Tokophobie: Die Angst vor der Entbindung
Die britische Schauspielerin Helen Mirren wirkt aufgebracht. In einem TV-Interview aus dem Jahr 2007 erzählt sie dem australischen Moderator Andrew Denton von einem Aufklärungsfilm, den sie in ihrer Schulzeit ansehen musste: Vor ihr auf der Leinwand sei eine Frau zu sehen gewesen, die gerade ein Kind zur Welt gebracht habe – in Nahaufnahme, Fokus zwischen die Beine. Mirren sei erst 13 oder 14 Jahre alt gewesen und habe sich bald die Augen zuhalten müssen. »Ich kann immer noch das Surren des Projektors hinter uns hören«, sagt sie. »Ich schwöre, es hat mich traumatisiert.« Die Schauspielerin schließt nicht aus, dass das Erlebnis bei ihrer späteren Entscheidung mitgespielt hat, keine Kinder zu bekommen. »Ich kann mir noch immer nichts ansehen, was mit einer Entbindung zu tun hat. Es ekelt mich einfach an.«
Mirren spricht damit ein Thema an, das auch andere Frauen beschäftigt: die Angst vor der Geburt. Denn ein Kind zu gebären, ist eine extreme Erfahrung. Eine Ausnahmesituation, die man nicht vollkommen kontrollieren kann, besonders dann, wenn die Geburt auf natürlichem Weg verläuft. Das verunsichert viele Schwangere. Sie werden immer angespannter, je näher der Entbindungstermin ihres Kindes rückt. Einige plagt die Furcht vor dem Unbekannten: Wie wird die Geburt? Werde ich die Wehen aushalten können? Werden mein Kind und ich die Entbindung unbeschadet überstehen? Andere sorgen sich, in der Not alleingelassen zu werden, den Geburtshelfern hilflos ausgeliefert zu sein und medizinische Eingriffe über sich ergehen lassen zu müssen. Hinzu kommt die Angst vor der Zukunft: Wie wird das Leben mit Kind aussehen? Werde ich eine gute Mutter sein? Wie wird mein Körper nach der Schwangerschaft und der Entbindung aussehen?
Bis zu einem gewissen Maß sind solche Sorgen vollkommen normal. Ein Teil der Frauen verspürt jedoch besonders starke Geburtsängste, die sich in einer psychischen Störung, der »Tokophobie«, manifestieren können. Bei ihnen beeinträchtigt die Furcht den Alltag. Sie leiden unter Schlafproblemen, Albträumen oder gar Panikattacken mit Atemnot, Zittern und Herzrasen.
Die Tokophobie wurde in der wissenschaftlichen Literatur zuerst im Jahr 2000 von den britischen Psychiatern Kristina Hofberg und Ian Brockington beschrieben. Die Ärzte befragten dazu 26 Frauen, die unter einer starken Furcht vor der Geburt eines Kindes litten, und konnten anschließend zwei Formen der Störung unterscheiden: Die »primäre Tokophobie« entsteht demnach im Jugendalter und wird vermutlich unter anderem durch abschreckende Eindrücke rund um eine Entbindung ausgelöst – wie jene, die Helen Mirren im Interview beschrieb. Dagegen ist die »sekundäre Tokophobie« die Folge einer vorangegangenen traumatischen Geburtserfahrung: Wer bereits eine schlimme Entbindung hinter sich hat, sorgt sich angesichts einer weiteren Geburt eher.
Darüber hinaus verschwimmen die Begrifflichkeiten jedoch. Es fehlt an einer einheitlichen Abgrenzung von »normalen« schwangerschafts- und geburtsbezogenen Ängsten gegenüber der krankhaften Tokophobie. Außerdem behindern uneinheitliche Messverfahren die Forschung. Es gibt nämlich verschiedene Fragebogen, um den Schweregrad der Störung zu bestimmen – und ab welchen Grenzwerten eine Angst als klinisch gilt, kann von Untersuchung zu Untersuchung variieren. Das macht Studienergebnisse schwer vergleichbar.
