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Tonle Sap: Kambodschas Herz droht der Infarkt

Noch ernährt seine jährliche Überschwemmung Millionen von Kambodschanern. Doch dem Tonle Sap - dem "Herz des Mekong" - droht der Infarkt. Schuld sind wirtschaftliche Interessen.
Überschwemmung am Tonle Sap
An diesem Wochenende steht Phnom Penh kopf. Drei Tage lang feiern mehr als zwei Millionen Khmer das Bon Om Touk, das Wasserfest. Sie flanieren am Zusammenfluss von Tonle Sap und Mekong, picknicken mit ihren Familien und schließen Wetten darauf ab, welches der gut 400 prachtvollen Drachenboote die Regatta auf dem Tonle Sap gewinnen wird. Jeder ist auf den Beinen, vom armen Bauern bis zu König Sihamoni, der die Bootsrennen aus seinem goldenen Pavillon am Ufer verfolgt. Gefeiert wird ein einzigartiges Naturphänomen: Jedes Jahr zum Ende der Regenzeit im November dreht der Fluss seine Fließrichtung um.

Wasserfest am Tonle Sap | Menschen und Massen drängen sich an der Uferpromenade in Phnom Penh. Das Wasserfest ist das wichtigste Fest für Kambodscha. Prachtboote für die Rennen sind mit Opfergaben für die Götter beladen.
Bon Om Touk ist das wichtigste Fest in Kambodscha. Denn der Tonle Sap und der von ihm gespeiste gleichnamige See sind die Lebensgrundlage Kambodschas. Davon künden schon einige Reliefs des Bayon-Tempels in der Tempelstadt Angkor, die vor über 1000 Jahren am nordöstlichen Ende des Sees entstanden war. Sie zeigen das Alltagsleben in der Hauptstadt des alten Khmerreichs: Fischer werfen ihre Netze aus, Frauen verkaufen den Fang auf den Märkten, Fische und Schildkröten schwimmen zwischen versunkenen Bäumen.

An den dargestellten Szenen hat sich im Alltag der gut eine Million Menschen, die an – oder in einem der mehr als 60 schwimmenden Dörfern auf – dem Tonle Sap und in jeden Fall von ihm leben, auch 800 Jahre nach Angkor nichts geändert. Noch immer ist die Fischerei das wichtigste Gewerbe und liefert ein Grundnahrungsmittel der Khmer, die ihren Proteinbedarf zu 80 Prozent durch Fisch decken.

Herz des Mekong

Schon während der Trockenzeit ist der Tonle Sap mit einer Fläche von 2500 Quadratkilometern der größte Süßwassersee Südostasiens. In der Regenzeit dehnt er sich auf gewaltige 12 000 Quadratkilometer aus. Der Grund dafür ist ein einzigartiges hydrologisches Phänomen: In der Regenzeit steigt der Wasserpegel des Mekong gewaltig an, drückt mit solch massiver Kraft in den Tonle Sap, dass dieser seine Fließrichtung umkehrt. Das Mekongwasser führt wertvolle Nährstoffe und Sedimente mit sich, die nach Ende der großen Flut äußerst fruchtbares Land und die für die Nahrung und die Vermehrung der Fische wichtigen Sumpfwälder zurücklassen. So kommt es nicht von ungefähr, dass der Tonle Sap auch oft als das "Herz des Mekong" bezeichnet wird, das nicht nur die Ökologie des Mekong am Leben erhält, sondern in seiner Funktion als Auffangbecken anderswo große Überschwemmungen verhindert.

