebenswert an: Lasen die Probanden vor ihrer Schreibaufgabe einen Artikel über die britische Wohltäterin Florence Nightingale, hielten sie Werte wie Freigebigkeit und Großzügigkeit offenbar für weitaus anziehender als das Horten von Besitztümern. Der Gedanke an den eigenen Tod ließ sie dann plötzlich sogar tiefer in die Taschen greifen als die Kontrollprobanden mit der Schreibaufgabe über Zahnschmerzen. Welche kulturellen Werte wir für zentral erachten, ist nicht in Stein gemeißelt. Mitunter genügt also schon ein kleiner Stupser, um uns an die generöse Seite der menschlichen Natur zu erinnern.
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