Wer ist betroffen?
Wie viele Frauen genau an pathologischen Schwangerschafts- oder Geburtsängsten leiden, ist daher unklar. Die Schätzwerte schwanken zwischen 3 und 43 Prozent der Schwangeren. Mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass etwa jede siebte Schwangere betroffen sein dürfte. Wie viele Tokophobikerinnen unter den nichtschwangeren Frauen sind, wurde bisher nicht wissenschaftlich untersucht.
Bei Schwangeren scheinen Erstgebärende häufiger betroffen zu sein als Frauen, die bereits ein Kind bekommen haben. Zu dem Schluss kommt eine umfangreiche Auswertung von 33 Studien aus 18 Ländern. Die Hebamme Viresha Bloemeke, die sich auf die Betreuung und Beratung psychisch belasteter Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt spezialisiert hat, hat in ihrer Hamburger Praxis allerdings eine andere Beobachtung gemacht: »Eine schlimme Vorerfahrung spielt bei etwa 90 Prozent meiner Klientinnen mit Geburtsängsten eine Rolle«, sagt sie. So manche sei etwa von dem Wehenschmerz bei ihrer ersten Geburt so überwältigt worden, dass die Entbindung sie traumatisiert habe. Ein Teil der Betroffenen würde vermeidbare medizinische Eingriffe oder Komplikationen wie einen Wehentropf oder den Kaiserschnitt fürchten. Wieder andere hätten Sorge, dass ihre Wünsche im Kreißsaal nicht ernst genommen würden, oder konkrete Ängste vor einer Behinderung oder dem Tod des Kindes.
Besonders anfällig sind Studien zufolge Frauen, die schon depressive Phasen oder Angststörungen erlebt haben. Ihnen fehlt es oft am nötigen Selbstvertrauen, um optimistisch auf unvorhergesehene Situationen zu reagieren. Außerdem spielt das Umfeld eine Rolle: Frauen, die wenig Unterstützung durch ihren Partner oder die Familie erfahren, entwickeln leichter Geburtsängste als Schwangere mit einem gesunden sozialen Netzwerk. Manche Betroffene blickt auch auf ein einschneidendes Ereignis zurück, in der Regel ihren Körper oder ihre Sexualität betreffend, zum Beispiel eine Missbrauchserfahrung oder eine Fehlgeburt.
Stephanie Wallwiener, Gynäkologin und Oberärztin für Geburtshilfe und Perinatalmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg, forscht zu psychischen Belastungen bei Schwangeren. Mit ihrem Team hat sie Daten einer Geburtenkohorte der Techniker Krankenkasse mit mehr als 38 000 Schwangeren ausgewertet. Die am häufigsten mit einer Schwangerschaft auftretende Diagnose war eine bereits bestehende psychische Erkrankung, zum Beispiel eine Angststörung oder eine Depression.
Obwohl Millionen von Frauen betroffen sein dürften, ist Tokophobie nur wenigen Menschen ein Begriff. Schwangerschafts- und geburtsbezogene Ängste werden häufig verharmlost, denn die Geburt eines Kindes gilt vielen als Wunder und sollte der glücklichste Moment im Leben sein. Dabei sind die Folgen der Angststörung einschneidend. Im Extremfall vermeiden Betroffene es gänzlich, schwanger zu werden, oder sie entscheiden sich für eine Abtreibung.
Was hilft bei Geburtsängsten?
Die Furcht vor der Entbindung ist ein Tabu. Umso schwerer fällt es den betroffenen werdenden Müttern, die richtigen Ansprechpartner für ihr Problem zu finden. Die für diesen Beitrag interviewten Experten geben Tipps, welche Maßnahmen und Spezialisten helfen können:
- Entscheidend ist, dass betroffene Schwangere medizinisch korrekte Informationen über die Geburt erhalten. Ein Geburtsvorbereitungskurs, angeleitet durch eine erfahrene Hebamme, ist daher unerlässlich – so schwer die Auseinandersetzung mit dem Thema auch scheint.
