Topologische Datenanalyse: Knoten und Löcher sagen Börsenkurse voraus
Hirnforschung, Sozialwissenschaften oder Gesichtserkennung: Die topologische Datenanalyse findet inzwischen in den unterschiedlichsten Bereichen Anwendung – und nun auch in der Vorhersage von Börsenkursen. Der Mathematiker Hugo Gobato Souto von der niederländischen HAN University of Applied Sciences hat hierzu eine neue Theorie entworfen, um die Schwankungen von Aktienkursen vorherzusagen. Gerade in turbulenten wirtschaftlichen Zeiten scheint seine Methode zuverlässig zu funktionieren. »Die Forschung schlägt eine Brücke zwischen dem abstrakten Gebiet der Topologie und der praktischen Welt der Finanzen«, sagt Souto.
Während gewöhnliche Datenanalyse-Verfahren meist versuchen, den Verlauf von Daten durch Kurven zu modellieren und darüber den künftigen Verlauf vorherzusagen, fokussiert sich die topologische Datenanalyse (TDA) auf allgemeinere Zusammenhänge. Anstatt jeden Datenpunkt im Detail zu betrachten, deckt die TDA wiederkehrende Muster auf, die gewöhnlichen Verfahren entgehen. Mit diesem Ansatz haben unterschiedlichste Fachgebiete, unter anderem die Neurowissenschaften, in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. »Obwohl zahlreiche Bereiche die Anwendungen von TDA seit Beginn des 21. Jahrhunderts ausgiebig erforscht haben, erschien in der Finanzliteratur die erste TDA-Forschungsarbeit erst im Jahr 2017«, schreibt Souto in seiner Veröffentlichung. Diese untersuchte mit Hilfe der TDA die finanzielle Stabilität von Unternehmen und Investitionsstrategien. Die Möglichkeiten, Börsenkurse auf diese Weise zu analysieren und vorherzusagen, wurden bislang nicht betrachtet.
Das wollte Souto ändern und hat zu diesem Zweck eine neue Theorie entworfen, die »topological tail dependence«. Ziel ist es dabei, aus vergangenen Aktienkursen abzuleiten, wie sich diese künftig entwickeln werden. Dafür kann man die gesammelten Daten anhand verschiedener Eigenschaften (Bereich, Zeit, Wert und so weiter) als Punkte in einem hochdimensionalen Raum darstellen. Die TDA versucht nicht, eine Funktion zu finden, die diese Punkte möglichst gut beschreibt. Stattdessen werden charakteristische Muster gesucht, so genannte persistente Merkmale.
»Wir haben nun ein leistungsfähiges Instrument zur Hand, um das Verhalten der Aktienmärkte in turbulenten Zeiten besser zu verstehen und vorherzusagen«Hugo Gobato Souto, Mathematiker
Dabei verbindet man zunächst alle Punkte miteinander, die sich im hochdimensionalen Raum innerhalb einer festgelegten Distanz d voneinander befinden. Dadurch ergibt sich ein Graph: lauter Punkte, die durch Kanten miteinander verbunden sind. Nun kann man die Struktur des Graphen untersuchen. Lassen sich zum Beispiel kreisförmige Gebilde erkennen? Gibt es Löcher, also Bereiche, in denen kaum Kanten auftauchen? Dann kehrt man wieder zu den Rohdaten zurück und wählt einen größeren Wert für d, so dass im neuen Graphen nun mehr Punkte miteinander verbunden sind. Wie hat sich der Graph verändert? Tauchen mehr kreisförmige Formen auf? Indem man solche Analysen durchführt, lassen sich persistente Strukturen aufdecken, die für viele Werte von d bestehen bleiben. Auf diese Weise lassen sich Vorhersagen über künftige Verläufe der Daten treffen. Souto hat die geschilderten Schritte speziell auf Börsendaten zugeschnitten und einen Algorithmus entworfen, der vorgegebene Daten analysiert und extrapoliert.
Um seine neue Theorie zu testen, hat Souto Aktienkurse von Standard & Poor's 500 (S&P 500), Dow Jones Industrial Average (DJIA) und Russell 2000 (RUT) im Zeitraum von Februar 2000 bis März 2022 genutzt. Die Daten hat er dann aufgeteilt: 80 Prozent verwendete er als Trainingsmaterial und die übrigen 20 Prozent dienten als Vergleich, um die Vorhersagekraft seines Modells zu testen – offenbar mit Erfolg: »Es war faszinierend zu beobachten, wie sich die Vorhersagegenauigkeit insbesondere während der Krise 2020 kontinuierlich verbessert hat«, sagt Souto. »Wir haben nun ein leistungsfähiges Instrument zur Hand, um das Verhalten der Aktienmärkte in turbulenten Zeiten besser zu verstehen und vorherzusagen.« Der Mathematiker hat seinen Programmcode zur Datenanalyse zur freien Verfügung gestellt, damit auch andere Fachleute ihn nutzen können. »Die Ergebnisse bestätigen die Gültigkeit der Theorie und ermutigen die wissenschaftliche Gemeinschaft, diese aufregende neue Schnittstelle zwischen Mathematik und Finanzen weiter zu erforschen.«
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