Die Drachenboote werden zum Startplatz gefahren | Manche der Boote sind mit bis zu 70 Paddlern besetzt. Bei den Bootsrennen zum Wasserfest messen Teams aus den Fischerdörfern von den Ufern des Tonle Sap und des Mekong ihre Fähigkeiten.
Der 5000 Kilometer lange Mekong ist nach dem Amazonas der Fluss mit der größten Fischvielfalt, der Tonle Sap wiederum gilt als der artenreichste Teil des Flusssystems. Viele der Mekongfischarten wandern zwischen ihren Laichplätzen und ihren Futtergründen. Nach Angaben des WorldFish Center im malaysischen Penang, einer Nichtregierungsorganisation zur Erforschung der Kleinfischerei, findet die stärkste Fischmigration in dem Teil des Mekong statt, der zwischen Phnom Penh und der Grenze zu Laos liegt. Dabei beziehen die Fische in ihrem Wandertrieb auch den Tonle Sap, dessen Schwemmebenen und die Nebenflüsse mit ein.

Herzinfarkt droht

Gut 300 000 Tonnen Fisch werden pro Jahr im Tonle Sap gefangen. Das entspricht rund 70 Prozent der jährlichen Fischproduktion Kambodschas. Zum Fischen kommen auch die Vögel an den See, die Heimat der größten Kolonie von Wasservögeln auf dem südostasiatischen Festland. Hier leben bedrohte Storchenarten, seltene Ibisse und Kranicharten. Und es sind etwa drei Millionen Menschen, die direkt oder indirekt vom Tonle Sap abhängig sind. Grund genug also für die UNESCO, im Jahr 1997 den Tonle Sap wegen seiner außergewöhnlichen ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedeutung zum Biosphärenreservat zu erklären und drei Kernschutzzonen einzurichten.

Schwimmende Dörfer | Mehr als 60 schwimmende Dörfer gibt es noch auf dem Tonle Sap. Hier geht man nicht zum Laden, der Laden kommt im Boot zum Haus.
Jetzt ist das einzigartige Ökosystem extrem gefährdet, und die Gründe dafür sind ebenso vielfältig und komplex wie seine Biosphäre. Sie reichen von Überfischung, Fischerei durch brutale Methoden, wie dem Einsatz von Dynamit oder Giften, über die zunehmende Trockenlegung von Überflutungsflächen für den Bau von Häusern und Straßen sowie die Schaffung von Reisfeldern bis hin zum Einsatz von chemischen Düngemitteln und Pestiziden in der Landwirtschaft, die durch Regen und die jährlichen Fluten in den Tonle Sap fließen und ihn verschmutzen.

Auch der Klimawandel fordert seinen Tribut. In den letzten 50 Jahren ist im Mekongbecken, zu dem der Tonle Sap gehört, die Jahresdurchschnittstemperatur zwischen 0,5 und 1,5 Grad Celsius gestiegen, wie die 2009 veröffentlichte Studie "The Greater Mekong and Climate Change" des WWF zeigt. "Am stärksten betroffen ist die Landwirtschaft. Steigende Temperaturen tragen zu schlechteren Ernteerträgen bei. Unwetter, Überschwemmungen und Dürren vernichten ganze Ernten", heißt es in der Studie.

Dämme sind die größte Bedrohung

Die größte Bedrohung für das Ökosystem des Tonle Sap aber sind die Mekongdämme für den Betrieb von Wasserkraftwerken. Zusätzlich zu den bereits existierenden in China am Oberlauf des Mekong sollen neun weitere in Laos und zwei in Kambodscha gebaut werden. Die Dämme beeinflussen den Mekong und den Tonle Sap auf mehrfache Weise. Zunächst halten sie in ihren Reservoiren Wasser zurück, das dann flussabwärts fehlt. Sie verändern auch den Transport nährstoffreicher Sedimente oder bringen ihn schlimmstenfalls ganz zum Erliegen. In der Trockenzeit wird zum Betrieb der Kraftwerke mehr Wasser abgelassen, was zu saisonunüblichen und für die Bauern und Fischer unerwarteten Fluten führen kann, während in der Regenzeit zunächst Wasser zurückgehalten wird. Zudem blockieren die Dämme die Wanderwege der Fische.