- Wer die Möglichkeit hat, sollte sich um eine Beleghebamme bemühen. Sie begleitet die Frau nicht nur während der Schwangerschaft, sondern steht ihr auch während der Entbindung in der Klinik zur Seite. So weiß sich die Schwangere bereits im Vorfeld der Geburt in guten Händen. Den Kontakt zu einer Beleghebamme können die Geburtskliniken und -stationen vermitteln.
- Eine weitere mögliche Hilfsperson ist eine Familienhebamme. Zusätzlich zur regulären Hebammenbetreuung begleitet sie Schwangere, Mütter und ihre Familien in schwierigen Lebenssituationen. Familienhebammen findet man zum Beispiel über die Internetseite www.hebammensuche.de oder über den Deutschen Hebammenverband.
- Der Verein Schatten & Licht e. V. hat sich auf Krisen rund um die Geburt spezialisiert. Auf der Internetseite finden Betroffene unter anderem Informationen über psychische Krankheitsbilder und mögliche Hilfsmaßnahmen sowie die Kontaktadressen von Beraterinnen und Selbsthilfegruppen in ihrer Nähe.
- Entspannungsverfahren helfen erwiesenermaßen dabei, Ängste zu reduzieren. Yoga-, Meditations- oder Achtsamkeitskurse werden auch extra für Schwangere angeboten. Teilweise können die Krankenkassen Informationen über Angebote in der Nähe liefern und die Kosten übernehmen.
- In Berlin und Hamburg haben sich verschiedene Einrichtungen wie Beratungsstellen, Arzt- und Psychotherapiepraxen, Kliniken, Kinderwunschzentren oder Mutter-Kind-Einheiten jeweils zu einem »Versorgungsnetzwerk Frauenpsychosomatik« zusammengeschlossen. Über eine Suchfunktion auf den Websites findet man passende Ansprechpartner – auch für Frauen, die noch nicht schwanger sind.
Weiterführende Weblinks:
Deutscher Hebammenverband:
www.hebammenverband.de
Verein Schatten & Licht e. V.:
www.schatten-und-licht.de
Versorgungsnetzwerk Frauenpsychosomatik:
www.frauenpsychosomatik.de (Berlin) oder www.frauenpsychosomatik-hamburg.de (Hamburg)
Erwarten sie dennoch ein Kind, wünschen sich Frauen mit starken Geburtsängsten häufiger einen Kaiserschnitt als andere. »Sie sind oft nicht bereit, sich auf einen normalen Geburtsverlauf einzulassen«, so Stephanie Wallwiener. Eine schwedische Studie fand eine um das 2,5-fache erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Wunschkaiserschnitt bei Frauen, die eine psychiatrische Diagnose aufwiesen. Andere Forscher untersuchten Schwangere mit sekundärer Tokophobie und fanden sogar noch größere Unterschiede: Betroffene Frauen gebaren 5,2-mal öfter per Kaiserschnitt als eine Vergleichsgruppe.
Kaiserschnitt bevorzugt
Ein operativer Eingriff erscheint Schwangeren mitunter kontrollierbarer als die vaginale Entbindung. Einige Forscher sehen in der Tokophobie den Hauptgrund für den Anstieg an Kaiserschnittraten in westlichen Ländern. Die Wunschoperation birgt in der Regel allerdings größere medizinische Risiken als eine natürliche Geburt. Hinzu kommt: Die Aussicht auf einen Kaiserschnitt mildert keineswegs die Angstsymptome, wie eine Übersichtsarbeit niederländischer, norwegischer und deutscher Forscher 2017 offenbarte. Und mit jedem Kaiserschnitt einer Frau erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit eines weiteren, erklärt Stephanie Wallwiener. Auch für die so geborenen Kinder hat das Folgen. »Wir wissen mittlerweile, dass Kinder nach einem Kaiserschnitt ohne Wehen vermehrt unter Atemwegs- und Magen-Darm-Infekten leiden«, erläutert die Gynäkologin.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, einen Kaiserschnitt nur bei medizinischer Indikation vorzunehmen. Raten zwischen 10 und 15 Prozent sind laut Angaben der Behörde sinnvoll. In Deutschland lag die Kaiserschnittrate im Jahr 2017 mit 30,5 Prozent weit über diesem Richtwert. Gebären Frauen mit Geburtsängsten ihr Kind allerdings auf natürlichem Weg, zieht die psychische Belastung offenbar den Geburtsverlauf in die Länge – das zeigte eine 2013 veröffentlichte schwedische Untersuchung mit fast 1000 Schwangeren. Demnach lagen die 365 Frauen mit sekundärer Tokophobie durchschnittlich 40 Minuten länger in den Wehen als die 634 Frauen ohne diese Diagnose. Auch andere Untersuchungen deuten darauf hin, dass große Ängste mit einer komplizierteren Geburt korrelieren. Wahrscheinlich entspannen sich die Frauen durch die psychische Belastung nicht ausreichend und behindern dadurch die Entbindung.
Statt die Betroffenen weiter zu verunsichern, müssten sie ernst genommen werden
Die psychischen Probleme können sich nach der Geburt fortsetzen: So sind Ängste in der Schwangerschaft ein Risikofaktor für eine postpartale Depression oder eine Posttraumatische Belastungsstörung. Das kann sich auch auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind auswirken. Eine 2018 veröffentlichte Übersichtsarbeit der Arbeitsgruppe um Susanne Mudra, Kinder- und Jugendpsychiaterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, weist darauf hin, dass mütterliche Ängste in der Schwangerschaft die emotionale Verbundenheit mit ihrem ungeborenen Baby beeinflussen können. Dies könnte erklären, warum psychischer Stress der Mutter vor der Geburt langfristige Folgen für das Kind haben kann: Er erhöht das Risiko für spätere Verhaltensprobleme und psychische Auffälligkeiten.
»Wir wissen jedoch noch zu wenig über die verschiedenen Formen von Ängsten und ihre Auswirkungen auf das Kind und seine Beziehung zur Mutter, um eindeutige Schlüsse ziehen zu dürfen«, sagt Susanne Mudra, die in einer Spezialambulanz Eltern bei Krisen rund um die Geburt oder bei Problemen mit jungen Kindern begleitet. Sie warnt davor, Ängste generell zu verteufeln. »Nicht jede Angst wirkt sich negativ aus und ist pathologisch. Schließlich benötigen wir ein gewisses Maß an Stress und Angst zum Leben.« Das ist auch Hebamme Viresha Bloemeke wichtig: »Eine Schwangere, die weiß, dass ihre Angst nicht gut für ihr Kind ist, empfindet nur noch mehr Stress und verstärkt so ihre Ängste weiter«, erklärt sie.
Statt die Betroffenen weiter zu verunsichern, müssten sie zunächst ernst genommen werden – darin sind sich die Experten einig. Sätze wie »Das wird schon« oder »Weinen gehört dazu« helfen nicht, im Gegenteil: »Sie machen stumm«, warnt Viresha Bloemeke. Auch Susanne Mudra fordert, die Betroffenen bereits früh in der Schwangerschaft durch einen offenen, wertschätzenden Umgang zu entlasten, »bevor sich die Ängste auf die Dyade von Eltern und Kind auswirken können«.
Für Betroffene ist es wichtig, frühzeitig Hilfe zu bekommen. Nur so lässt sich verhindern, dass Frauen aus Angst keine Familie gründen. Doch an konkreten Angeboten mangelt es bisher. Nötig wären vor allem fundierte Informationen über den Geburtsverlauf, aber auch Aufklärung über die Funktion von Angst. Gynäkologen und Psychotherapeuten, die sich auf das Fachgebiet psychosomatische Gynäkologie spezialisiert haben, können besonders kompetent auf die Bedürfnisse von Angstpatientinnen eingehen, selbst wenn diese noch nicht schwanger sind. In Berlin und Hamburg haben sich entsprechende Experten bereits zu Netzwerken zusammengeschlossen. Ansprechpartner findet man zum Beispiel über die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe.