Einfaches Leben auf dem Wasser | Man lebt in einfachen und meist armen Verhältnissen auf dem Tonle Sap. Aber die Kinder haben ihren Spaß mit dem "Swimming Pool" direkt vor der Hütte.
Kurzum, das gesamte Ökosystem des Mekongbeckens bis hin zum Delta in Vietnam wird extrem gestört, was wiederum eine Gefährdung der Ernährungssicherheit der Region bedeutet: 60 Millionen Menschen sind abhängig vom Fluss. Experten schätzen den jährlichen Wert der Mekongfischerei auf zwei Milliarden US-Dollar.

Wissenschaftliches Neuland

Das Wissen um Flora, Fauna und Ökosystem der Mekongregion ist noch begrenzt, wie auch die Welt der wanderlustigen Fische des Mekong und des Tonle Sap noch relativ wenig erforscht ist. Durch den Vietnamkrieg und seine Folgen – die Terrorherrschaft der Roten Khmer und die Bürgerkriege in Kambodscha – und die lange politische Isolation der Indochinastaaten Laos, Kambodscha und Vietnam war die Mekongregion über Jahrzehnte eine No-go-Zone für Wissenschaftler. Folglich sind Experten auch vorsichtig bei der Einschätzung, in welchem Ausmaß sich Dämme und Pestizide, Übernutzung und Klimawandel in der Tonle-Sap-Mekong-Region auswirken werden.

Segensreiche Flut | Zur Spitzenzeit der jährlichen Flut dehnt sich der Tonle Sap auf das Vierfache seiner Fläche aus. In vielen Dörfern sind die Häuser daher auf Stelzen gebaut.
Reichen die Schutzzonen im Tonle Sap aus? Sind sie wirksam? Werden sie von den Einheimischen beachtet? Auf die letzte Frage hat Eric Baran vom WorldFish Center eine klare Antwort: "Es gibt auf der Dorfebene eine positive Haltung gegenüber Schutzzonen. Das muss man betonen." Bei der Frage nach deren Wirksamkeit wird der Wissenschaftler schon vorsichtiger. "Der Schutz ist begrenzt: Wenn man mit Zäunen ein wertvolles Habitat vor Zerstörung bewahrt, kann man deshalb noch lange nicht außerhalb des Gebiets den Fischfang steigern." Wie also könnten Schutzzonen am besten funktionieren, wie sollen sie organisiert werden? "Auf diese Fragen haben wir im Augenblick keine Antworten. Da bleibt noch viel Raum für Forschung", sagt Baran.

Auch die Mekong River Commission (MRC), der die Mekong-Anrainerstaaten Thailand, Kambodscha, Laos und Vietnam, nicht aber China angehören, setzt auf Forschung. In ihrem jüngsten Bericht empfiehlt die MRC ein zehnjähriges Moratorium beim Bau von Dämmen im Hauptstrom des Mekong, um damit Zeit zu gewinnen für präzisere wissenschaftliche Studien des Ökosystems und der Faktoren, die es gefährden könnten. Die Regierungen der MRC-Staaten sind hin- und hergerissen im Konflikt zwischen dem Ziel nachhaltiger Umweltnutzung und den Forderungen wirtschaftlicher Interessenvertreter. Leider zieht in armen, aber hochkorrupten Ländern wie Kambodscha der Umweltschutz letztlich immer wieder den Kürzeren. Megainvestitionen in Großprojekte wie Dämme und Wasserkraftwerke versprechen eben auch Megaprofite. Zudem vermuten Geologen Ölvorkommen unter dem Tonle Sap. All diese Gefahren, denen Tonle Sap und Mekong ausgesetzt sind, könnten einer 1000 Jahre alten Kultur in Kambodscha in wenigen Jahrzehnten ein Ende setzen.

Wenigstens an diesem Wochenende, beim Wasserfest in Phnom Penh, wird davon einmal keine Rede sein. Auch wenn die Fischer in ihren Rennbooten wissen, dass sich ihre Umwelt langsam verändert – manchmal wollen sie auch mal die Fünfe gerade sein lassen. Manchmal muss man eben kräftig feiern.

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