Frauen, die ein Kind erwarten, sollten einen Geburtsvorbereitungskurs besuchen: Die wöchentlichen Sitzungen oder auch Informationsabende im Krankenhaus können die Ängste mildern; das ergaben Studien. Denn je mehr man über die bevorstehenden Ereignisse weiß, desto weniger erscheinen sie wie unbekannte und unüberwindbare Hindernisse. »Den Frauen sollte dabei realistisch erklärt werden, wie eine Geburt abläuft, nicht rosarot«, meint Viresha Bloemeke.
Wie mütterlicher Stress das kindliche Gehirn prägt
Über neun Monate entwickelt sich der Fötus im Mutterleib. Dabei durchläuft auch sein Gehirn einen erstaunlichen Reifeprozess. Mehrere Studien haben gezeigt, dass dieser durch die Emotionen der Mutter beeinflusst werden kann. Insbesondere mütterlicher Stress sowie Ängste und depressive Symptome spielen offenbar eine Rolle: Eine Übersichtsarbeit unter Leitung der belgischen Psychologin Bea Van den Bergh von der Universität in Löwen hat in verschiedenen Hirnregionen von Babys gestresster Mütter strukturelle und funktionelle Veränderungen im Vergleich zu Babys entspannterer Mütter festgestellt. Unter anderem traten diese in präfrontalen Bereichen (wichtig für Problemlösen und Persönlichkeit) sowie Hippocampus und Amygdala (Teile des limbischen Systems, das Emotionen verarbeitet) auf. Darüber hinaus legen die Daten nahe, dass die negativen Emotionen der Mutter die Zusammenarbeit verschiedener neuronaler Netzwerke der Säuglinge beeinflusst hatten. Die Effekte könnten bis ins Erwachsenenalter sichtbar sein.
Diese Veränderungen, so vermuten die Forscher, machen Kinder anfälliger für bestimmte psychische Erkrankungen oder neuronale Entwicklungsstörungen, die mit Gehirnveränderungen in Zusammenhang gebracht werden, wie Autismus-Spektrum-Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen. Allerdings weisen die Wissenschaftler auch darauf hin, dass die psychische Belastung der Mutter nur ein Faktor von vielen ist, die die Entwicklung des Gehirns steuern. Unklar ist also, welche anderen Einflüsse den Effekt verstärken, abschwächen oder aufheben können.
Van den Bergh, B. R. H. et al.: Prenatal stress and the developing brain: Risks for neurodevelopmental disorders. Development and Psychopathology 30, 2018
Weitere Erleichterung kann ein offenes Gespräch mit der betreuenden Hebamme bringen. Wie wirkungsvoll eine solche persönliche Beratung ist, zeigte 2014 eine australische Studie mit fast 340 Schwangeren, die unter starken Angstsymptomen litten. Eine Forschungsgruppe um die Gesundheitswissenschaftlerin Jocelyn Toohill von der Griffith University in Brisbane teilte die Frauen in eine Kontrollgruppe und eine Interventionsgruppe ein. Alle Teilnehmerinnen erhielten ein Heft mit Informationen zu Wahlmöglichkeiten bezüglich der Geburt. Den Frauen in der Interventionsgruppe wurden zusätzlich zwei telefonische Beratungsgespräche mit einer Hebamme angeboten. Es zeigte sich, dass die persönlichen Gespräche die Geburtsängste stärker senken konnten als die schriftlichen Informationen. Zudem stärkte die Beratung das Selbstwirksamkeitserleben der Frauen – sie fühlten sich also auch innerlich besser auf die Entbindung vorbereitet, hatten mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und brachten ihr Kind tatsächlich eher auf natürlichem Weg zu Welt als die Studienteilnehmerinnen in der Kontrollgruppe.
Womöglich leichter umsetzbar als eine intensivere Betreuung durch Hebammen wäre ein vertrauensvolles Gespräch mit dem Frauenarzt oder der Frauenärztin, die die Schwangeren ohnehin regelmäßig aufsuchen. Allerdings: Zurzeit spielen seelische Probleme in der gynäkologischen Schwangerschaftsvorsorge kaum eine Rolle. Frauenärzte müssen zu Beginn der Schwangerschaft lediglich entscheiden, ob sie im Mutterpass ankreuzen, dass ihre Patientin psychisch belastet ist. »Diese Angabe bleibt bisher jedoch ohne Konsequenz«, erklärt Stephanie Wallwiener. Gehen Ärzte mit ihren Fragen weiter in die Tiefe, wird ihnen dieser Mehraufwand nicht vergütet. Und stellen sie tatsächlich ungewöhnlich starke Ängste oder eine depressive Verstimmung bei der Schwangeren fest, gibt es wenig Hilfsangebote, an die sie ihre Patientin verweisen könnten.
Pilotprojekt in Baden-Württemberg
Das wollen Stephanie Wallwiener und ihr Team ändern. Mit Unterstützung von 17 deutschen Krankenkassen haben sie an der Universität Heidelberg »Mind:Pregnancy« entwickelt. Die Initiative soll psychisch belastete Schwangere nicht nur besser erkennen, sondern ihnen auch helfen. Das Programm besteht aus drei Stufen. Im ersten Schritt findet ein Screening beim Frauenarzt statt: Der ermittelt mit Hilfe eines Fragebogens bei den von ihm betreuten Schwangeren, wie stark sie sich von Ängsten oder depressiven Symptomen belastet fühlen. Durch die Beteiligung der Krankenkassen an dem Projekt können teilnehmende Ärzte diese Befragung abrechnen. Im zweiten Schritt werten übergeordnete Stellen in Heidelberg und Tübingen die Fragebogen aus und informieren die Ärzte über die Ergebnisse. Sind die Werte auffällig, bieten geschulte Psychologen den Schwangeren ein Erstgespräch an, das persönlich oder per Videotelefonie stattfinden kann. Dabei soll geklärt werden, welche weiterführende Hilfe die Frauen brauchen. Schwangeren mit besonders starken Geburtsängsten wird eine Psychotherapie empfohlen. »Der größte Teil der Frauen weist erwartungsgemäß aber keine psychiatrisch manifeste Diagnose auf«, erklärt Wallwiener. Diese Frauen bekommen ein onlinebasiertes Achtsamkeitstraining angeboten, mit Atem-, Yoga- und Konzentrationsübungen, aber auch Hintergrundwissen zu schwangerschaftsbezogenen Themen. »Man weiß aus vorangegangenen Studien, dass solche Übungen und Inhalte das Potenzial haben, psychische Symptome zu reduzieren«, so die Projektleiterin.
Nach einer Pilotstudie startete das Programm im Januar 2019 zunächst in Baden-Württemberg. Rund 15 000 Frauen können mit dem vorhandenen Budget innerhalb von zwei Jahren getestet und behandelt werden. Das Projektteam erwartet, dass schließlich etwa 1000 Frauen das Achtsamkeitsprogramm durchlaufen. »Es ist ein Stein ins Rollen gekommen«, freut sich Stephanie Wallwiener. Auch Hebammen hätten bereits großes Interesse an dem Projekt bekundet. »Sie wissen oft ebenso wenig wie wir Gynäkologen, wie sie einer psychisch belasteten Frau helfen können.« Noch müssen Betroffene in anderen Bundesländern auf eigene Faust Achtsamkeits-, Yoga- oder Entspannungskurse belegen. Hat das Projekt Erfolg, könnte es jedoch Teil der Standardversorgung in der Schwangerschaft werden.
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